Auszeit vom realen Horror
Erstellt von DL-Redaktion am 23. Juni 2023
Bevor das nächste Kind tot daliegt
Ein Debattenbeitrag von Shoko Bethke
Eine Studie stellt eine leicht wachsende Nachrichtenmüdigkeit fest. Doch es gibt Möglichkeiten, auf schlechte Nachrichten konstruktiv zu reagieren.
Das Bild des zweijährigen Alan Kurdi kehrt ins Gedächtnis zurück. Sein lebloser Körper am Strand, bekleidet mit einem roten T-Shirt, einer blauen Hose, an den Füßen dunkle Turnschuhe. Er liegt auf dem Bauch, seine Arme dicht am Körper, an das Gesicht klatschen wiederkehrende Wellen. Das Foto des toten syrischen Kindes am türkischen Strand war im September 2015 ein Weckruf für viele, für die der Krieg in Syrien wie ein Ereignis aus weiter Ferne wirkte. Die Bilder sorgten für Entsetzen und offene Münder – und für einen kurzen Augenblick für Empathie in der Politik und das Bedürfnis, den Geflüchteten doch noch irgendwie zu helfen.
Empörung ist kräfteraubend, aber wichtig, bevor das nächste Kind leblos am Strand liegt
Wenn Bootsunglücke wie jene in Griechenland oder vor den Kanaren zunehmen, wird es bald den nächsten Alan Kurdi geben. Am vergangenen Mittwoch sank ein Fischkutter mit vermutlich über 700 Menschen an Bord; sie wollten von Libyen nach Italien fahren. Zehn bis fünfzehn Minuten verblieb den Schutzsuchenden, ehe das Boot komplett unterging. Die griechische Küstenwache rettete 104 Menschen aus dem Wasser, 78 Tote wurden geborgen. Zwei Tage später stellte die Küstenwache die Suche nach weiteren Leichen ein.Unter den Passagieren sollen auch Menschen ohne jegliche Schwimmkenntnisse gewesen sein.
An diesem Mittwoch dann wieder: Vor der spanischen Inselgruppe kamen 39 Menschen ums Leben, die Küstenwache bestätigte den Tod eines Säuglings.
So eine Überfahrt macht niemand freiwillig. Wie gewaltig muss ihre Notlage gewesen sein, wie bedrohlich die Lage für ihre Familie, dort, wo sie zuvor gelebt hatten? Und wann begreift Europa das eigentlich?
Jeder zehnte Erwachsene meidet Nachrichten
Am vergangenen Mittwoch wurde auch der „Digital News Report 2023“ des Reuters-Institut für Journalismus-Studien in Oxford veröffentlicht. Ergebnis der Studie: In Deutschland meidet jeder zehnte internetnutzende Erwachsene Nachrichten. Die Befragung wurde im Januar dieses Jahres durchgeführt, doch da auch im Jahr 2022 jede zehnte Person aktiv Nachrichten aus dem Weg ging, dürfte sich die Zahl im halben Jahr nicht besonders verändert haben.
Insgesamt versuchen 65 Prozent der Deutschen mindestens gelegentlich Nachrichten auszuweichen. Fast ein Drittel geht gezielt bestimmten Themen aus dem Weg, am häufigsten werden Nachrichten zum Krieg in der Ukraine gemieden. Während im vergangenen Jahr noch 57 Prozent der Deutschen äußerst oder sehr an Nachrichten interessiert waren, sind es dieses Jahr nur noch 52 Prozent.
Das Bedürfnis, sich eine Auszeit von schrecklichen Meldungen nehmen zu wollen, ist nachvollziehbar. Denn zusammen mit Bildern des überfüllten Bootes kehren auch Ohnmachtsgefühle und Hilfslosigkeit zurück.
Ukraine, MeToo, Klimawandel und Rechtsruck
Dabei ist die Nachrichtenlage ohnehin schon schwer verdaulich: Der Krieg in der Ukraine ist seit fast anderthalb Jahren ein Dauerereignis, außerdem entflammt hierzulande eine neue #MeToo-Debatte. Was neue Gesetze zur Bekämpfung des Klimawandels angeht, tritt die Ampel praktisch auf der Stelle, und die AfD bekommt in neusten Umfragen mit 19 Prozent mehr Stimmen als die Partei des Bundeskanzlers. Außerdem ragt der Rechtsruck über nationale Grenzen hinaus und führte zur Einigung der EU, die Grenzen vor Geflüchteten zu „schützen“.
Unter anderem deshalb fühlen sich Politik und ihre Entscheidungen wie Beschlüsse aus der Ferne an, auf die man als Einzelperson keinen Einfluss nehmen kann. Für die Psyche kann es also gesund sein, sich eine Auszeit von Nachrichten zu nehmen, sei es, das Handy wegzulegen oder den Fernseher auszuschalten. Neurowissenschaftler:innen erklären, dass der permanente Konsum schlechter Nachrichten einen dauerhaften Stresszustand im Gehirn und Körper verursachen kann. Daraus resultierende Folgen können Gereiztheit, Schlafstörungen und in schlimmen Fällen auch Depressionen sein.
Deshalb ist es sinnvoll, sich gezielt eine Auszeit zu nehmen. Statt nach der Zeitung zu greifen, lieber einen Roman oder ein Kochbuch schnappen. Einen neuen Sport ausprobieren, vielleicht mal länger schlafen und allgemein auf die Bedürfnisse des Körpers hören.
Nachrichtenentzug darf kein Dauerzustand sein
Doch so wichtig Rückzug und Ablenkung auch sind, muss man sich bewusst machen, dass dies kein Dauerzustand sein kann. Die Weltlage vollständig auszublenden bringt die Toten nicht zurück, im Gegenteil. Denn wenn überhaupt jemand an der Lage etwas verändern kann, dann ein medialer und gesellschaftlicher Aufschrei – siehe die Debatte um Till Lindemann.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlsen
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Grafikquellen :
Oben — Graffiti-Kopie des Fotos der angeschwemmten Leiche von Alan Kurdi. Ein Werk der Künstler Justus „Cor“ Becker und Oguz Sen an der Osthafenmole in Frankfurt am Main, Titel „Europa tot – Der Tod und das Geld“
Abgelegt unter Debatte, Europa, Positionen, Sozialpolitik | Keine Kommentare »