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Das Leben in China

Erstellt von DL-Redaktion am Samstag 4. November 2017

Am Beispiel eines Durchschnitts-Chinesen

File:Chinese market Taipei.JPG

von Branko Milanovic

Was der Westen aus den Zahlen zur globalen Ungleichheit lernen sollte.

Was wir derzeit auf globaler Ebene erleben, ist die größte Umschichtung individueller Einkommen seit der industriellen Revolution. Aufgrund des wirtschaftlichen Aufstiegs von China, Indien und anderen großen asiatischen Ländern haben sich dort die Einkommensverhältnisse vieler Menschen – im Vergleich zu anderen Weltregionen – innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne stark verändert.

Zur Veranschaulichung nehmen wir einen Chinesen, der 1988 – bezogen auf die städtische Bevölkerung Chinas – ein Medianeinkommen zur Verfügung hatte. Das Medianeinkommen ist das Einkommen, bei dem es genauso viele Menschen mit einem höheren wie mit einem niedrigeren Einkommen gibt. Eine Person mit diesem Einkommen steht also in Bezug auf alle anderen Personen genau in der Mitte.

Dieser städtische Chinese bezog 1988 – als der Fall der Berliner Mauer kurz bevorstand und die Wirtschaftsreformen von Deng Xiaoping noch in den Kinderschuhen steckten – ein höheres Realeinkommen als 44 Prozent der Weltbevölkerung. Im Jahr 2013 ging es einer Person, die bezogen auf die urbane Bevölkerung Chinas ebenfalls über das Medianeinkommen verfügte, bereits besser als 73 Prozent aller Menschen auf der Erde. Mit anderen Worten: Der Mann oder die Frau hatte innerhalb eines Vierteljahrhunderts fast 30 Prozent der Weltbevölkerung oder 2,1 Milliarden Menschen hinter sich gelassen.

Einen solchen Sprung hat es in den letzten 200 Jahren nirgendwo auf der Welt gegeben. Das letzte Mal war dies während der industriellen Revolution der Fall, als in Westeuropa – später und weniger sprunghaft in den USA und in Japan – die Realeinkommen deutlich anstiegen und dafür sorgten, dass die Mehrheit der in diesen Industrieländern lebenden Menschen ihre Position auf der weltweiten Einkommensrangliste erheblich verbessert haben.

File:Chinese restaurant - China.jpg

Um die gegenwärtigen Veränderungen besser zu verstehen, lohnt es sich, die industrielle Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts als Bezugsrahmen heranzuziehen. Denn zum einen lässt sich der Aufstieg Chinas als verspätete Ausbreitung der industriellen Revolution auf Asien begreifen. Und zum anderen zeigt dieser Aufstieg spiegelbildlich, wie sich die erste industrielle Revolution auf das Verhältnis von Europa zu Asien ausgewirkt hat. Diese Revolution hat nämlich Europa reich gemacht, zugleich aber die Industrie in großen Teilen Asiens vernichtet – etwa die Baumwollproduktion in Indien – und zu massiven Einkommensunterschieden zwischen Europa und Asien geführt.

Die beiden damaligen Entwicklungen werden durch die technologische Revolution von heute gleichsam rückgängig gemacht: Die Industrialisierung Chinas führt zur Deindustrialisierung Europas und Nordamerikas sowie zur Verringerung der Einkommensunterschiede zwischen den Menschen im Westen und denen in Asien.

Mit Blick auf die größeren Zusammenhänge lässt sich erkennen, dass die ökonomischen Aktivitäten heute wieder in etwa so über ganz Eurasien (und Nordamerika) verteilt sind wie um die Mitte des zweiten Jahrtausends. Vor 500 Jahren lagen die Realeinkommen beispielsweise auf der italienischen Halbinsel ähnlich hoch wie in China, oder in England auf einem vergleichbaren Niveau wie in Indien, das heißt, sie betrugen in den reicheren Ländern allenfalls das Doppelte.

In solchen Kategorien der „longue durée“1 betrachtet, erscheint die industrielle Revolution des 18. und 19 Jahrhunderts als eine vorübergehende Besonderheit, die extreme Unterschiede im Lebensstandard hervorgebracht hat, und zwar zwischen den früh indus­tria­lisierten Ländern und den Regionen, die wie China, Indien und Afrika im 19. und frühen 20. Jahrhundert kein Wirtschaftswachstum erlebt haben. Sobald jedoch China, Indien und die übrigen Entwicklungsregionen in Asien einen Wachstumskurs einschlugen, begann der Westen seinen enormen Vorsprung einzubüßen.

Diese dramatischen Veränderungen wirkten sich auf die Einkommensverteilung in der Welt aus. Die obenstehende Grafik zeigt die globale Einkommensungleichheit, das heißt die Ungleichheit der Realeinkommen zwischen allen Individuen dieser Welt. Diese Ungleichheit setzt sich aus zwei Komponenten zusammen, in der Grafik repräsentiert durch Segment A (zwischen den beiden Kurven) und Segment B (unterhalb der unteren Kurve). Segment A ist der Teil der globalen Ungleichheit, der von Ungleichheiten innerhalb der Länder herrührt; Segment B dagegen der Teil, der aus den von Land zu Land ungleichen Durchschnittseinkommen resultiert.

Bildergebnis für Wikimedia Commons Bilder China - Chinesen

Beide Segmente zusammengenommen bilden die globale Einkommensungleichheit ab. Dabei sind im Segment A alle Ungleichheiten innerhalb der Länder aufsummiert: Ungleichheit in den USA plus Ungleichheit in Deutschland plus Ungleichheit in Nigeria und so fort, und zwar von allen Ländern der Erde. Segment B erfasst dagegen die Ungleichheiten zwischen den Ländern, vergleicht also das Durchschnittseinkommen, sagen wir, in Deutschland mit dem aller anderen Länder, und das natürlich für sämtliche Nationen.

Das Schaubild zeigt, wie sich die beiden Segmente zwischen 1800 und heute verändert haben. Je höher Segment B zu einem bestimmten Zeitpunkt, desto unterschiedlicher die Durchschnittseinkommen der Länder (anders ausgedrückt: der Bruttoinlandsprodukte pro Kopf) – und umso ungleicher offensichtlich die Welt. Die geschätzte globale Ungleichheit lag demnach im frühen 19. Jahrhundert, nach den Napoleonischen Kriegen, bei einem eher niedrigen Wert. Denn auf der vertikalen Achse des Gini-Index, der hier von 0 bis 100 reicht,2 liegt der erste Punkt auf der oberen Kurve bei 55. Danach begann dieser Wert, also die summierte Ungleichheit, ab 1820 rund 150 Jahre lang mehr oder weniger stetig anzusteigen.

Der Anstieg im Zuge der industriellen Revolution war jedoch von besonderer Art: Angetrieben wurde er vor allem durch die zunehmende Einkommensungleichheit zwischen den Ländern. Maßgeblich war also der Anstieg von Segment B in unserer Grafik: 1820 beruhte die globale Ungleichheit noch nicht einmal zur Hälfte (nur 17 von 55 Gini-Punkten) auf den Einkommensdifferenzen zwischen den Ländern; dann aber erzeugte der ökonomische Aufstieg des Westens eine große Kluft gegenüber dem Rest der Welt und trieb Segment B in die Höhe – und damit auch die globale Ungleichheit.

In dieser Epoche wurde die globale Ungleichheit – vereinfacht formuliert – hauptsächlich durch die Entwicklung der Realeinkommen im Westen, in China und in Indien bestimmt. Diese drei Weltregionen zusammen machten damals ungefähr 50 Prozent der Weltbevölkerung und der globalen Einkommen aus.

Die Verschiebungen der Einkommensverteilung innerhalb der Staaten, die in dieser Phase durchaus erheblich waren, spielten insgesamt eine zweitrangige Rolle. So nahm etwa die Ungleichheit in Großbritannien und in den USA im Lauf des 19. Jahrhunderts kontinuierlich zu. Ihre Höchststände erreichte sie im Vereinigten Königreich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, in den USA erst während der Großen Depression der späten 1920er Jahre. Die Zunahme der Ungleichheiten innerhalb der Länder trug zwar zur globalen Ungleichheit bei, war aber – soweit wir das angesichts einer für viele Länder lückenhaften Datenlage wissen – nicht die treibende Kraft.

Quelle     :    Le Monde diplomatique >>>>>> weiterlesen

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Grafikquellen   :

Oben  —  Typischer Markt in China   – A traditional Chinese market in Daan District, Taipei. Photo taken on 2005.05.29 by User:Jiang in Taipei City, Republic of China.

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Author No machine-readable author provided. Jiang assumed (based on copyright claims).
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In some countries this may not be legally possible; if s

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2. von Oben   —      Typisch Chinesisches Restaurante  – es wird gezeigt was im Angebot ist, auch der Blick in die Küche ist erlaubt.  –  Restaurant in China   —

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Unten   —   Chinesische Tafelrunde mit grünem Tee, reichlich Schnaps – und für gewöhnlich sehr laut

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Author Sigismund von Dobschütz

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