„Freiheit ist Freiheit. Niedertracht ist Niedertracht.“

Erst war die Straße und Brücke – dann kam der Zaun.
Seine Hände sind schwarz und abgearbeitet, das Schmieröl hat sich in die Haut gefressen und sitzt unter den Nägeln. Menschen mit solchen Händen wissen eigentlich zu arbeiten und tun es auch gern. Was sie arbeiten, ist eine andere Sache.
Klein, still und besorgt steht er da und erzählt von der Situation an der Front, von seiner Brigade, von der Technik, mit der er – der Fahrer einer Einheit – unterwegs ist. Plötzlich fasst er sich ein Herz und sagt: »Ihr seid doch Freiwillige«, sagt er, »kauft uns einen Kühlschrank.« »Was willst du denn an der Front mit einem Kühlschrank?« Wir verstehen nicht. »Aber wenn du ihn brauchst, dann fahren wir zum Supermarkt, du suchst dir einen aus, und wir kaufen ihn.« »Nein«, erklärt er, »ihr habt mich falsch verstanden: Ich brauche ein Fahrzeug mit einem Kühlschrank. Einen Kühlwagen. Um die Gefallenen abzutransportieren. Wir finden Leichen, die schon länger als einen Monat in der Sonne gelegen haben. Wir schaffen sie mit einem Kleinbus weg, da kriegst du keine Luft mehr.« Er spricht über die Leichen – seine Arbeit –, ruhig und gemessen, ohne Wichtigtuerei und auch ohne Hysterie. Wir tauschen unsere Nummern. Eine Woche später haben wir in Litauen einen Kühlwagen gefunden und bringen ihn nach Charkiw. Unser Bekannter und seine Kämpfer rücken mit der ganzen Mannschaft an, feierlich nehmen sie das Fahrzeug in Empfang und machen mit uns ein Selfie für einen Post. Dieses Mal trägt unser Bekannter eine Waffe und saubere Kleidung. Die Hände sind – wenn man genauer hinsieht – so schwarz wie zuvor, die tagtägliche schwere Arbeit, das sieht man den Händen am meisten an.
Die Unmöglichkeit, frei zu atmen und leicht zu sprechen
Was ändert der Krieg vor allen Dingen? Das Gefühl für Zeit und das Gefühl für Raum. Die Konturen der Perspektive, die Konturen der zeitlichen Ausdehnung ändern sich unglaublich schnell. Wer sich im Raum des Krieges befindet, macht keine Zukunftspläne, denkt nicht weiter darüber nach, wie die Welt morgen aussehen wird. Nur das, was jetzt und hier mit dir passiert, hat Bedeutung und Gewicht, nur Dinge und Menschen, mit denen du spätestens morgen zu tun hast – wenn du überlebst und aufwachst – haben Sinn. Die wichtigste Aufgabe ist es, unversehrt zu bleiben und sich den nächsten halben Tag durchzukämpfen. Irgendwann später wird sich zeigen, wird sich herausstellen, was man unternehmen und wie man sich verhalten muss, worauf man sich in diesem Leben verlassen kann und wovon man sich lösen muss. Das betrifft im Grunde genommen sowohl die Militärangehörigen als auch jene, die sich als „Zivilisten“, also unbewaffnet, in der Kontaktzone des Todes aufhalten. Genau dieses Gefühl ist es, das dich vom ersten Tag des großen Krieges an begleitet – das Gefühl der gebrochenen Zeit, des Fehlens von Dauer, das Gefühl der zusammengepressten Luft, du kannst kaum atmen, weil die Wirklichkeit auf dir lastet und versucht, dich auf die andere Seite des Lebens, auf die andere Seite des Sichtbaren abzudrängen. Die Überlagerung von Ereignissen und Gefühlen, das Aufgehen in einem zähen blutigen Strom, der dich erfasst und umfängt: diese Verdichtung, der Druck, die Unmöglichkeit, frei zu atmen und leicht zu sprechen, das ist es, was die Wirklichkeit des Krieges fundamental von der Wirklichkeit des Friedens unterscheidet. Doch sprechen muss man. Selbst in Zeiten des Krieges. Gerade in Zeiten des Krieges.
Natürlich ändert der Krieg die Sprache, ihre Architektur und ihr Funktionsfeld. Wie der Stiefel eines Eindringlings, eines Fremden beschädigt der Krieg den Ameisenhaufen des Sprechens. Also versuchen die Ameisen – die Sprecher der beschädigten Sprache – fieberhaft, die zerstörte Struktur zu reparieren, das, was ihnen vertraut ist, was zu ihrem Leben gehört, wiederherzustellen. Irgendwann ist alles an seinem Platz. Aber diese Unfähigkeit, sich der vertrauten Mittel zu bedienen, genauer gesagt, die Unfähigkeit, mit den früheren – aus friedlichen Vorkriegszeiten stammenden – Konstruktionen deinen Zustand zu beschreiben, deine Wut, deinen Schmerz und deine Hoffnung zu erklären – ist besonders schmerzhaft und unerträglich. Besonders, wenn du es gewohnt warst, der Sprache zu vertrauen und dich auf ihr Potenzial zu verlassen, das dir bislang unerschöpflich schien. Plötzlich aber zeigt sich, dass die Möglichkeiten der Sprache begrenzt sind, begrenzt von den neuen Umständen, von einer neuen Landschaft: einer Landschaft, die sich in den Raum des Todes, in den Raum der Katastrophe einschreibt. Jeder einzelnen Ameise kommt die Aufgabe zu, die Kongruenz des kollektiven Sprechens, des Gesamtklangs, der Kommunikation und Verständigung wiederherzustellen. Wer ist in diesem Fall der Schriftsteller? Auch eine Ameise, verstummt wie alle anderen. Seit Kriegsbeginn holen wir uns diese beschädigte Fähigkeit zurück – die Fähigkeit, sich verständlich zu machen. Wir alle versuchen zu erklären: uns selbst, unsere Wahrheit, die Grenzen unserer Verletzlichkeit und Traumatisierung. Vielleicht ist die Literatur hier im Vorteil. Weil sie alle früheren Sprachkatastrophen und -Brüche in sich trägt.
Wie soll man über den Krieg sprechen? Wie soll man mit den Intonationen umgehen, in denen so viel Verzweiflung, Wut und Verletzung mitschwingt, zugleich aber auch Stärke und die Bereitschaft, zueinander zu stehen, nicht zurückzuweichen? Ich glaube, das Problem mit der Formulierung der zentralen Dinge liegt derzeit nicht nur bei uns – die Welt, die uns zuhört, tut sich manchmal schwer, eine einfache Sache zu verstehen – dass wir, wenn wir sprechen, ein hohes Maß an sprachlicher Emotionalität, sprachlicher Anspannung, sprachlicher Offenheit zeigen. Die Ukrainer müssen sich nicht für ihre Emotionen rechtfertigen, aber sicher wäre es gut, diese Emotionen zu erklären. Warum? Schon allein deshalb, damit sie den Zorn und den Schmerz nicht länger allein bewältigen müssen. Wir können uns erklären, wir können beschreiben, was mit uns geschehen ist und weiter geschieht. Wir müssen uns darauf einstellen, dass das kein einfaches Gespräch wird. Aber so oder so müssen wir dieses Gespräch schon heute beginnen.
Frieden tritt nicht ein, wenn das Opfer der Aggression die Waffen niederlegt
Wichtig erscheint mir hier, dass sich der begriffliche Gehalt und die Nuancen unseres Vokabulars verschieben. Es geht dabei um die Optik, um die andere Sicht, den anderen Blickwinkel, aber vor allem eben um die Sprache. Manchmal kommt es mir so vor, als würde die Welt, wenn sie beobachtet, was sich da seit sechs Monaten im Osten Europas abspielt, von Wörtern und Begriffen Gebrauch machen, die das, was passiert, schon längst nicht mehr erklären können. Was zum Beispiel meint die Welt – ich weiß um das Irreale und Abstrakte der Bezeichnung, habe sie aber hier bewusst gewählt –, wenn sie den Frieden zu einer Notwendigkeit erklärt? Scheinbar geht es um die Beendigung des Krieges, das Ende der militärischen Konfrontation, um den Moment, wenn die Artillerie schweigt und Stille eintritt. Frieden sollte doch die Sache sein, die uns zur Verständigung führt. Was wollen die Ukrainer denn am meisten? Natürlich die Beendigung des Krieges. Natürlich Frieden. Natürlich die Einstellung der Gefechte. Ich, der ich im Zentrum von Charkiw im achtzehnten Stock wohne und vom Fenster aus beobachten kann, wie die Russen von Belgorod aus Raketen abfeuern, wünsche mir nichts sehnlicher als die Einstellung des Raketenbeschusses, die Beendigung des Krieges, die Rückkehr zur Normalität, zu einem natürlichen Dasein.
Warum werden die Ukrainer dann so oft hellhörig, wenn europäische Intellektuelle und Politiker den Frieden zu einer Notwendigkeit erklären? Nicht etwa, weil sie die Notwendigkeit des Friedens verneinen, sondern aus dem Wissen heraus, dass Frieden nicht eintritt, wenn das Opfer der Aggression die Waffen niederlegt. Die Zivilbevölkerung in Butscha, Hostomel und Irpen hatte überhaupt keine Waffen. Was die Menschen nicht vor einem furchtbaren Tod bewahrt hat. Die Bewohner von Charkiw, die von den Russen permanent und wüst mit Raketen beschossen werden, haben auch keine Waffen. Was sollten sie denn nach Meinung der Anhänger eines um jeden Preis schnell geschlossenen Friedens tun? Wo sollte für sie die Grenze zwischen einem Ja zum Frieden und einem Nein zum Widerstand verlaufen?

Wenn wir jetzt, im Angesicht dieses blutigen, dramatischen und von Russland entfesselten Krieges über Frieden sprechen, wollen einige eine simple Tatsache nicht zur Kenntnis nehmen: Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden. Es gibt verschiedene Formen eines eingefrorenen Konflikts, es gibt zeitweilig besetzte Gebiete, es gibt Zeitbomben, getarnt als politische Kompromisse, aber Frieden, echten Frieden, einen Frieden, der Sicherheit und Perspektive bietet, gibt es leider nicht. Und wenn manche Europäer (zugegebenermaßen nur ein sehr kleiner Teil) den Ukrainern ihre Weigerung, sich zu ergeben, fast schon als Ausdruck von Militarismus und Radikalismus anlasten, tun sie etwas Merkwürdiges – beim Versuch, in ihrer Komfortzone zu bleiben, überschreiten sie umstandslos die Grenzen der Ethik. Das ist keine Frage an die Ukrainer, das ist eine Frage an die Welt, an ihre vorhandene (oder nicht vorhandene) Bereitschaft, um fragwürdiger materieller Vorteile und eines falschen Pazifismus willen ein weiteres Mal das totale, enthemmte Böse zu schlucken.
Appelle an Menschen zu richten, die ihr Leben verteidigen, Opfer zu beschuldigen, Akzente zu verschieben, gute und positive Parolen manipulierend einzusetzen, ist für den einen oder anderen eine ziemliche bequeme Form, die Verantwortung abzuschieben. Dabei ist alles ganz einfach: Wir unterstützen unsere Armee nicht deshalb, weil wir Krieg wollen, sondern weil wir unbedingt Frieden wollen. Nur ist die uns unter dem Vorwand des Friedens angetragene, sanfte und diskrete Form der Kapitulation nicht der geeignete Weg zu einem friedlichen Leben und zum Wiederaufbau unserer Städte. Vielleicht müssten die Europäer weniger Geld für Energieträger ausgeben, wenn die Ukrainer kapitulierten, aber wie würden sich die Menschen in Europa fühlen, wenn sie sich bewusst machten (woran gar kein Weg vorbeiführt), dass sie ihr warmes Zuhause mit vernichteten Existenzen und zerstörten Häusern von Menschen erkauft haben, die auch in einem friedlichen und ruhigen Land leben wollten?
Ein Verbrecher ist ein Verbrecher
Es geht hier, das möchte ich noch einmal betonen, um die Sprache. Darum, wie genau und zutreffend die Wörter sind, die wir verwenden, wie markant unsere Intonation, wenn wir über unser Dasein an der Bruchstelle von Leben und Tod sprechen. Inwieweit reicht unser Vokabular – also das Vokabular, mit dem wir gestern noch die Welt beschrieben haben – inwieweit reicht es jetzt aus, um über das zu sprechen, was uns schmerzt oder stark macht? Schließlich befinden wir uns heute alle an einem Punkt des Sprechens, von dem aus wir früher nicht gesprochen haben, wir haben ein verschobenes Wahrnehmungs- und Bewertungssystem, veränderte Bedeutungsbezüge, veränderte Maßstäbe für Angemessenheit. Was von außen, aus der Entfernung, womöglich aussieht wie ein Gespräch über den Tod, ist in Wirklichkeit der verzweifelte Versuch, am Leben, an seiner Existenz und seiner Dauer festzuhalten. Wo in dieser neuen, gebrochenen und verschobenen Wirklichkeit endet denn der Krieg, und wo beginnt der Frieden? Der Kühlwagen mit den Leichen der Gefallenen – geht es da noch um Frieden oder schon um Krieg? Wenn Frauen an Orte gebracht werden, an denen keine Gefechte stattfinden – wofür ist das eine Unterstützung? Für die friedliche Lösung des Konflikts? Das Tourniquet, das du für einen Soldaten gekauft hast und das ihm das Leben rettet – ist das noch humanitäre Hilfe oder schon eine direkte Unterstützung der Kämpfenden? Und wenn du jenen hilfst, die für dich, für die Zivilisten in den Kellern, für die Kinder in der Metro kämpfen, hast du dann die Grenzen eines achtbaren Gesprächs über das Gute und über Empathie überschritten? Müssen wir unser Recht auf Existenz in dieser Welt in Erinnerung rufen, oder ist dieses Recht offensichtlich und unantastbar?
Quelle : Blätter-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Über die Brücke fuhren früher die Kohlezüge zum Kraftwerk Reuter.