Europas Zielkonflikt
Erstellt von DL-Redaktion am 17. Dezember 2022
Die Rolle von Frontex im Grenzregime
Zeigt hier nicht eine politische Institution auf, ihre Grenzen nur mit den unlauteren Mittel einer Mörderbande sichern zu können?
Ein Artikel von Christian Jakob und Bernd Kasparek
Grenzen dicht halten und gleichzeitig die Menschenrechte wahren. An diesem Auftrag scheitert Frontex regelmäßig, wie interne Dokumente zeigen.
Verrostete Gitterstäbe, eine schimmelige Backsteinwand, Müll und Bauschutt auf dem Boden, mittendrin acht junge Männer. Ohne Wasser, ohne Nahrung, eingesperrt wie in einem Viehverschlag warten die Flüchtlinge darauf, von der Polizei in die etwa 40 Kilometer entfernte Türkei zurückgebracht zu werden. Die käfigartige Baracke befindet sich in Sredez, im Süden Bulgariens, direkt neben der dortigen Polizeistation.
Die Recherche-NGO Lighthouse-Reporting veröffentlichte Mitte Dezember Aufnahmen mehrerer solcher „Black Sites“ – Geheimgefängnisse, in denen Flüchtlinge entlang der EU-Außengrenze vor einer Abschiebung eingesperrt werden.
Alles daran ist illegal: die Bedingungen der Internierung, die Einrichtung als solche, die dabei stattfindenden Misshandlungen, die Abschiebung ohne Asylverfahren.
Mittendrin: die EU-Grenzschutzagentur Frontex. Wiederholt besuchten die Lighthouse-Rechercheure den Ort in Sredez – und fotografierten „dreimal Autos mit Frontex-Marken, die nur wenige Meter vom Käfig entfernt geparkt waren“, heißt es in ihrem Bericht. Interne Dokumente zeigten, dass in Sredez „zehn Frontex-Beamte im Rahmen der Operation ‚Terra‘, der größten Landoperation der Agentur, stationiert sind“.
Es wird ermittelt
Die kündigte nach der Veröffentlichung Ermittlungen an: „Frontex geht jedem Hinweis über mutmaßliche Grundrechtsverletzungen ernsthaft nach“, sagte ein Sprecher.
Ermittelt wird auch von anderer Seite: Am Freitag berichtete der Spiegel, dass die EU-Antibetrugsbehörde OLAF einmal mehr gegen Frontex – und dabei nun auch gegen die Interimsdirektorin Aija Kalnaja ermittelt.
Die Grenzschutzagentur ist, typisch für Sicherheitsbehörden, notorisch intransparent. Seit Jahren aber verschaffen sich Journalist:innen, Wissenschaftler-innen und NGOs über Informationsfreiheitsgesetze interne Frontex-Dokumente. Die NGO Frag den Staat (FDS) hat nun rund 4.100 dieser Dokumente in einer Datenbank zusammengeführt und verschiedenen Medien, darunter die taz, zugänglich gemacht.
Die interessanten Stellen sind vielfach geschwärzt, doch in ihrer Gesamtschau zeigen die Dokumente, welchen Logiken die Frontex-Führung folgt. Und dass die eigenen Frühwarnsysteme – das „Konsultativforum“ und die Grundrechtsbeauftragte – trotz ihrer völlig unzureichenden Ausstattung ihre Aufgabe immer wieder erfüllt haben. Doch die Agentur hatte andere Prioritäten als Menschen- und Flüchtlingsrechte.
Schon 2015, so zeigen die Dokumente beispielsweise, wurde Frontex darüber informiert, dass ein afghanischer Flüchtling in Sredez durch einen „Warnschuss“ eines bulgarischen Grenzschützers erschossen wurde. Die Agentur legte einen „Vorfallsbericht“ an – und beließ es dabei. In jener Zeit war Frontex mit 170 Beamten in der Grenzregion präsent.
Der frühere Direktor
Um das Image von Frontex ist es schlecht bestellt. Was lange nur antirassistische Initiativen interessierte, ist im Laufe der Jahre ins öffentliche Bewusstsein eingesickert: Die EU-Agentur verletzt Menschenrechte, um die Grenzen dicht zu halten. Durch die Geschichte der Agentur ziehen sich seit ihrer Gründung im Jahr 2004 Skandale, aber seit einiger Zeit finden diese auch in großen Medien Widerhall oder werden von diesen überhaupt erst enthüllt.
Weil Frontex in Pushbacks in Griechenland verwickelt war, musste der letzte Frontex-Direktor, der Franzose Fabrice Leggeri, im April 2022 zurücktreten, eine-n Nachfolger-in gibt es noch nicht. Seit 2021 blockiert das EU-Parlament die sogenannte Haushaltsentlastung für die Agentur, zuletzt per Votum am 18. Oktober. „Seit Jahren missbraucht Frontex Steuergelder, um Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen zu vertuschen“, sagte die Linken-Europaabgeordnete Cornelia Ernst.
Leggeri hat Vorwürfe stets zurückgewiesen und dabei vielfach gelogen. Die FDS-Dokumente zeigen nun: Der Frontex-Direktor war über Jahre immer wieder aus dem eigenen Haus darüber informiert worden, dass die Agentur auch dort aktiv war, wo EU-Staaten Flüchtlingsrechte systematisch missachteten und sie sich deshalb hätte zurückziehen müssen.
Gleichzeitig ist die Agentur in der paradoxen Lage, dass ein Teil der EU-Staaten – etwa Polen und Kroatien – heute Frontex-Einsätze auf ihrem Territorium ablehnen, weil sie Störungen bei der eigenen, illegalen Push back-Praxis fürchten.
An der ungarisch-serbischen Grenze
Ein Beispiel für die Ignoranz von Frontex gegenüber Warnungen hinsichtlich der Menschenrechte ist der Einsatz in Ungarn. Auch von dort veröffentlichte Lighthouse erst in der vergangenen Woche Aufnahmen von „Black Sites“ Sie zeigen Schiffscontainer, aufgestellt an der Grenze zu Serbien. Auch dort werden dem Bericht zufolge Flüchtlinge ohne Essen und Wasser festgehalten und manchmal mit Pfefferspray angegriffen, bevor sie in Gefängnisbussen abgeschoben werden.
Ungarn ist ein Vorreiter beim Abbau der Flüchtlingsrechte. 2015 richtete das Land zur Internierung sogenannte Transitzonen an den Außengrenzen ein, die nur „rückwärts“ – also wieder zurück nach Serbien – verlassen werden konnten. Teilweise gab es dort kein Essen, und NGOs wurde verboten, welches zu verteilen. Ungarn setzte darauf, Flüchtlinge so schlecht zu behandeln, dass die sogenannten Dublin-Rücküberstellungen aus anderen EU-Staaten nach Ungarn schließlich verboten wurden. Und weil fast alles, was Orbán sich dafür ausgedacht hatte, gegen EU-Recht verstieß, wurde Ungarn mehrfach dafür verurteilt.
Doch Frontex blieb im Land. Dabei schrieb die eigene Frontex-Grundrechtsbeauftragte Inmaculada Arnáez bereits im Oktober 2016, dass die zur Abschiebung aus der „Transitzone“ „eingesetzten Zwangsmaßnahmen (etwa Schläge, Hundebisse, Pfefferspray)“ zu „Vorfällen geführt haben, die das Recht auf Menschenwürde, das Recht auf Leben, das Recht auf Unversehrtheit der Person und das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gefährden.“ Arnáez verwies auf vielfache entsprechende Berichte, unter anderem des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR.
Drei Wochen später schrieb auch das Frontex eigene Konsultativforum, eine Art Menschenrechts Beirat: Könne die Agentur nicht garantieren, dass die Flüchtlingsrechte gewahrt werden, empfehle es, „die operativen Aktivitäten an der ungarisch-serbischen Grenze auszusetzen.“
Leggeri wies das zurück. In einem Brief vom 1. Februar 2017 schrieb er dem Konsultativforum, dass die Mission in Ungarn nicht beendet werde. Es gebe „nur einen einzigen Fall“, in dem Misshandlungen „im Rahmen der von Frontex koordinierten Aktivitäten“ stattgefunden haben sollen. Die Untersuchung dazu hätten die ungarischen Behörden eingestellt, denn es gebe „keine Anzeichen für einen Verstoß gegen das Gesetz“. Frontex habe sich also nichts zuschulden kommen lassen und bleibe vor Ort, so Leggeri. Ganz glaubte er das offenbar selbst nicht. Denn zu jener Zeit, auch das zeigen die FDS-Dokumente, ordnete er an, dass die entsandten Frontex-Grenzschützer keine gemeinsamen Patrouillen mit ungarischen Soldaten, sondern lediglich mit Grenzpolizisten durchführen und sich nicht an „Aktivitäten“ innerhalb der Transitzonen beteiligen sollten.
Wegschauen und lavieren
Dieses Lavieren hat mit dem Auftrag von Frontex zu tun. In den Rechtsgrundlagen dazu ist die Rede vom „Schutz der Außengrenzen“, von „entschlossenem Handeln zur Verhinderung irregulärer Migration“ oder der „Verhinderung unerlaubter Grenzübertritte“. Offiziell erlaubt ist dabei sehr vieles, was verhindern soll, dass Menschen überhaupt bis an die EU-Grenzen gelangen. Sehr viel unklarer aber ist, was geschieht, wenn das nicht gelingt. Nirgendwo in den Beschreibungen des Auftrags von Frontex steht, dass potenziell Schutzbedürftige nicht über die Grenze gelassen werden sollen. Denn das wäre vom EU-Recht nicht gedeckt. Vielen EU-Staaten geht es aber genau darum. Und die EU stützt dies: „Trotz dieser anhaltenden Bedenken hinsichtlich der Art und Weise, wie Ungarn seinen Grenzkontrollverpflichtungen nachkommt, bin ich der festen Überzeugung, dass Frontex seine Operationen in Ungarn fortsetzen sollte“, schrieb ein Vertreter der EU-Kommission am 23. Dezember 2016 an Leggeri.
Im Wesentlichen führt das zu zwei Situationen. Die eine ist, dass Staaten auf das EU-Recht pfeifen, Flüchtlinge zurück über die Grenze prügeln und sich dabei von Frontex nicht stören lassen wollen. So wie Polen und Kroatien. Dann hat die Agentur Glück, denn es ist nicht ihr Problem. Ihr Pech ist gleichzeitig, dass sie dabei überflüssig wird.
Die andere Situation ist, dass Frontex vor Ort ist. Dann könnte, ja müsste sie eingreifen, Menschenrechtsverletzungen unterbinden – dazu ist die Agentur jedenfalls laut eigenem Mandat verpflichtet. Oder sich zurückziehen. Wie aus Ungarn. Das aber hat sie in der Vergangenheit nicht getan, sondern weggeschaut oder mitgemacht.
Im Dezember 2020 entschied der Europäische Gerichtshof: Ungarns Asylregeln verstoßen gegen EU-Recht. Das Land hat gegen die Pflicht, Asylanträge zu ermöglichen, gehandelt. Außerdem seien die Pushbacks nach Serbien rechtswidrig. Es war genau das, was die Frontex eigenen Gremien schon Jahre zuvor festgestellt hatten.
Leggeri aber reichte das immer noch nicht. Sechs Wochen später, am 19. Januar 2021, insistierte Arnáez erneut: In einem Brief an Leggeri empfiehlt sie, „die operativen Maßnahmen an den Landgrenzen in Ungarn „auszusetzen oder zu beenden (…), da es immer wieder zu schweren Grundrechtsverletzungen kommt“.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Seitengebäude (Adresse: 6 European Square) des Bürokomplexes Warsaw Spire in Warschau, Sitz von, unter anderem, Agentur Frontex
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