Nutzlosen und Nützlichen
Erstellt von Redaktion am 7. September 2023
Von Manfred Henle
Ein Essay über die Nutzlosen und Nützlichen – Seenotrettung und Menschlichkeit (Teil 1)
Beinahe gleichzeitig ereigneten sich im vergangenen Juni zwei Schiffsunglücke, die von der Öffentlichkeit als Schiffstragödien wahrgenommen wurden.
- Zwei Schiffstragödien und der Massstab der Seenotrettung
Artikel 98 Pflicht zur Hilfeleistung
(1) Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes, soweit der Kapitän ohne ernste Gefährdung des Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste dazu imstande ist,
- a) jede Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten;
- b) so schnell wie möglich Personen in Seenot zu Hilfe zu eilen, wenn er von ihrem Hilfsbedürfnis Kenntnis erhält, soweit diese Handlung vernünftigerweise von ihm erwartet werden kann. (Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, 23.6.1998)1
Beinahe gleichzeitig ereigneten sich im vergangenen Juni zwei Schiffsunglücke, die von der Öffentlichkeit als Schiffstragödien wahrgenommen wurden. Die eine Schiffstragödie spielte sich am 14. Juni etwa 80 Kilometer vor der griechischen Küste auf einem Fischereikutter namens Adriana mit 750 bis 800 Menschen an Bord ab. Die andere Schiffstragödie am 18. Juni mit 5 Mann Besatzung in einem Tauchboot von 6,70 Meter Länge im Atlantik, etwa 1500 Kilometer östlich von Boston und 600 Kilometer vor der kanadischen Insel Neufundland entfernt.
Beide Male waren die staatlichen Küstenwachen darüber informiert und alarmiert, dass offensichtlich Menschen in akute Seenot geraten waren; beide Male hatten die Küstenwachen „Kenntnis“ über das unbedingte „Hilfsbedürfnis“ in beiden Tragödien erhalten. Beide Male startete die Seenotrettung.
Quelle
(Teil 2)
- Eine vorbildliche Seenotrettung informiert die Weltöffentlichkeit
Am 18. Juni um 12 Uhr GMT startet mit 5 Mann an Bord das vom US-Unternehmen OceanGate konstruierte, 6,70 Meter lange Tauchboot Titan im Atlantik, etwa 1500 Kilometer östlich von Boston und 600 Kilometer vor der kanadischen Insel Neufundland entfernt. Zur Erinnerung: der Schiffskutter Adriana mit seinen 750 bis 800 Menschen an Bord schaffte es bis etwa 80 Kilometer vor die griechische Küste.
Der Oceangate-Gründergedanke war, sich eine profitable Geschäftssphäre im Feld der Tiefsee- und Meereserkundung für Abenteurer zu eröffnen und zwar für solche, die es sich leisten konnten, die Summe von 250.000 Dollar pro Kopf und Tauchgang zu bezahlen. Der besondere Reiz des Titan-Tauchgangs: Ein Tauchgang zur legendären, am 12.4.1912 gesunkenen Titanic in 3.800 Meter Tiefe. Um 13:45 bricht aller Kontakt zum Mutterschiff „Polar Prince“ ab, 8 Stunden später, um 21:40 GMt alarmiert die Polar Prince die US-Küstenwache.
Die US-Küstenwache eröffnet eine beispiellose, eine unvergleichliche Seenotrettungs-Aktion mit einem Such- und Rettungsradius 20.000 Quadratkilometer: Eine internationale Rettungsaktion mit einem gigantischen Aufwand an logistischem, materiellem und personellem Einsatz, die 5 Tage lang anhält.1 In jeder Hinsicht hat die US-Küstenwache den Artikel 98 „Pflicht zur Hilfeleistung“ des Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 23.6.1998 erfüllt, wo nicht übererfüllt. Mit ihrem Seenotrettungs-Einsatz hat die US-Küstenwache unter Beweis gestellt, was mit Hilfe modernster Technik in Sachen Seenotrettung heutzutage möglich ist – sofern der Wille zur vorbildlichen Seenotrettung vorhanden ist.
Die 5 Mann der Titan hingegen sind keine Illegalen, keine Irregulären wie die 800 Flüchtlinge an Bord der Adriana: vielmehr zahlungskräftige wie respektable, in allen modernen Klassengesellschaften geachtete Persönlichkeiten. Lieblingsbürger, die erwiesenermassen oder perspektivisch nützlich sind für den Erfolg der massgeblichen Weltordnungs- und Weltaufsichtsmächte, allen voran der USA. Solche in akute Seenot Geratene sind es wert, verdienen es mit allen nur möglichen Mitteln gerettet zu werden – so die ethisch-sittliche Maxime der abendländischen Wertegemeinschaft, die über alle modernsten technischen Mittel verfügt, beispiellose Seenotrettungen für alle in Seenot Geratenen durchzuführen.
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Quelle
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