Der Beginn einer Diktatur?
Erstellt von DL-Redaktion am Mittwoch 15. März 2023
Das Ende der israelischen Demokratie?
von Eliav Lieblich, Adam Shinar
Nach seinem unerwartet hohen Wahlsieg im November 2022 bildete Benjamin Netanjahu die am weitesten rechtsstehende Regierung der israelischen Geschichte. Ihre ultranationalistischen und ultraorthodoxen Mitglieder sind sich nicht in allem einig, wohl aber über ein Ziel: Die israelische Justiz zu schwächen und die Kontrolle der Regierung über Gerichte und Beamte zu stärken.
Im Januar hat die Regierung ihre Pläne dafür vorgestellt. Obwohl sie moderat formuliert wurden, würden die geplanten Änderungen nahezu alle institutionellen Kontrollmechanismen aushebeln und große Macht in den Händen der Exekutive konzentrieren. Dies würde wiederum weitere, von der Koalition bereits beschlossene Schritte in Richtung Autoritarismus ermöglichen – sowohl in Israel als auch in den besetzten Gebieten.
Netanjahu behauptet, dass die Reformen notwendig seien, um das Machtgleichgewicht zwischen Legislative und Judikative wieder herzustellen. Viele Israelis bestreiten dies, und so gingen am 21. Januar mehr als 130 000 Menschen auf die Straßen von Tel Aviv und anderen Städten, um gegen die Pläne zu protestieren. Seitdem hat es täglich Proteste gegen die von vielen Israelis befürchtete drohende Diktatur gegeben. Eine weitere Demonstration am 28. Januar zog eine Menge von über 100 000 Menschen an. Netanjahu und seine Verbündeten kanzeln die Proteste populistisch als elitär, auslandsfinanziert und linksradikal ab. Aber Studenten, Akademiker, Hochqualifizierte und Mitglieder der Zivilgesellschaft mobilisieren gemeinsam gegen die Pläne der Regierung, die laut Ökonomen der israelischen Wirtschaft schaden und ihre Fähigkeit beeinträchtigen könnten, ausländische Investitionen für den Hochtechnologiesektor anzuziehen.
Niemals zuvor ist die israelische Politik so polarisiert gewesen. Netanjahus Partei hat das Justizsystem mehrfach attackiert, insbesondere als die Klagen gegen ihn an Fahrt aufnahmen. Netanjahu bestreitet vehement, dass die geplanten Gesetzesänderungen irgendetwas mit seinem Gerichtsverfahren zu tun hätten. Aber wenn sie in Kraft treten, kann er die Behörden des Justizministers und des Generalstaatsanwalts umstrukturieren und die Beamten ernennen, die sich mit seinen Verfahren befassen. Kontrolliert die Regierung künftig die Ernennung von Richtern, könnte Netanjahu zudem entscheiden, wer für seine Berufungsverfahren zuständig ist.
Gegenwärtig sieht es so aus, als würden die Reformen verabschiedet werden. Netanjahu verfügt über eine stabile parlamentarische Mehrheit und seine Koalition hat ihre Attacke auf das Justizwesen mit einer Flut von Gesetzesvorhaben beschleunigt. Die Opposition kritisiert, dass dabei etablierte Verfahren missachtet werden. Der Oberste Gerichtshof könnte die Reformen nach ihrer Verabschiedung noch kippen, was das Land in eine ausgemachte Verfassungskrise stürzen würde. In jedem Fall hätte Netanjahus Regierung die Spaltung im Land verstärkt und Israels Demokratie geschwächt.
Land ohne formale Verfassung
Netanjahus Gesetzesvorschläge können vergleichsweise einfach verabschiedet werden, da Israel – anders als die USA – keine starre Verfassung hat. Pläne für eine solche Verfassung waren in Arbeit, als Israel 1948 gegründet wurde, und im Jahr 1949 wurde zu diesem Zweck auch eine Verfassunggebende Versammlung gewählt. Diese konnte sich jedoch nicht einigen, und ihre Mitglieder beschlossen, das Gremium in ein Parlament umzuwandeln – die Knesset – und die verfassunggebende Macht dort zu belassen. Anstatt eine fertige Verfassung zu verabschieden, einigte sich die Knesset darauf, die Verfassung in Kapitel mit jeweils einem „Grundgesetz“ aufzuteilen, die eines Tages Teil einer formalen Verfassung werden sollten.
Zwischen 1949 und 1992 prüfte der Oberste Gerichtshof die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsentscheidungen. Er schätzte also die Legalität des Regierungshandelns ein, konnte aber nicht Gesetze auf der Basis anfechten, dass sie gegen individuelle Rechte verstießen. 1992 verabschiedete die Knesset dann aber zwei Grundgesetze, die solche individuellen Rechte betrafen: das Grundgesetz zur menschlichen Würde und Freiheit sowie das Grundgesetz zur freien Berufswahl. Diese Gesetze waren neuartig, nicht nur weil sie bestimmte Rechte wie Würde, Freiheit, Privatsphäre, Eigentum, Freizügigkeit und Berufsfreiheit schützen. Sie enthalten darüber hinaus sogenannte Beschränkungsklauseln, die klarstellen, dass die aufgezählten Rechte nur im Einklang mit den Werten des Staates beschränkt werden können, und nur, wenn die Einschränkung zweckmäßig ist. Zudem darf sie nicht das erforderliche Maß überschreiten. Auf dieser Grundlage entschied der Oberste Gerichtshof drei Jahre später, dass die Grundgesetze einfacher Gesetzgebung übergeordnet seien und er daher befugt sei, Gesetze aufzuheben, die gegen die Grundgesetze verstoßen.
Seitdem hat der Oberste Gerichtshof 22 Gesetze und Bestimmungen aufgehoben, darunter Regeln zur Inhaftierung von Asylbewerbern, zur Privatisierung von Gefängnissen und zur Enteignung von palästinensischem Land in Privateigentum für den Bau jüdischer Siedlungen im Westjordanland. Im Laufe der Zeit hat das Gericht auch die grundgesetzlich geschützte Menschenwürde so ausgelegt, dass sie die Meinungsfreiheit und das Gleichheitsrecht einschließt.
Seit 1953 werden Richter in Israel von einem Ausschuss ausgewählt, der aus drei Richtern des Obersten Gerichtshofs, zwei Ministern, zwei Mitgliedern der Knesset und zwei Mitgliedern der israelischen Anwaltskammer besteht. Richter des Obersten Gerichtshofs müssen eine Mehrheit von sieben Stimmen in dem neunköpfigen Ausschuss erhalten, was bedeutet, dass keine Gruppe alleine handeln kann. Richter können ihr Veto gegen das einlegen, was die Politiker wollen, und Politiker können ihr Veto einlegen, gegen das, was die Richter wollen. Dies hat zu einem System der Konsensbildung und Verhandlung geführt, welches meist Richter hervorbringt, die als Zentristen wahrgenommen werden.
Das Oberste Gericht im Visier der Rechten
Doch seine Urteile zur Verteidigung der Grundgesetze und seine Zusammensetzung haben den Obersten Gerichtshof zur Zielscheibe der israelischen Rechten gemacht. Sie beschuldigt das Gericht immer öfter, zu liberal zu sein und seine Befugnisse zu überschreiten. Netanjahu und seine Verbündeten argumentieren, dass die Grundgesetze das Gericht nicht explizit ermächtigen, Gesetze aufzuheben, und dass das Gericht in jedem Fall sowohl seine verfassungsrechtlichen als auch seine verwaltungsrechtlichen Kontrollbefugnisse sehr weit auslegt, während es gleichzeitig seine Rechte erweitert. Die Rechten behaupten des Weiteren, dass der Oberste Gerichtshof in Fragen der nationalen Sicherheit äußerst interventionsfreudig sei.
Members of the transgender family organisation Brit HaLeviot in the Red Line for Hate protest against the anti-lgbt coalition agreements of the upcoming 37th Government of Israel, Tel Aviv, 29 December 2022
Tatsächlich aber hat sich der Oberste Gerichtshof dem Staat gegenüber sehr zurückhaltend verhalten, insbesondere in Fragen der nationalen Sicherheit und sehr explizit bei der Überprüfung von Regierungsmaßnahmen in den besetzten Gebieten. Das Gericht hat sich stets geweigert, die grundsätzliche Rechtmäßigkeit der israelischen Siedlungen im Westjordanland zu beurteilen, die völkerrechtlich als illegal gelten. Es hat den Abriss von Häusern militanter Palästinenser genehmigt, was gegen das Kriegsvölkerrecht verstößt. Jenseits des begrenzten Schutzes palästinensischen Privateigentums hat das Gericht tatsächlich fast jede politische Maßnahme in Bezug auf die Siedlungen genehmigt, während es gleichzeitig der seit 55 Jahren andauernden Besatzung einen Anstrich internationaler Legitimität verschaffte.
Doch Netanjahus neuer Regierung reicht das nicht. Sie ist entschlossen, dem Obersten Gerichtshof die Macht zu nehmen, auch nur für den geringsten Schutz der Bürger zu sorgen. So hat sich die extrem rechte Koalition daran gemacht, vom Verfahren der Richterernennung bis hin zum Status und den Befugnissen der juristischen Berater der Regierung alles zu überarbeiten: Nach dem Plan der Regierung wird der Oberste Gerichtshof Gesetze zukünftig nur noch dann aufheben können, wenn sich alle fünfzehn Richter mit der jeweiligen Angelegenheit befassen und zwölf von ihnen zustimmen. Eine solch hohe Hürde würde bedeuten, dass nur sehr wenige Gesetze außer Kraft gesetzt werden könnten – wenn überhaupt. Und selbst wenn es dem Gericht gelänge, ein Gesetz aufzuheben, wäre der Fall damit nicht abgeschlossen. Denn das Regierungsvorhaben enthält auch eine Klausel (notwithstanding clause), die der Knesset ermöglichen würde, jede Gerichtsentscheidung zur Aufhebung eines Gesetzes mit der einfachen Mehrheit aller Mitglieder zu überstimmen. In Israels parlamentarischem System hat jede Regierung eine Mehrheit. Deshalb würde diese Klausel es erlauben, dass jedes Recht außer Kraft gesetzt werden kann: Grundrechte, politische Teilhaberechte, selbst das Stimmrecht. Damit das Gericht nicht vom Kurs der Regierung abweicht, zielt das Vorhaben auch darauf ab, den Ausschuss für die Ernennung von Richtern so umzugestalten, dass die Regierung automatisch über eine Mehrheit verfügt.
Quelle : Blätter-online >>>>> weoterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Protests against Netanyahu