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Erstellt von Redaktion am Samstag 16. April 2022

Joschka Fischer über den Ukrainekrieg –
„Das war eine Verkennung der Lage“

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Dank an die Politik: Geld in der Tasche – Turnschuhe im Beutel.
Was ein  ergrauter Greis –  jetzt alles weiß?

Ein Interview von Peter Unfried mit Joschka Fischer

Ex-Bundesaußenminister Joschka Fischer über Kooperationen in der Klimakrise und die Fehler der deutschen Russland- und Ukrainepolitik.

taz am wochenende: Herr Fischer, müssen die Deutschen sich im Angesicht des Krieges und der Klimakrise neu erfinden?

Joschka Fischer: Ein Stück weit. Sie sind schon dabei.

Was genau macht Sie optimistisch?

Zu sehen, was heute möglich ist unter dem Druck des Krieges. Und perspektivisch gilt das auch für die Klimakatastrophe.

Was war der fundamentale Fehler im bundesdeutschen Denken und Handeln, wo liegen wir falsch?

Was wir gerade erleben, ist das Ende einer langen Nachkriegszeit. Zu glauben, wir könnten als Konsequenz unserer missratenen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Abschreckung und militärische Sicherheit verzichten, das war ein Irrtum. So sehr ich mir das wünschen würde, das geht geopolitisch nicht, dafür sind wir zu groß und zu exponiert. Aus dem Irrtum ist auch die Illusion in der Beziehung zu Russland erwachsen, man könne dort durch Austausch langfristig eine friedliche Systemveränderung erreichen. Jeder, der die politische Elite in Russland kennt, weiß, dass die das völlig anders sehen. Und wie sie es sehen, das erleben wir gerade. Diese Illusion hat uns in Abhängigkeiten geführt, für die wir jetzt einen hohen Preis bezahlen müssen.

Wir Bundesdeutsche sind kulturell-mental überfordert mit Krieg, geprägt von dem kategorischen Imperativ des „Nie wieder“ und von dem Eindruck, das Wort „Nachkriegszeit“ habe für uns ewige Gültigkeit, politisch gab es bisher nicht mal eine Sicherheitsstrategie.

Oh doch, die gab es immer, man redete nur nicht gerne darüber: Nato, Westbindung, europäische Integration durch die EU. Ich verstehe vollkommen, dass man nach der katastrophalen ersten Hälfte des Jahrhunderts, zwei Weltkriegen, zweimal Deutschland als Aggressor, barbarischen Verbrechen, die Deutsche begangen haben, dass man da nach dem großen Turnaround nie wieder militärisch gestützte Außenpolitik und nie wieder Großmachtpolitik machen wollte. Man sagte, das hat die Schutzmacht, die USA, zu übernehmen, und wir konzentrieren uns auf friedliche Geschäfte. Das war nach 1945 völlig verständlich. Aber nach 1989 zog die Schutzmacht faktisch ab, dann brach auch schon Jugoslawien auseinander, und es kamen die Balkankriege. Jetzt ist alles eskaliert, eine nukleare Weltmacht hat unter fadenscheinigsten Vorwänden ihren Nachbarn überfallen.

Der Verzicht der Ukraine auf Atomwaffen im Budapester Memorandum 1994 stellt sich heute als schwerer Fehler dar.

Im Rückblick ja, aber damals waren wir alle dafür, auch im Westen, dass es keine vagabundierenden Nuklear­waffen gibt, das war der Albtraum schlechthin. Deswegen erschien es besser, sie dem Haupterben der Sowjetunion in die Hand zu geben, der russischen ­Föderation. Im Vertrauen, dass das auch auf der sicherheitstechnischen Ebene durch Russlands Erfahrung des Kalten Krieges funktionieren wird. Die neue Situation heute wird schlimme Konsequenzen für die Zukunft haben, denn es ist nun offensichtlich für jedermann: Nur wenn du Nuklearwaffen hast, dann bist du wirklich souverän und sicher. Hast du sie nicht, verfügst du nur über eine eingeschränkte Souveränität. Diese Erfahrung wird zu einer wesentlich unsichereren Welt führen.

Was bedeutet „Nie wieder Auschwitz“ unter den Bedingungen der Gegenwart?

Man kann hier im Grunde auf die entsprechende Konvention der Vereinten Nationen zurückgreifen, die noch unter dem Eindruck der völkermordenden Praxis der Nationalsozialisten verfasst wurde: Eine Kriegsführung, die darauf hinausläuft, das Existenzrecht von ganzen Völkern oder auch Minderheiten in Frage zu stellen, darf es nie wieder geben. Das steht in anderen Worten auch im Grundgesetz. Es ist die Aufgabe aller staatlichen Gewalt bei uns in Deutschland, dass die Menschenwürde gewahrt bleibt. Artikel 1 Grundgesetz.

Braucht die EU eigene Atomwaffen?

Die EU ist kein Staat, sondern ein Staatenverbund. Ich sehe nicht, wie das geschehen sollte ohne eine sehr viel vertieftere Integration.

Ihr Weggefährte Daniel Cohn-Bendit sagte gerade, unsere deutsche Freiheit werde mit französischen, britischen und amerikanischen Atombomben verteidigt.

Vor allen Dingen sind es amerika­nische.

Einige taz-Leser waren ja empört.

Ich wäre enttäuscht, wenn das anders wäre.

Europa muss sich so verteidigen können, dass es keiner anzugreifen wagt, auch ohne US-Schutz – das ist jetzt Grundlage jeder emanzipatorischen Zukunftspolitik?

Hören Sie, ich bin Jahrgang 1948, ich fühle mich derzeit sehr oft erinnert an meine Kindheitstage, als der Kalte Krieg oft zu eskalieren schien und man nie sicher sein konnte, dass es wieder losgeht. Nuklear wird Europa noch lange nicht ohne die US-amerikanische Schutzgarantie auskommen.

Im Vergleich zu Putin scheint aus heutiger Sicht die Sowjetunion ein Hort der Vernunft gewesen zu sein.

Der Unterschied ist, dass die Sowjetunion spätestens nach der Kuba-Krise am Erhalt des europäischen Status quo interessiert war. Putins Russland ist das Gegenteil, eine revisionistische Macht, der es in der Ukraine nicht wirklich um die Ukraine geht, sondern um eine Revision der europäischen Ordnung und der Weltordnung.

Wann genau und warum haben Sie den Glauben an die Friedensdividende verloren, also die Umwandlung von Militärausgaben in gesellschaftlichen Gewinn nach dem Ende des Kalten Krieges?

Mit dem Abgang von Boris Jelzin und der Machtübernahme durch Putin war recht früh absehbar, dass dieser eine revisionistische Politik verfolgt, die mich mehr als misstrauisch machte.

Es geht nicht gegen die Nato, es geht gegen uns, die EU und unsere liberale Demokratie, schreiben Sie in Ihrem neuen Buch.

Ja, stellen Sie sich vor, dass sich in der Ukraine mit allen Schwierigkeiten ein Land entwickelt, das wirtschaftlich erfolgreich ist, sich zunehmend an europäischen Normen orientiert, eine Erfolgsstory. Dann wäre doch sofort die Frage der Bevölkerung an Putin und die Oligarchie in Russland: Warum die und warum nicht wir?

Welchen Fehler hat Deutschland gemacht, was die Ukraine angeht?

Wir haben die Ukraine immer als den weniger ernstzunehmenden kleinen Bruder Russlands gesehen. Das war eine völlige Verkennung der Lage. Die Ukraine ist alles andere als klein. Und wie wir jetzt sehen einer der weltweit größten Agrarexporteure. Ein Ausfall als Getreideproduzent wird eine ­weitere globale Krise nach sich ziehen.

Wenn vom Westen im Sinne einer Co-Existenz mit Russland eines Tages eine amputierte und entmilitarisierte Ukraine akzeptiert werden sollte, geht das auf Kosten der Leute dort.

Ich glaube, so wird es nicht kommen. Was schwer wiederherzustellen sein wird, ist ein Minimum an Vertrauen gegenüber Russland. Der zentrale Fehler von uns allen war, zu glauben, dass wir Russland vertrauen können ohne innere Demokratisierung. Die sogenannte Machtvertikale …

…die Machtkonzentration jenseits von Institutionen und Verfassung …

… existiert seit Iwan dem Schrecklichen, und genauso existiert immer noch diese Obsession, Weltmacht sein zu müssen. Das kann nur durch eine demokratische Revolution in Russland überwunden werden. Das meint nicht ein zweites 1917, sondern institutionelle Veränderungen.

Außenministerin Baerbock hat am Tag nach dem Einfall der Russen in der Ukraine gesagt, wir seien „in einer anderen Welt aufgewacht.“ Damit hat sie ein verbreitetes Gefühl grüner Milieus bedient, aber die Aussage steht doch auch für unsere Naivität. Wir lebten doch längst in dieser anderen Welt, wir hatten nur die Augen zu, damit wir sie nicht sehen.

Wen meinen Sie mit „wir“?

Die Bundesdeutschen, die Links­liberalen.

Lassen Sie uns die Dinge benennen. An erster Stelle wollte die russische Realität von der deutschen Wirtschaft, vorneweg dem „Ostausschuss“, und der SPD nicht gesehen werden. An zweiter Stelle mit geringem Abstand von der Union. Machen Sie sich da keine Illusionen. Im Übrigen finde ich die Aussage von Annalena nicht naiv, sondern zutreffend. Hoffentlich sind wir aufgewacht.

Sie sprechen im Buch von einer „doppelten Realität“. Die alte Realität der Machtpolitik bleibt und eine neue Realität der nachhaltigen globalen Kooperation muss dazukommen, in der das Terrestrische nach dem französischen Philosophen Bruno Latour nicht mehr als Rahmen, sondern als Teil menschlichen Handelns verstanden wird.

Wir mussten seit Beginn der Zivilisation nie als Menschheit agieren, sondern immer nur als eigene Gruppe. Es begann mit Familien, dann kamen Stämme, Nationen, Imperien, aber das Prinzip war immer die eigene Gruppe. Entweder machst du, was ich will – oder ich schlag dir den Schädel ein. Das Konfrontationsprinzip. Aber das funktioniert so nicht mehr. Klimaschutz setzt Kooperation voraus.

Das sieht Putin anders.

Er lebt im späten 19. und nicht im 21. Jahrhundert. Das unterscheidet China von Russland. Die Klimakrise ist mit Gewalt nicht zu lösen. Nur mit Kooperation, also dem Gegenteil der erlernten Kultur. Das wird zu einer doppelten Realität führen, die gleichzeitig angegangen werden muss. Die traditionelle Machtpolitik, auf Konfrontation gegründet, und die neuen planetaren Herausforderungen, die Zusammenarbeit erfordern. Etwa das Corona-Virus, dem weitere folgen werden. Oder die Klimakrise. Wir können nicht mal sagen, okay, dann machen wir das halt in Europa. Das führt zu nichts. Die Klimakrise ist global wie das Virus. Der reiche Norden wird nicht auf der sicheren Seite sein, wenn der arme Süden vergessen wird. Die westlichen Industrienationen müssen fossil abrüsten, der Süden muss sich industrialisieren, um nicht in Hunger und Chaos zu versinken, aber auf neuen nachhaltigen Pfaden. Und der reiche Norden muss das bezahlen.

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Sie reden wie ein Pastor, Herr Fischer. So kenne ich Sie gar nicht.

Ich rede überhaupt nicht wie ein Pastor.

Doch, und in der Kirche nicke ich auch schön planetarisch. Aber dann gehe ich raus und muss meine eigenen ­Interessen sichern.

Aber, mein Lieber, der Unterschied ist, dass wir vor der praktischen Aufgabe stehen, das zusammenzufügen. Mein Parteifreund Robert Habeck steht vor dieser Ausgabe, Annalena Baerbock genau­so. Wir sind stark beeinflusst durch den Krieg in der Ukraine. Aber die Klimakrise beeindruckt das überhaupt nicht. Wenn sich das für Sie wieder zu pastoral anhört, tut’s mir leid.

Nein, das ist Wissenschaft.

Genauso ist es Wissenschaft, dass wir sowohl bei der Virus- als auch der Klimakrise den globalen Süden nicht vergessen dürfen, eben nicht nur aus moralischen Gründen.

Mir leuchtet Ihre Analyse völlig ein, nur was sollen die Russen denn ­verkaufen, wenn nicht mehr Öl, Gas und Kohle? Die nationalstaatlichen und die planetarischen Interessen gehen hinten und vorn nicht zu­sammen.

Die Politik wird es sich nicht so einfach machen können wie Sie und sagen: Das geht halt nicht.

Das hoffe ich sehr.

Das ist keine Frage der Hoffnung. Das ist ein Zwang. Wir entkommen den Herausforderungen der Klimakrise nicht. Es gibt keinen zweiten Planeten, auf den wir auswandern könnten.

Der Klimapakt von Paris ist das zentrale Instrument planetarischer Verantwortungsübernahme – aber die Emissionen steigen weiter, weil sich fast keiner daran hält.

Aber ohne das Abkommen von Paris wären wir sehr viel weiter zurück. Damit ist der Rahmen und das Ziel ­definiert, das ist ein gewaltiger Schritt nach vorn. Aber unter einem Gesichtspunkt haben Sie natürlich Recht, das Steuer herumzureißen, dafür reicht Paris nicht. Auch wenn alle Punkte erfüllt wären, würde die Erderwärmung erst einmal verlangsamen, aber nicht stoppen.

In Ihrem Buch, das vor dem russischen Angriffskrieg fertig war, schreiben Sie: Dekarbonisierung ist das Gebot der Stunde. Aber bei einem russischen Angriff geht es erst einmal um Versorgungssicherheit.

So ist es. Fragen Sie unseren Energieminister. Der erlebt und erleidet das 24 Stunden am Tag.

Teile seiner Milieus sagen: Jetzt buckelt er zum Emir von Katar. So nicht.

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben       —       Joschka Fischer (Vizekanzler und Außenminister a.D.) Foto: stephan-roehl.de Veranstaltung „Europa im Aufbruch? Ideen für eine progressive Politik“ in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin

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Unten        —           41. Münchner Sicherheitskonferenz 2005: Von links: Die demokratische US-Senatorin Hillary Clinton, Prof. Dr. Horst Teltschik, der Bundesaußenminister Joschka Fischer und der polnische Außenminister Prof. Dr. Adam Rotfeld.

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