Die Sirenen von Mitrovica
Erstellt von DL-Redaktion am 11. Februar 2023
Vor 15 Jahren erklärte sich das Kosovo für unabhängig.
Die Brücke über den Ibar in Mitrovica verbindet den albanischen mit dem serbischen Teil der Stadt (Blick nach Norden).
Von Jean-Philipp Baeck
Doch der Konflikt mit Serbien blockiert den Fortschritt. Besuch in einer geteilten Stadt. „Die Löhne sind zu niedrig, Jobs werden noch zu oft über Beziehungen vergeben. Viele werden von Verwandten im Ausland unterstützt“
Wenn Hyrije Neziri von ihrem Alltag erzählt, fallen ihr sofort die Alarmsirenen ein. Noch vor ein paar Wochen heulten sie in ihrer Heimatstadt Mitrovica im Norden des Kosovo immer wieder auf. Sie spielt Handyaufnahmen davon ab. Das erste Video stammt aus dem Sommer, das letzte vom Dezember. Verwackelt zeigen sie einen verängstigen Straßenhund, Fußgänger, die verschüchtert stehenbleiben, den Fluss. Im Hintergrund ist ein ansteigender Ton zu hören, durchdringend, wie bei einem Luftalarm im Krieg.
Doch im Kosovo herrscht kein Krieg mehr. Die Sirenen waren Protestzeichen der serbischsprachigen Bevölkerung, die im nördlichen Teil der Stadt lebt. Bei Neziri wecken sie Erinnerungen. „Die Geräusche lösen eine Traurigkeit in mir aus, die ich nicht in Worte fassen kann“, sagt sie.
Neziri sitzt auf einer Bank auf der Brücke über den Fluss Ibar im Zentrum Mitrovicas. Die 37-Jährige gehört zur albanischsprachigen Mehrheit des Kosovo. Sie ist in Mitrovica geboren und arbeitet bei einer Nichtregierungsorganisation, die sich gegen häusliche und misogyne Gewalt engagiert. Während des Kosovokriegs 1999 floh sie nach Albanien, danach kam sie zurück. Wie Neziri können viele, die die Kriegszeit erlebt haben, die Angst nicht ablegen, dass sich die Gewalt im Kosovo wiederholen könnte.
Von der Brücke aus fällt ihr Blick auf die Hochhäuser im Norden, auf die Schornsteine der Giebeldächer, durch die in diesen Wintertagen der Rauch aus den Holzöfen aufsteigt und sich zu einer unsichtbaren Kuppel formt, die auf der gesamten Region liegt wie ein beißender Schleier.
Die Fahrbahn auf der Brücke wirkt wie ausgestorben. Nur eine ältere Frau schleppt ein paar Einkaufstüten über den Fluss. Für Autos ist die Überfahrt seit über zwei Jahrzehnten blockiert, lange Zeit durch Barrikaden und meterhohe Steinhaufen, mittlerweile durch Betonpoller. Anstatt zu verbinden, teilt die Brücke die Stadt in einen serbisch geprägten Norden und einen albanisch geprägten Süden. Im Süden ragen Minarette der Moscheen zwischen den Wohnhäusern empor, im Norden orthodoxe Kirchen. Hüben duftet es aus Grillstuben nach Qebapa aus Rindfleisch, die für ein paar Euro zu haben sind, drüben locken Cevapcici vom Schwein – die man mit serbischen Dinar bezahlt. Aber alle atmen die gleiche verqualmte Luft.
Immer wieder kam es in den letzten Jahren im Norden Kosovos zu Konflikten, zu Protestaktionen und Straßenblockaden. Manchmal fielen Schüsse. Zuletzt hatten serbisch-nationalistische Aufständische Anfang Januar mit verkeilten Lkws eine Landstraße in Richtung serbischer Grenze dicht gemacht. Auch an der Brücke im Stadtzentrum kommt es immer wieder zu Demonstrationen. Sie wird seit Jahrzehnten von italienischen Carabinieri bewacht, die als Teil der Nato-Friedensmission KFOR im Kosovo stationiert sind. Auch an diesem Tag stehen zwei blau-weiße Landrover-Geländewagen mitten auf der leeren Fahrbahn. „Alles entspannt“, sagt einer der Carabinieri. Er spielt kurz mit einem der Straßenhunde, die sich zu ihnen gesellt haben. „Ein Freund“, sagt er über den braunen Mischling, steigt wieder in den Geländewagen und wartet.
15 Jahre nach der Erklärung der Unabhängigkeit bleibt Kosovo ein geteiltes Land unter dem Schutz der Nato-Truppen. Die Nachwirkungen des Krieges sind noch nicht überwunden. Während in der Hauptstadt Prishtina schicke Cafés, Bars und Nachtclubs für Ablenkung sorgen, bremsen nationalistische Ideen auf allen Seiten weiterhin ein Fortkommen, das sich vor allem die jungen Menschen hier so wünschen.
Für Neziri ist die Begegnung mit den ausländischen Journalisten eine willkommene Abwechslung. Deutsche seien beliebt im Kosovo, „aber vor allem die Amerikaner“, sagt sie und lacht. Bei einem Rundgang durch ihre Stadt zeigt sie die neue Einkaufsmall, nur ein paar Schritte von der Brücke entfernt. Die Leuchtreklame wirbt für Kleidungsgeschäfte, Bowlingbahn und eine Rossmann-Filiale. Schon zwei Straßen weiter werden die Häuser einfacher und verbergen sich hinter hohen, unverputzten Mauern.
Vor einem mehrstöckigen Gebäude hantieren zwei Männer mit einer Pumpe. Aus einem Schlauch aus dem Erdgeschoss sprudelt Wasser auf die lehmige Straße. Tags zuvor war der Fluss nach heftigen Regenfällen über die Ufer getreten, überall kämpfen die Leute gegen die Schäden, schaufeln feuchten Schlamm aus den Kellern. In einer Parkgarage watet ein Mann noch knietief durchs Wasser. In den Tagen nach der Überschwemmung helfen sich hier alle gegenseitig und packen mit an: Serben, Roma, Albaner.
Doch was im Kleinen funktioniert, steht auf großer Bühne auf dem Spiel. Wenn die Idee einer multiethnischen Republik im Kosovo unter internationaler Begleitung nicht gelänge, wäre das ein schlechtes Signal für die Balkanregion, für Nordmazedonien und insbesondere Bosnien, wo es gleichfalls komplizierte ethnische Konstellationen gibt.
Auf dem Papier schützt die Verfassung des Kosovo die Rechte aller Minderheiten, die Sprachen, die Kultur. Auch im Parlament haben die ethnischen Minderheiten Plätze für VertreterInnen. Serbisch ist neben Albanisch zweite Amtssprache.
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15 Jahre Kosovo
Der Staat Am 17. Februar 2008 erklärte die Republik Kosovo ihre Unabhängigkeit – neun Jahre nach dem Ende des Kosovokriegs, bei dem die UÇK, die Befreiungsarmee des Kosovo, für den albanischen Teil der Bevölkerung gegen serbische Streitkräfte kämpfte, die von dem Präsidenten und Kriegsverbrecher Slobodan Milošević angeführt wurden.
Der Krieg Am 24. März 1999 war die Nato unter Führung der USA ohne UN-Mandat in den Krieg eingetreten, bombardierte Ziele in Serbien und unterstützte die UÇK mit der Begründung, weitere Menschenrechtsverletzungen verhindern zu wollen. Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligte sich die Bundeswehr an einem Kampfeinsatz im Ausland.
Die Gegenwart Heute sichern Nato-Soldaten den Frieden im Kosovo, aktuell noch 3.800, darunter 70 Soldaten der Bundeswehr.
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In der Praxis aber verstärkt sich das Nebeneinander: Gegen Roma etwa gehört Diskriminierung weiterhin zum Alltag. Die Mehrheit der Kosovo-Albaner dominiert die Institutionen, die serbische Bevölkerungsminderheit isoliert sich in ihren Enklaven. Nicht nur im Nordkosovo wachsen Kinder und Jugendliche auf, die sowohl zu Hause wie in den Schulen nur noch Serbisch lernen. Mit ihren kosovo-albanischen AltersgenossInnen fehlt ihnen die gemeinsame Sprache.
Neziri versteht Serbisch. In der Schulzeit habe sie serbische Freunde gehabt, erzählt sie. Heute nicht mehr. In den letzten Jahren war sie nur noch selten auf der nördlichen Seite. Manchmal spaziere sie den Berg hinauf zum Denkmal für die Arbeiter der Trepča-Mine. Das Monument aus den siebziger Jahren thront über der Stadt und soll daran erinnern, dass serbische und albanische Minenarbeiter während des Zweiten Weltkriegs gemeinsam gegen die deutschen Besatzer kämpften. Es stammt aus einer anderen Zeit, der eines geeinten Jugoslawiens.
Für die Regierung in Prishtina gehören heute auch die Gebiete nördlich des Ibar-Flusses und der Stadt Mitrovica selbstverständlich zum Staatsgebiet. So sehen das aktuell auch über 100 Staaten, die Kosovos Unabhängigkeit anerkennen. Für die Regierung in Belgrad dagegen gehört das Kosovo weiterhin selbstverständlich zu Serbien. Dies findet Unterstützung durch China und Russland. Aber auch die fünf EU-Mitgliedsländer Griechenland, Rumänien, Slowakei, Republik Zypern und Spanien erkennen die Unabhängigkeit des Staates nicht an.
Bei Diskussionen um das Kosovo geht es selten allein nur um die 1,9 Millionen EinwohnerInnen eines Fleckens der Größe Schleswig-Holsteins. Das Land ist Projektionsfläche für globale Konflikte: islamische gegen christliche Religion, Ost gegen West, Russland gegen die Nato.
Knapp 80 Kilometer weiter im Süden liegt das Camp Bondsteel der KFOR-Soldaten. Seit 1999 liegt die US-Militärbasis vor den Toren der Stadt Ferizaj. Hinter einer schwer bewachten Eingangsschleuse erstrecken sich Hangars mit Black-Hawk-Hubschraubern und Militärbaracken über eine Hügelgruppe, so weit das Auge reicht. Für die Soldaten gibt es ein Fitnessstudio, ein Kino und sogar Fastfood-Filialen von Burger King und Subway. Hier im Camp sorgt man sich um den zunehmenden russischen Einfluss in der Region, insbesondere nach dem Überfall auf die Ukraine.
KFOR-Soldaten der US-Armee haben an diesem Tag WissenschaftlerInnen der Universität Prishtina eingeladen. In einem Nebenraum der Kantine spricht einer der Kommunikationswissenschaftler über zunehmende Desinformation und die Schwierigkeit, russische Propaganda zu kontrollieren. Die WissenschaftlerInnen würden sich mehr Kontrolle der Onlinemedien wünschen, die ihrer Meinung nach die serbische Minderheit im Nordkosovo aufhetzten. Die US-Soldaten sind da sehr vorsichtig. Meinungsfreiheit gehöre zu Demokratie, ebenso der Protest, sofern er friedlich bleibe, betonen sie im Gespräch.
Doch immer mehr KosovarInnen sind der großen Politik und der noch größeren Ideologien überdrüssig. Fragt man Neziri, was sie bedrückt, erzählt sie von Alltagsproblemen. „Die Löhne sind zu niedrig, Jobs werden noch zu oft über Beziehungen vergeben.“ Nach wie vor herrscht eine hohe Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent im Land und Investoren scheuen unsichere Gegenden. „Viele werden von Verwandten im Ausland unterstützt“, sagt Neziri. Auch ihre Geschwister leben mittlerweile in der Schweiz, Kanada und Deutschland. Sie sehne sich danach, sie zu besuchen, sagt Neziri, und fühle sich im Kosovo eingeengt.
So geht es den meisten Menschen hier: Sie warten auf die Visa-Liberalisierung. Die soll nun spätestens Anfang 2024 kommen. KosovarInnen könnten sich dann ohne Visum 90 Tage pro Jahr in der EU aufhalten – so wie es für die BürgerInnen aller ihrer Nachbarländer seit Jahren möglich ist.
Neziri hat den Konflikt satt, der ihr täglich auf der Brücke ein paar Minuten von ihrer Wohnung entfernt ins Auge springt. „Ich verstehe nicht, warum wir nicht einfach friedlich zusammenleben können“, sagt sie.
Milica Andrić Rakić blickt von der anderen Seite des Flusses auf die Brücke, die Stadt und den Konflikt. „In den letzten zwei Jahren hat sich die Lage langsam verschlechtert und der Nationalismus hat zugenommen“, sagt Andrić Rakić. Die junge Frau hat als Journalistin gearbeitet und ist bei der NGO New Social Initiative, die sich für die Teilhabe der serbischen Community im Kosovo einsetzt. Andrić Rakić wohnt im Nordteil von Mitrovica. Der Weg zu ihr führt zu Fuß über die zentrale Brücke, vorbei an den Carabinieri, den Straßenhunden und den Blockadepollern.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Die Brücke über den Ibar in Mitrovica verbindet den albanischen mit dem serbischen Teil der Stadt (Blick nach Norden).
Author | Julian Nyča / Source : Own work / Date : 8 August 2013, 09:29:15 |
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Unten — Bridge over the Ibar, which divides the city in two. (2009)
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