Medien in Russland
Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 5. April 2022
Morden und Manipulieren für Putin
Eine Kolumne von Christian Stöcker
Wie kann es sein, dass so viele Russen zu glauben scheinen, was der Kreml über den Krieg zusammenlügt? Die Antwort verrät der Blick auf mehr als 20 finstere Jahre russischer Geschichte.
Im September 1999 begannen russische Militärflugzeuge, die tschetschenische Hauptstadt Grosny zu bombardieren. Es war der Auftakt zum zweiten Tschetschenienkrieg Russlands, in dem einige der Taktiken erprobt wurden, die Fachleute heute bei der Attacke auf die Ukraine wiederentdecken – die Zerstörung von Städten gehört dazu. Mariupol ist in den vergangenen Wochen sehr oft mit Grosny verglichen worden.
Öffentlich angeführt wurde die Militäraktion vor knapp 23 Jahren von dem noch nahezu unbekannten, erst vor Kurzem ins Amt gekommenen Premierminister Wladimir Putin. Der wurde mit seinen Auftritten mit Soldaten und demonstrativer Entschlossenheit in kurzer Zeit zum Star, zu einer neuen Führungsgestalt. Die russische Öffentlichkeit empfand ihn wohl als erfrischende Veränderung gegenüber dem häufig mit alkoholisierten Ausfällen auffallenden und zunehmend kranken Boris Jelzin.
Der offizielle Grund für die Angriffe auf Tschetschenien damals waren Bombenanschläge auf Wohngebäude in Moskau und Südrussland, die der russische Inlandsgeheimdienst tschetschenischen Terroristen anlastete.
Der gleiche Trick scheint jetzt einmal mehr zu funktionieren: Einer aktuellen Umfrage zufolge liegen Putins Zustimmungswerte gerade bei rekordverdächtigen 83 Prozent. Allerdings sind solche Umfragen in einem Land, in dem ständig gelogen und mit Angst regiert wird, mit großer Vorsicht zu genießen.
Bomben für den Präsidenten?
Am 9. und 13. September 1999 waren in Moskau jeweils in Hochhäusern mit vielen Wohnungen Sprengladungen aus dem Sprengstoff Hexogen explodiert. Am 16. September gab es ein weiteres Attentat im südrussischen Wolgodonsk. Die Anschläge töteten fast 250 Menschen und verletzten viele weitere.
Am 22. September wurde dann in der 200 Kilometer südlich von Moskau gelegenen Stadt Rjasan anscheinend ein weiterer Bombenanschlag vereitelt: Ein Anwohner bemerkte Männer, die Säcke in den Keller eines Apartmentgebäudes schleppten, und rief die Polizei. Die entdeckte die Säcke, die der Untersuchung eines Polizeiexperten zufolge ebenfalls Hexogen enthielten. Außerdem fand man einen Zünder und eine Zeitschaltvorrichtung. Eine Fahndung wurde ausgerufen.
Kurz darauf nahm die Polizei die verdächtigen Männer fest. Sie entpuppten sich als Agenten des Inlandsgeheimdienstes FSB. Der FSB ließ die Säcke abtransportieren.
Die »Sicherheitsmänner«
Zwei Tage später erklärte Geheimdienstchef Nikolaj Patruschew, die Säcke hätten nur Zucker enthalten, das Ganze sei eine FSB-Übung gewesen, um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung zu testen. Seitdem sind zahlreiche, teils sehr detaillierte, Untersuchungen über den Hergang veröffentlicht worden (was die russische Führung teils intensiv zu verhindern versuchte).
Diverse Journalistinnen, Journalisten und andere interessierte Parteien sind sich einig: Die Bomben waren eine Aktion des FSB mit dem Ziel, Wladimir Putin, Ex-KGB-Mann und Ex-Chef des FSB, auf den Präsidentensessel zu hieven. Es ging darum, sich die Macht von den Oligarchen zurückzuholen. Fast 250 Menschen, darunter viele Kinder, wären demnach als Wahlkampfmaßnahme gestorben, getötet von den eigenen Sicherheitskräften.
Nikolaj Patruschew, damals FSB-Chef, ist heute der Vorsitzende des russischen Sicherheitsrats und Teil des engsten Zirkels aus »Sicherheitsmännern«, den sogenannten Silowiki, mit denen sich Putin umgibt. Die Investigativjournalistin Catherine Belton zitiert in ihrem Buch »Putins Netz« einen ungenannten ehemaligen Kreml-Insider mit den Worten, die Bomben seien eigentlich nicht nötig gewesen, um Putin die Präsidentschaft zu sichern, das sei ohnehin eine sichere Sache gewesen. Patruschew aber habe »Putin an sich binden und ihn mit Blut beflecken« wollen.
Lauter mysteriöse Todesfälle
Sich allzu intensiv mit den Attentaten von Moskau zu beschäftigen, war von Anfang an eine extrem riskante Angelegenheit. Zu den Menschen, die dem FSB vorwarfen, für die Anschläge verantwortlich zu sein, gehörten der Ex-Agent Alexander Litwinenko (mit Polonium vergiftet), der Ex-Oligarch Boris Beresowski (im Exil nach mehreren überlebten Mordanschlägen schließlich unter mysteriösen Umständen stranguliert), der Journalist und Menschenrechtsaktivist Jurij Schtschekotschichin (offiziell an einer »allergischen Reaktion« gestorben) und der Leiter der parlamentarischen Untersuchungskommission zu dem Fall, Sergej Juschenkow (in seiner Wohnung erschossen).
Die Mischung aus Desinformation, Repression und nackter Angst, mit der Putins Leute jetzt das Narrativ über den Ukrainekrieg kontrollieren, war auch damals schon vorhanden. Der Journalist Scott Anderson, der eine lange Recherche über den Fall veröffentlichte, die in Russland gar nicht und lange auch nicht online erscheinen durfte, zitierte einen Anwohner, der mehrere nahe Verwandte bei den Anschlägen verloren hatte, mit den Worten: »Es waren Putins Leute. Jeder weiß das. Niemand will darüber reden, aber alle wissen es.«
Viele der Todesfälle unter denen, die trotzdem nachforschen wollten, kamen erst später. Viel schneller aber ging das gerade erst entstehende Putin-Regime gegen all jene vor, die eine öffentliche Debatte über das Thema, ja überhaupt eine öffentliche Debatte über das Gebaren der Mächtigen im Land, hätten ermöglichen können.
Noch vor der Wahl, die Putin zur Macht verhalf, sah die russische Medienlandschaft völlig anders aus als heute. Es gab öffentliche, teils äußerst hämische Satire und Kritik an den Regierenden, Oligarchen trugen Machtkämpfe über ihre Medienkonglomerate aus, und es existierten diverse unabhängige Medien, die ohne Angst die Regierung kritisierten. Die Parlamentswahl Ende 1999 schien tatsächlich noch eine offene Angelegenheit zu sein. Das änderte sich dann aber sehr schnell.
Am Vorabend der Präsidentschaftswahl im März 2000, die Wladimir Putin zum mächtigsten Mann Russlands machen sollte, brachte der russische TV-Sender NTW, der zum Imperium des Medienmoguls Wladimir Gussinski gehörte, eine Sendung über die Moskauer Bombenattentate und den seltsamen Vorfall mit vermeintlichen Säcken voller Zucker in Rjasan. Darin wurde offen über die Frage spekuliert, ob nicht der FSB hinter den Anschlägen stecke, berichtete Catherine Belton.
Maskierte Polizisten mit automatischen Waffen
Wenige Tage nach Putins Amtseinführung drangen bewaffnete, vermummte Polizisten mit automatischen Waffen in Büroräume des Senderbesitzers Gussinski ein. Der wurde angeklagt, staatliche Mittel veruntreut zu haben. Er setzte sich schließlich nach Israel ab, wo er bis heute lebt. Die Kontrolle über den Fernsehsender NTW übernahm der Staatskonzern Gazprom. So machten Putins Leute es fast immer: Alle Oligarchen hatten Dreck am Stecken, also konnte man fast alle einfach mithilfe der Justiz kaltstellen.
Quelle : Spiegel-online weiterlesen
********************************************************
Grafikquellen :
Oben — Ukraine Solidaritätsprotest 2022-03-05 in Mannheim, Deutschland