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Erstellt von DL-Redaktion am Donnerstag 15. September 2022

„Nicht jeder mit Professorentitel ist eine verlässliche Quelle“

INTERVIEW von CLARA ENGELIN mit Mai Thi Nguyen-Kim

Die promovierte Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim erklärt naturwissenschaftliche Themen für Laien in kurzen Videos. Im Interview erläutert sie, was ein Unkrautargument ist und warum sie sich Wissenschaftsvermittlung als Zwiebel vorstellt.

taz: Mai Thi Nguyen-Kim, 2016 haben Sie auf Youtube Ihr erstes Video „Was passiert, wenn Astronauten rülpsen“ veröffentlicht. Seitdem ist viel passiert. Ihr Kanal „maiLab“ ist eine Marke geworden, Ihr Video „Corona geht gerade erst los“ hat über sechs Millionen Aufrufe und war 2020 das erfolgreichste deutsche Youtube-Video. Wie schaffen Sie es, wissenschaftliche Erkenntnisse einer breiten Masse schmackhaft zu machen?

Mai Thi Nguyen-Kim: Mir geht’s immer darum, den methodischen Weg zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis für alle Menschen nachvollziehbar zu machen. Nicht nur die Frage „Was weißt du?“ zu beantworten, sondern „Woher weißt du das?“ Wenn man einfach nur einen Fakt hinwirft, gibt es garantiert einen anderen Fakt aus dem Netz oder dem Fernsehen, der dem widerspricht. Aus Laiensicht steht dann Aussage gegen Aussage. Wissenschaftliche Methodik zu erklären, macht meine Beiträge zwar etwas länger, aber ich sehe das als eine Art Selbstermächtigung für Laien. So können sie sich ihre eigenen Gedanken machen und wandeln nicht völlig orientierungslos in diesem Informationschaos herum.

Haben Sie ein Beispiel?

Wissen wie: Bei einer Impfstoff-Studie brauche ich eine Kontrollgruppe – wenn es die nicht gibt, sagt die Studie nicht viel aus. Wenn ja, schon. Oder Antidepressiva: Klassischerweise wäre das Studiendesign, mit dem du einen Wirkstoff oder ein Medikament testest, eine kontrollierte Studie. Eine Gruppe bekommt es, eine nicht. Aber Antidepressiva kommen ja nur zum Einsatz, wenn Menschen eine schwere Depression haben. Aus ethischer Sicht wäre es nicht vertretbar, schwer depressive Personen für eine Studie eine längere Zeit nicht zu behandeln. Deswegen fehlen uns solche kontrollierten Langzeitstudien und damit fehlen uns auch solide Erkenntnisse. Das kann jeder Laie nachvollziehen! Solche wissenschaftlichen Abläufe sollten Allgemeinbildung werden. Dann würden die Menschen vielleicht weniger denken, Wissenschaft hätte immer die eine richtige Antwort parat. Und genauso wenig im anderen Extrem: Wissenschaft könne nie eine klare Aussage treffen. Beide Extreme stimmen natürlich nicht.

Aber wie bringt man solche Erkenntnisse unter die Leute? Man kann ja nicht erwarten, dass nun jeder anfängt, wissenschaftliche Papers zu lesen.

Eine der großen Herausforderungen in der Wissenschaftsvermittlung besteht ja im Kompromiss zwischen Korrektheit und Verständlichkeit. Oft heißt es: Um verständlich zu sein, muss ich verkürzen und im Zweifel weniger korrekt sein. Und andersrum: Je korrekter und genauer ich werde, desto weniger Leute verstehen mich. Das würde dem Bild einer Waage entsprechend, irgendwie frustrierend. Ich verstehe Wissenschaftsvermittlung lieber als eine Zwiebel.

Eine Zwiebel?

Ja, das ist viel motivierender. Die äußerste Schicht wären Videos auf Instagram oder Tiktok: eine Minute Zeit, ein Bild, sehr oberflächlich, aber breit zugänglich. Im Innersten der Zwiebel ist die originale, wissenschaftliche Veröffentlichung, the real thing sozusagen, aber nur ganz wenigen Leuten zugänglich. Jede Schicht der Zwiebel hat ihre Berechtigung und medial sollte alles vertreten sein. Da ich von Haus aus Wissenschaftlerin bin, ist es mein Ziel, Leute möglichst tief in die Zwiebel hineinzuziehen. Aber natürlich kann ich nicht erwarten, dass jemand sich gleich mühsam zum Kern durchbohrt. Die oberflächlichere Vermittlung ist absolut essenziell, um Menschen überhaupt erst mal zu erreichen und erstes Interesse zu wecken.

Im Intro Ihres Buchs „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ schreiben Sie, Ihrem Vater – wie Sie Chemiker – sei nicht ganz begreiflich gewesen, wie „über Wissenschaft Reden“ ein echter Beruf sein soll. Er war besorgt.

Mein Vater ist ein Old-School-Chemiker. Er hat das Fach studiert und arbeitete ganz klassisch als Chemiker. Meine Eltern sind in einer Zeit aufgewachsen, in der es das Internet noch nicht gab.

Sieht er das heute anders?

Absolut! Heute ist meine Mama wahrscheinlich mein größter Fan. Es ist fast schon obsessiv, sodass ich sage, ihr könnt euch ruhig auch etwas weniger mit mir auseinandersetzen (lacht). Aber es ist auch ganz süß. Ab und zu hat mein Papa jetzt Diskussionsbedarf. Politik war bei uns eigentlich nie Thema. Durch meine Arbeit sprechen wir nun auch über Wissenschaft, wo sie politisch relevant ist. Das ist ganz cool.

Sie sind zwar promovierte Chemikerin, arbeiten nun aber schon seit Jahren als Journalistin und Moderatorin. Um jetzt mal Klischees zu bedienen: Journalistinnen sind ex­trovertierte Charismatiker mit Geltungsdrang. Wissenschaftlerinnen hingegen gelten eher als zurückgezogene Nerds. Welcher Gruppe fühlen Sie sich zugehöriger?

Ach, im Herzen bin ich schon Wissenschaftlerin. Es ist ganz witzig, wenn man im Alltag andere Wissenschaftler trifft, dann gibt es so was wie eine „Instant Nerd Connection“. Ob man jetzt Bio oder Physik macht, man teilt eine Sicht auf die Welt. Von Claus Kleber wurde ich mal als „Anwältin für Fakten und Vernunft“ bezeichnet, das fand ich schön. Ich versuche, all die Leute zu vertreten, die die wichtige Arbeit in den Laboren machen, aber in den öffentlichen Diskussionen normalerweise unterrepräsentiert sind. Sodass Fakten und wissenschaftlicher Konsens Gehör finden. Deshalb fühle ich mich sehr wohl in dieser komischen Position zwischen Wissenschaft und Medien.

Sie plädieren auch für mehr Wis­sen­schafts­jour­na­lis­t:in­nen in politischen Redaktionen.

Ja, überhaupt in großen Redaktionen. Das Problem ist, in politischen Formaten werden immer wieder Fachleute aus der Wissenschaft hinzugezogen als diejenigen, die mit Autorität etwas erklären, was nicht zur Debatte gestellt wird. Die Journalisten, die sie interviewen, sind selten gut genug vorbereitet, um sie kritisch hinterfragen zu können. Als Wissenschaftsjournalistin muss ich aber wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur übersetzen, sondern auch einordnen. Nicht jeder mit einem Professorentitel ist automatisch eine verlässliche Quelle. Und natürlich gibt es auch unter Wissenschaftlern Interessenskonflikte oder andere Motive. Mir könnte man auch vorwerfen, ich will einfach nur mein Buch verkaufen. Diese Expertise zum Einordnen fehlt sehr oft in den Redaktionen, und so kommen Experten zu Wort, bei denen zu Hause vorm Fernseher alle Wissenschaftler kollektiv die Hände vorm Gesicht zusammenschlagen, wenn einfach alles stehen gelassen wird, was die sagen.

Sie sprechen manchmal von „Unkrautargumenten“. Was ist das?

Quelle        :          TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     — Chemikerin, YouTuberin und TV Moderatorin für die Reihe Terra X

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