Köln – 30-60-370plus
Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 12. Januar 2016
379 Anzeigen, 150 wegen sexueller Gewalt
Waltraud Schwab
Das Öffentlichmachen der Übergriffe in Köln hat betroffenen Frauen Mut gemacht, Anzeige zu erstatten. Bisher haben sie oft geschwiegen.
Erst waren es 30. Dann waren es 60. Dann mehr als 370* Frauen, die in der Silvesternacht im und vor dem Kölner Bahnhof sexueller Gewalt oder Diebstahl ausgesetzt waren und dies angezeigt haben. Innerhalb kürzester Zeit vervielfacht sich die Zahl und zeigt das Ausmaß sexueller Gewalt, die dort möglich war. Ich war nicht in Köln, aber das hier hab ich mir andernorts zu anderer Zeit schon mal angehört: „Hey, darf ich deine Fotze lecken. Hey, du willst es doch.“
Am Anfang trauten sich nur wenige betroffene Frauen in Köln, eine Anzeige zu erstatten. Warum? Weil Frauen es gewohnt sind, Übergriffe wegzustecken oder sie zu vergessen, sobald sie sie überlebt haben. Weil Scham da ist, aber auch die Erfahrung, dass es in Deutschland in der Regel nicht viel bringt, sexuelle Übergriffe zu melden.
Das sukzessive Öffentlichmachen der kriminellen Handlungen rund um den Bahnhof und den Dom hat geholfen, diese Schwelle zu überwinden. Und es weist auf die Dunkelziffer hin. Denn drei Viertel der Frauen hätten vermutlich nicht ausgesagt, wäre nicht publik geworden, was das erste Viertel erlebt hat. 30-60-370+.
Wie groß die Scham und die angenommene Ignoranz der Verfolgungsbehörden sind, wenn es um sexualisierte Gewalt geht, zeigt sich auch daran, dass am Anfang nur wenige Frauen, die eine Anzeige erstatteten, von sexueller Gewalt berichteten sondern vorwiegend von Diebstahl. Sukzessive aber wurden es mehr. Wird also deutlich, dass ein sexueller Übergriff kein Einzelfall, sondern ein Muster ist, dann wird auch der Mut größer, ihn öffentlich zu machen.
Und dies, obwohl Frauen, wenn es um sexuelle Gewalt geht, bis heute die Erfahrung machen, dass, was sie zu sagen haben, auf eine Weise gehört wird, die nicht ihrer Wahrnehmung entspricht. Ihre Wahrnehmung kann jederzeit infrage gestellt werden. „Bist du sicher, dass er es so gemeint hat und er nicht nur im Gedränge an dich kam?“
Die Position der Opfer bleibt ein blinder Fleck
Bisher wird die Tatnacht in Köln vorwiegend aus der Perspektive der Täter dargestellt und beurteilt. Vermutlich waren es zu hundert Prozent Männer: Sie zündeten Böller, sie warfen Raketen in die Menge, sie schossen mit Leuchtkugeln auf Menschen, sie soffen, sie umzingelten Frauen, sie fassten sie an, sie beraubten sie, sie vergewaltigten. Mit ihnen beschäftigt man sich seitens der Justiz, der Polizei und der Medien. Was heißt das im Umkehrschluss? Die Position der Opfer – vorwiegend Frauen – bleibt, wie oft, blinder Fleck. Es gibt keine Abbildungen, keine Videos; in den ersten Statements der Polizei wusste diese von nichts.
Ist, was nicht zu zeigen ist, auch nicht passiert? Wer sich die Filme aus der Silvesternacht anschaut, sieht Männer, die Feuerwerkskörper als Waffen gegen Menschen benutzen. Die Waffen, die sie gegen Frauen nutzten, sind nicht als solche zu erkennen: Die Waffe waren die Männer selbst. Das gilt es, festzuhalten: Es gibt sichtbare Gewaltexzesse und es gibt unsichtbare. Die unsichtbaren haben etwas mit sexueller oder sexualisierter Gewalt zu tun.
Quelle: TAZ >>>>> weiterlesen
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Fotoquelle: Wikikedia – Urheber Clay Gilliland from Chandler, U.S.A. –/–CC BY-SA 2.0