Oder: Was die Mauern mit uns machen

Erneut ist in Europa und speziell in Deutschland eine Debatte um die Kontrolle von Migration durch den Ausbau befestigter Grenzen entbrannt. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner drängt auf den „physischen Schutz der Außengrenze“ per Zaun.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser will gar ein „Momentum“ erkannt haben, um mögliche Asylansprüche nur noch an den Außengrenzen einer immer stärker abgeschotteten Europäischen Union zu prüfen. Was dabei in aller Regel übersehen wird: Schleichend und unauffällig beschädigen die neuen Mauern um Europa die demokratische Gesellschaft. Sie schaffen eine Situation, in der die liberale Demokratie ihre eigenen Regeln bricht. Und sie gewöhnen die Bevölkerung an Bilder notleidender, verletzter oder toter Migranten an Europas Grenzen – Grenzen, die angeblich dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger dieses Kontinents dienen.
Einige dieser Bilder sind längst ikonisch geworden und haben sich in unserem Gedächtnis festgesetzt: Das Bild des dreijährigen Alan Kurdi, leblos am Strand an der türkischen Mittelmeerküste. Das Bild zweier Golfer, deren Partie von einem Dutzend Flüchtlinge gestört wird, die jenen haushohen Zaun überwinden wollen, der nicht nur den Golfplatz rahmt, sondern der auch die spanische Exklave Melilla von Marokko trennt. Oder vielleicht auch jenes Bild von der polnisch-belarussischen Grenze, auf dem linksseitig des frisch errichteten Grenzzauns Dutzende Flüchtlinge zu sehen sind, die in der Kälte eng beieinander im Feuerrauch hocken, während rechts vom Nato-Zaun Grenzschützer in einem schweren Humvee-Geländewagen auf dem freigeräumten Kontrollweg patrouillieren.
Solche Schlüsselbilder erzählen wortlos ihre Geschichte. Eine Geschichte über extreme globale Ungleichheit, über Not und Verzweiflung und über das Antlitz der europäischen Abschottung. Diese Geschichte wiederholt sich vor dem Hintergrund wechselnder Landschaften, in Wäldern, auf freien Grünflächen, an Stränden oder auf dem offenen Meer.
Auch als im Herbst 2021 Gruppen von Flüchtlingen aus Afghanistan, Syrien, dem Jemen, Ägypten, dem Irak und dem Iran versuchten, über die Grenze von Belarus nach Polen in den Schengen-Raum zu gelangen, schlug ihnen massive Gewalt entgegen. Polnische Grenzbeamte trieben die Flüchtlinge – darunter auch Schwangere und Kinder – zurück über die Grenze nach Belarus. Hunde wurden auf sie gehetzt, Schlagstöcke flogen. Auf Twitter warfen die Verantwortlichen mit militärischen Begriffen um sich: „Angriff“, „Verteidigung“, „Vorstoß“, „Kampf“. Das Militär rückte an, Helfer wurden inhaftiert, Medienvertreter abgewehrt. Neue Gesetze wurden erlassen, Zäune errichtet. Gelder flossen. Unterdessen starben Menschen an Unterkühlung oder an Krankheiten. 28 Tote wurden im Zeitraum zwischen August 2021 und November 2022 an der Grenze zwischen Polen und Belarus bestätigt.[1] Die Europäische Union hielt sich mit rechtsstaatlichen Bedenken zurück und stellte Millionen an Hilfsgeldern bereit, sogar die Nato versprach ihren Beistand. Europa erklärte Menschen explizit zu Waffen in einem „hybriden Krieg“. Im öffentlichen Diskurs kollidierte eine militarisierte politische Sprache des Selbstschutzes mit den Bildern von Tod, Elend und roher Gewalt gegen unbewaffnete Zivilisten. Viele Menschen in Polen und im weiteren Europa reagierten mit Entsetzen und dem Ruf nach Wahrung der Menschenwürde, des internationalen Rechts und der europäischen Werte. Doch welche Seite steht für Europa?
Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, postete auf Twitter ein Foto von sich mit uniformierten polnischen Grenzschützern vor dem fünfeinhalb Meter hohen Stahlzaun an der Grenze zwischen Belarus und Polen mit dem Kommentar: „Unsere europäischen Werte zeigen sich auch daran, wie wir an unseren Grenzen agieren.“[2] Die Mehrdeutigkeit ihrer Worte vor dem Hintergrund eines Fotos, auf dem kein einziger Flüchtling zu sehen war, schien ihr dabei nicht bewusst zu sein.
Andere Politiker ließen dagegen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Sie zeigten sich offensiv gleichgültig gegenüber dem Elend der Geflüchteten und forderten andere dazu auf, ebenfalls gleichgültig zu sein. Wir dürften der Wirkung von Bildern notleidender Menschen an den Grenzen Europas „nicht nachgeben“, sagte der damalige sozialdemokratische deutsche Außenminister Heiko Maas im „Tagesthemen“-Interview im November 2021. Wir müssten sie „aushalten“, forderte der konservative sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer im selben Monat.[3] Diese Aussagen bezogen sich auf das Leiden an der europäischen Außengrenze, richteten sich aber allein nach innen, an die Bevölkerung in Deutschland. Zudem waren die Formulierungen ungenau. Gemeint war nicht, dass wir irgendwelche Bilder leidender Menschen aushalten sollten, sondern Bilder von Menschen, zu deren Leid wir selbst durch die Abschottung Europas beigetragen haben. So wie Maas und Kretschmer rechtfertigten viele Politiker in Europa die Gewalt polnischer Grenzschützer gegen Migranten und forderten den Bau einer Mauer an der Ostgrenze Polens, die inzwischen tatsächlich fertiggestellt wurde. Die Appelle an Härte und Unnachgiebigkeit sollten Machthaber jenseits der Grenze ebenso beeindrucken wie künftige Flüchtlinge. In erster Linie wird mit ihnen aber die eigene Gesellschaft hinter den zu errichtenden Mauern adressiert. Innerhalb weniger Tage und angesichts einiger Tausend Migranten wurde die ominöse rhetorische Figur der begrenzten „Aufnahmebereitschaft“ beschworen, begleitet von dem Ruf nach weiteren Maßnahmen zur Abschottung Europas gegenüber den anderen, die keine Europäer sind. Solche beispielhaften Nahaufnahmen illustrieren, wie die gewaltsame Abwehr unerwünschter Migranten auf die Gesellschaft einwirkt, die ebenfalls auf Abwehr umschwenken soll. Dass die Gewalt an den Grenzen den Abgewehrten tausendfach Leid zufügt, berichten viele kritische Beobachter und Journalisten. Die erwähnte Episode zeigt darüber hinaus aber, dass wir auch darauf schauen müssen, was auf unserer Seite der Grenze passiert. Stellvertretend für viele andere Politiker und Kommentatoren forderten Maas und Kretschmer nichts weniger als eine Gesellschaft, für die Tod und Elend an den Grenzen kein Grund zur Aufregung sein sollen.
Die Utopie Europas – als einer unberührten Insel
Oft wird so getan, als schützten Mauern eine Gesellschaft, die unberührt bliebe von den Grenzen, die sie umgeben. Das war die Vorstellung von Thomas Morus, dem Autor des Romans „Utopia“. Die erste Amtshandlung des Gründers seines fiktiven Reichs besteht darin, zwischen Utopia und dem Rest der Welt einen tiefen Graben ausheben zu lassen, der vom Meer geflutet wird, sodass das Land zur Insel wird und für „Ausländer“ nur noch schwer zugänglich ist.[4] Aber dieses Bild ist irreführend. In Wirklichkeit verkümmert die Gesellschaft, jedenfalls die demokratische Gesellschaft, wenn sie sich radikal nach außen abgrenzt. Mauern machen etwas mit denen, die sich hinter ihnen verschanzen und ängstlich auf die Welt jenseits der Grenzen blicken. Wer hinter Mauern lebt, lebt zunehmend von ihnen bestimmt. Eine Gesellschaft verändert sich, wenn sie durch gewalttätige, willkürliche und rassistische Grenzregimes von der Außenwelt getrennt und zugleich mit ihr verbunden ist.

Die Mördertruppe der Frotex gehört nicht in freie Länder
„Wir“, die Einheimischen, bleiben nicht unberührt von der Gewalt, die in unserem Namen „anderen“ an der europäischen Außengrenze zugefügt wird. Die westlichen Gesellschaften wandeln sich und nehmen selbst Schaden durch die gewaltsame Abwehr von Migranten. Die Gewalt gegen Menschen jenseits der Grenze wirkt auch auf die Menschen diesseits der Grenze. Diesseits der Grenze müssen Menschen ausgebildet und Apparate aufgebaut werden, die zur Ausübung von Gewalt an der Grenze bereit und fähig sind. Die rasant wachsenden Budgets für diese Apparate bedürfen – ob direkt beschlossen oder als Teil größerer Haushaltsposten – der parlamentarischen Zustimmung. In der Hoffnung, ihre Effizienz zu erhöhen, werden Grenzschutzakteure einer allzu strikten, unabhängigen Kontrolle entzogen. Dafür bedarf es diesseits der Grenze einer Öffentlichkeit, die entweder nichts über die Grenzgewalt und ihre Folgen für unschuldige Zivilisten erfährt oder die wegschaut, die Gewalt akzeptiert oder sie sogar aktiv begrüßt und unterstützt. Dies wiederum erfordert es, die kollektiven Affekte zu formen und der Bevölkerung einzureden, dass sie allen Grund hat, sich vor Migranten zu fürchten. All dies hat Folgen für den Rechtsstaat, die Medienberichterstattung und politische Mobilisierungen – Folgen, die in ihrer Summe eine Gefahr für die offene Gesellschaft darstellen.
Damit soll nicht gesagt werden, dass diese Gefährdung immer intendiert ist. Die Vordenker und Planer der neuen Mauern gegen unerwünschte Migration mögen vielmehr darauf setzen, dass die Gewalt an den Grenzen verbleibt und nicht in die zu schützende Gesellschaft diffundiert. Die Vorstellung wird gestützt durch das altbekannte literarisch-philosophische Motiv der „schmutzigen Hände“, also der Vorstellung, dass man gelegentlich illegale oder unmoralische Maßnahmen ergreifen müsse, um höhere moralische Ziele wie den Schutz der freien Gesellschaft zu gewährleisten. Dieses Motiv übersieht jedoch die mögliche „moralische Korrumpierung“[5] des Kerns der Gesellschaft durch die Gewalt an ihren Rändern oder, in einer anderen Theoriesprache, die „Spillover-Effekte“, durch die Handlungen oder Ideen von einem gesellschaftlichen Bereich auf andere Bereiche übergreifen.[6]
In der politischen Theorie wird häufig argumentiert, dass stabile liberale Demokratien auf eine umfassende Migrationskontrolle und „geschlossene Grenzen“ angewiesen seien.[7] Tatsächlich aber ist das Gegenteil der Fall, die liberale Demokratie wird durch die restriktiven Grenzregimes der Gegenwart beschädigt. Letztlich ist die Demokratie, wie als Erster der französische Philosoph und Literaturnobelpreisträger Henri Bergson bereits vor dem Zweiten Weltkrieg schrieb, die einzige politische Ordnung, die darauf angelegt ist, die Bedingungen einer nach innen und außen geschlossenen, abgeschotteten Gesellschaft zu überwinden.[8] Sie verträgt sich daher nicht mit geschlossenen Grenzen.
Hinzu kommt, dass die Grenzen nicht für alle gleichermaßen geschlossen und die Mauern nicht für alle gleich hoch und undurchlässig sind. Flüchtlinge aus der Ukraine wurden in Deutschland, Polen oder Litauen seit dem Frühjahr 2022 ausdrücklich und offiziell willkommen geheißen. Selbstverständlich zu Recht. Irritierend war allerdings, dass die Aufnahmebereitschaft bei jenen Flüchtlingen aus der Ukraine an ihre Grenzen stieß, die aus Afrika oder Asien stammten, aber in der Ukraine arbeiteten oder studierten.[9] Und ebenso irritierend waren viele implizit vergleichende Kommentare aus Politik und Medien. Den Ukrainern, bemerkte eine hochrangige deutsche Amtsperson, „muss nicht erklärt werden, wie eine Waschmaschine funktioniert, oder dass auf dem Zimmerboden nicht gekocht werden darf“.[10] Anders als den Barbaren, die 2015 ins Land drängten, so der leicht zu entziffernde Subtext.
Generell lässt sich festhalten, dass die Fluchtgründe weißer Flüchtlinge aus der Ukraine wesentlich weniger hinterfragt wurden als zum Beispiel die syrischer Flüchtlinge vor und nach 2015, obwohl oft sogar die Truppen desselben Landes, nämlich Russlands, die Herkunftsstädte der Geflohenen in Schutt und Asche bombten.[11] Auf diese Unterschiede angesprochen, die die Betroffenen vom Grenzübertritt bis zu Registrierung und Aufnahme zu spüren bekommen, entgegnete der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis schlicht, die Ukrainer seien eben „die echten Flüchtlinge“.[12]
Solche Stimmen ignorieren, dass einige europäische Gesellschaften auch dann sehr wohl in der Lage sind, mit hohen Zahlen von Migranten konstruktiv umzugehen, wenn sich die Zuwanderung ungeplant vollzieht. Außerdem erinnern sie uns daran, dass wir über Rassismus sprechen müssen.
Die Grenzregimes der Gegenwart sind ohne den Begriff des Rassismus nicht zu verstehen. Aber der Rassismus an den Grenzen verharrt nicht dort, sondern speist sich aus einer entsprechenden Gesellschaft und wandert von den befestigten Grenzen gestärkt in die Gesellschaft zurück. Die Gewalt an der Grenze greift nach innen aus und korrumpiert die Gesellschaft, indem sie zum einen die Institutionen des Rechtsstaats und der Demokratie beschädigt und zum anderen eine Verrohung der zivilen Alltagsmoral fördert durch die kollektive Gewöhnung an Grausamkeit und Rechtsbrüche.[13] Die gewaltsame Migrationsabwehr ist nicht zu haben ohne eine Enthemmung der Machtausübung an den Grenzen. Das „tödliche Gift hemmungsloser Macht“ beschädigt aber nicht nur seine Opfer, sondern auch die Täter und ihre Gesellschaft, wie bereits Frederick Douglass, der große Vorkämpfer für die Abschaffung der Sklaverei in den USA, schrieb.[14]
In Europa entfalten sich die Konflikte um Migration und Grenzregimes vor dem Hintergrund des europäischen Einigungsprozesses. Dieser Prozess führt einst verfeindete Staaten zusammen, setzt aber gleichzeitig mächtige Zentrifugalkräfte frei, die den Trend zur Abschottung Europas durch Ansätze einer nationalistischen Abschottung der Mitgliedsstaaten noch überbieten. Die offene Frage lautet also, wie die werdende europäische Gesellschaft aussehen wird. Wie offen wird diese Gesellschaft sein? Wie mächtig werden die neuen Mauern um Europa herum in unseren Köpfen werden? Und welche Bedeutung werden die „Würde des Menschen“ und die Menschenrechte haben, die dem europäischen Projekt zugrunde liegen?[15]
Die neue Militanz Europas
Quelle : Blätter-online >>>>> weiterlesen
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Oben — Powstaje zapora na granicy polsko-białoruskiej. Dzisiaj już wszyscy na Zachodzie widzą, że my, chroniąc granicę polsko-białoruską, chronimy wschodnią flankę NATO – powiedział premier Mateusz Morawiecki w środę (16 lutego br.) podczas konferencji prasowej przy granicy z Białorusią. W konferencji wziął również udział wiceminister Maciej Wąsik oraz gen. dyw. SG Tomasz Praga – komendant główny Straży Granicznej.