KALTE KRIEGER IM SILICON VALLEY

Von Evgeny Morozov
Der Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China spitzt sich zu. In Washington beschwören manche bereits einen „Cold War 2.0“. Denn große Bedeutung kommt dem Wettlauf um die künstliche Intelligenz zu. Das Pentagon knüpft immer engere Bande zu den Tech-Giganten – die aus dem Hype um KI Kapital zu schlagen wissen.
Der Kalte Krieg ist vorbei“, verkündete 1988 die Werbebroschüre für ein merkwürdiges neues Computerspiel von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs: „… fast“. Dazu eine Zeichnung des Kreml mit ein paar geometrischen Figuren im Vordergrund. Die Broschüre wirbt für die „Sowjetische Herausforderung“ und verkündet: „Ausgerechnet jetzt, wo die Spannungen zwischen Ost und West allmählich nachlassen, landen die Sowjets einen Volltreffer gegen die USA.“
Der Volltreffer heißt „Tetris“.
In goldenen, kyrillischen Lettern prangt der Name des Kultspiels auf leuchtend rotem Grund: Тетрис – wobei das Wort statt mit einem „s“ mit Hammer und Sichel endet. Die Idee für das Werbeheftchen, das heute im National Museum of American History in Washington ausgestellt ist, kam von Spectrum HoloByte, dem US-Vertrieb des Spiels. Spectrum HoloByte bot das gesamte Motivrepertoire des Kalten Kriegs auf, um Tetris in Ronalds Reagans Amerika zum Erfolg zu machen – von russischer Volksmusik bis zu Bildern sowjetischer Kosmonauten. Schon damals wussten einige im Silicon Valley, wie man mit dem Kalten Krieg Kasse macht.1
Wir spulen vor ins Jahr 2023. Gilman Louie, der damals CEO von Spectrum HoloByte war, ist heute eine Schlüsselfigur im „Cold War 2.0“. So nennen manche in Washington den fortschreitenden Wirtschaftskrieg zwischen China und den USA. Eine entscheidende Arena in diesem Kampf sind die Spitzentechnologien, und dabei geht es heute nicht mehr um Tetris, sondern um künstliche Intelligenz.
Louie, der eine amerikanische Bilderbuchkarriere hinlegte, wurde in den frühen 1980er Jahren als Entwickler von Flugsimulationsspielen bekannt.
Vom Spieleentwickler zum Sicherheitsberater
Die Spiele waren so erfolgreich, dass die US-Luftwaffe zu Louie Kontakt aufnahm. Ende der 1990er Jahre war Louie dann Chef des CIA-eigenen Investmentfonds In-Q-Tel, der auf Investitionen im Hightech-Sektor spezialisiert ist. Aus dem berühmtesten Investment, das In-Q-Tel einging, entstand die Technologie, die später Google Earth ermöglichte.
Als die Trump-Regierung davor warnte, dass die Vereinigten Staaten im Technologiewettlauf unterliegen könnten, tauchte Louie erneut an zentraler Stelle auf. Er wurde Mitglied der National Security Commission on Artificial Intelligence, eines hochkarätig besetzten Beratergremiums unter dem Vorsitz des ehemaligen Google-Chefs Eric Schmidt.
Innerhalb weniger Jahre entstand aus der Zusammenarbeit mit Schmidt eine enge Partnerschaft – so eng, dass Louie inzwischen CEO des 2022 gegründeten America’s Frontier Fund (AFF) ist, hinter dem ebenfalls Eric Schmidt steht. Der AFF ist ebenso wie In-Q-Tel eine Nonprofitorganisation und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Washington dabei zu helfen, „den globalen Technologiewettbewerb des 21. Jahrhunderts für sich zu entscheiden“.
Der Fonds inszeniert sich selbst als eine Art Wunderwaffe und verspricht, „die produzierende Industrie neu zu beleben, Arbeitsplätze zu schaffen, die heimische Wirtschaft anzukurbeln und das amerikanische Heartland [den Mittleren Westen] aus seiner Erstarrung zu befreien“. Auf der eindrucksvollen Liste der Vorstandsmitglieder stehen unter anderem ein ehemaliger CEO von IBM und einer von Trumps Nationalen Sicherheitsberatern.
Die Gründung des AFF ist eine Reaktion auf Chinas wachsenden Einfluss im sogenannten „Deep Tech“-Bereich, also bei künstlicher Intelligenz und Quantencomputing. „Spitzentechnologien entstehen nicht in der Garage“, verkündet der AFF auf seiner Website und verabschiedet sich damit vom Mythos des tüftelnden Unternehmergenies, der im Silicon Valley weit verbreitet ist.
Ironie der Geschichte: Ausgerechnet Gilman Louie, der den Kalten Krieg 1.0 für die Vermarktung von Tetris nutzte, nutzt heute den Kalten Krieg 2.0, um den KI-Hype zu befeuern. Oder vielleicht auch umgekehrt, im heutigen Washington lässt sich das nicht mehr
so genau auseinanderhalten. Fest steht nur eines: Der Hype wird konsequent zu Geld gemacht.
Der alte Tetris-Slogan lässt sich im KI-Zeitalter natürlich nicht mehr verwenden. Heute ist die Botschaft: „Der Neue Kalte Krieg ist da. Fast …“. Das kommt bei vielen in den USA gut an – bei den Tech-Konzernen ebenso wie bei Rüstungsunternehmen und bei den Thinktanks, die außenpolitisch für einen harten Kurs werben.
Jenseits aller Rhetorik sind gewisse ideologische Verschiebungen unverkennbar. Die neuerdings um sich greifende Angst, ihr Land könnte den KI-Wettlauf gegen China verlieren, hat Amerikas politische Eliten ganz offensichtlich aus ihrem Schlummer im Wunderland der freien Märkte aufgeschreckt. Diese Eliten reden inzwischen so, als fühlten sie sich nicht mehr den Dogmen des Washington Consensus (Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung) verpflichtet. Bei manchen hört es sich gar so an, als hätten sie die Seiten gewechselt und folgten jetzt dem „Beijing Consensus“.
In Foreign Affairs, dem Lieblingsorgan des außenpolitischen Establishments der USA, erschien kürzlich ein Essay2 , in dem für einen starken Staat argumentiert wird, der die KI nach Kräften pushen soll. Die Autoren, Eric Schmidt und Yll Bajraktari, rechnen auch mit den politischen Irrtümern der Vergangenheit ab: Sie tadeln Washingtons frühere Faszination für die Globalisierung, weil die USA sich dadurch von „strategischen Überlegungen“ habe ablenken lassen, und sie monieren die Orientierung der Risikokapitalbranche an kurzfristigen Gewinnen.
Stattdessen wird in dem Artikel leidenschaftlich für „Beihilfen, staatlich abgesicherte Kredite und Abnahmeverpflichtungen“ geworben. Sie seien die richtigen Instrumente, um Washingtons langfristige Tech-Ziele zu erreichen. Ausgezahlt werden sollen diese Beihilfen natürlich durch Organisationen wie den AFF, denn die wüssten im Unterschied zu herkömmlichen Risikokapitalfonds, wie man das Geld so investiert, dass es langfristigen Interessen zugutekommt.
Stellenweise erwartet man, der Artikel werde im nächsten Absatz eine stramm organisierte Industriepolitik fordern. Dazu können sich Schmidt und Bajraktari aber doch nicht durchringen, denn „Industriepolitik“ sei und bleibe, so heißt es im Text, ein „belasteter Begriff“. Die überarbeitete Version des Washington Consensus zeichnet sich offensichtlich vor allem dadurch aus, dass man mehr staatliche Zuwendungen an die Privatwirtschaft fordert und dabei die Angst ausnutzt, die USA könnten den nächsten Kalten Krieg verlieren.
Die Argumente sind meist so gestrickt, dass sie sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft Anklang finden. Ökonomische und geopolitische Überlegungen müssen ineinandergreifen. Die intensive Förderung von KI wird als Möglichkeit verkauft, den USA zu neuer Größe zu verhelfen, nach außen wie nach innen. Letzteres soll durch die massive Unterstützung neuer KI-basierter Branchen geschehen.
Manche glauben, mit diesem neuen Konsens halte der „Post-Neoliberalismus“ Einzug, aber in Wahrheit gleicht er aufs Haar dem „militärischen Keynesianismus“ aus der Zeit des Kalten Kriegs, als man höhere Militärausgaben für das Mittel der Wahl hielt, um die Sowjetunion zu besiegen und Amerikas wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern.
Drei Jahrzehnte neoliberaler Staatskunst lassen sich allerdings nicht so leicht ausradieren. Offensichtlich kann man nicht einfach zurück in die Tage des Kalten Kriegs, als öffentliche Gelder beinahe unbegrenzt einer Handvoll Rüstungsunternehmen zuflossen. Heute sind schlanke Prozesse und Unternehmergeist gefragt, und für Generäle des US-Militärs ist es nicht gerade eine Traumvorstellung, sich als Silicon-Valley-Start-up neu zu erfinden. Das Pentagon scheut sich sogar, einen eigenen Risikokapitalfonds nach dem Vorbild von In-Q-Tel aufzulegen und die vom US-Kongress dafür bereitgestellten Gelder anzunehmen.3 Vielleicht ist das der Grund, warum der AFF als private Firma gegründet werden musste.
Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Bande zwischen dem Pentagon und dem Silicon Valley enger werden. Vor kurzem schuf das US-Verteidigungsministerium sogar den neuen Posten des Chief Digital & AI Officers – und besetzte ihn mit Craig Martell, der früher beim Fahrdienst-Vermittler Lyft für das maschinelle Lernen verantwortlich war. Die US-Tech-Unternehmen arbeiten sich immer weiter in die Budgets des militärischen Beschaffungswesens vor – daran ändern auch die moralischen Bedenken ihrer Beschäftigten nichts.
Der Google-Mutterkonzern Alphabet legte zwar nach Protesten seiner Ingenieure die Pläne zur Mitarbeit an dem umstrittenen Pentagon-Projekt „Maven“ ad acta, bei dem es um automatische Bilderkennung geht, gründete aber gleich darauf eine Tochtergesellschaft mit dem harmlos klingenden Namen Google Public Sector, die Cloud-Dienstleistungen für militärische Zwecke anbietet.
Alphabet ist kein Einzelfall. Das Know-how des Silicon Valleys bei Cloud Computing und maschinellem Lernen ist und bleibt unverzichtbar für die Pläne des Pentagon. Das gilt insbesondere für die Vision, ein System aufzubauen, das die Daten von Boden- und Luftsensoren aus allen Bereichen der Streitkräfte zusammenführt. Mit Hilfe von KI sollen diese Daten so verarbeitet werden, dass das Militär wirkungsvoller und besser koordiniert reagieren kann. Zu diesem Zweck erteilte das Pentagon Ende 2022 den vier Tech-Giganten Microsoft, Google, Oracle und Amazon den Auftrag, für 9 Milliarden US-Dollar die Cloud-Infrastruktur für dieses kühne Vorhaben zu entwickeln.
Anders als in den Zeiten des Kalten Kriegs ist jedoch keineswegs ausgemacht, wie viel von diesem Geld nach der keynesianischen Trickle-down-Theorie bei der Normalbevölkerung ankommt. Im KI-Bereich fließt das Geld für Arbeitskosten in die Taschen der Staringenieure – und da geht es um ein paar hundert, nicht um Millionen –, oder es landet bei den vielen schlecht bezahlten Vertragsfirmen, die dabei helfen, die KI-Modelle zu trainieren. Die meisten dieser Firmen sitzen nicht einmal in den USA: OpenAI engagiert Dienstleister in Kenia, die dafür sorgen, dass sein beliebter Chatbot ChatGPT keine anstößigen Bilder und Texte auswirft.

Beim Cloud Computing ist zudem nicht klar, welcher Nutzen von seinem Ausbau zu erwarten ist. Datenzentren zu bauen, ist teuer – und ein positiver Effekt für die Wirtschaft ist nicht erwiesen. Klar ist nur, dass dadurch tendenziell die Grundstückspreise steigen. Problematisch sind auch die ökologischen Kosten von KI und Cloud Computing. Der Glaube an den Multiplikationseffekt des vielen Geldes, das in die militärischen KI-Anwendungen gepumpt werden soll, könnte sich als Illusion erweisen.
Es kann also sein, dass der Kalte Krieg 2.0 nicht die Rückkehr zum „militärischen Keynesianismus“ bedeutet. Sofern die KI nicht die ersehnte „technologische Singularität“ hervorbringt – also die KI selbst technologische Innovationen erzeugt –, wird Keynes nicht auf einen Schlag wieder lebendig, nur weil man noch mehr Geld in der Tech-Branche pumpt. Vielleicht erleben wir eher einen bizarren neuen „militärischen Neoliberalismus“, der durch noch mehr Staatsausgaben für KI und cloudbasierte Dienste die Ungleichheit weiter verschärft und die Aktionäre der Tech-Giganten noch reicher macht.
Kein Wunder, dass manche dieser Aktionäre auf einen Neustart des Kalten Kriegs erpicht sind. Tatsächlich hat niemand so viel dafür getan, dieses neue Narrativ und den dazugehörigen ideologischen Konsens zu festigen, wie der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt.4 Schmidt, dessen Vermögen rund 20 Milliarden US-Dollar beträgt, ist in Washington eine Institution, seit er 2008 für Barack Obama Wahlkampf gemacht hat.
Von 2016 bis 2020 hatte er den Vorsitz im Defense Innovation Advisory Board des Pentagon, für das er hunderte von US-Militärstützpunkten in aller Welt besuchte. Anschließend wechselte er an die Spitze der National Security Commission on Artificial Intelligence, die in ihrem Abschlussbericht 2021 davor warnte, die USA seien im KI-Bereich nicht ausreichend vorbereitet, um mit China konkurrieren zu können. Neuerdings ist Schmidt Mitglied einer Regierungskommission, die sich mit Sicherheitsfragen im Bereich Biotechnologie beschäftigt.
Quelle : LE MONDE diplomatique >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — An Aerial view of Meta’s Main Headquarters with the famed sign in view. Taken on a DJI Mavic 3 Classic; screenshotted from a video.