Menschen in der Arbeitswelt
Erstellt von Redaktion am 9. Oktober 2022
Die Jungen sollten noch viel weniger arbeiten!
Von Nicole Opitz
Unsere Eltern konnten sich von ihrer Lohnarbeit vielleicht mal ein Reihenhaus kaufen – das ist vorbei. Liebe Ältere, zeigt mal mehr Solidarität.
Es war vielleicht in der 6. Klasse, da schrieb eine meiner Lehrer:innen an die Tafel: „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ – „Was glaubt ihr, wie alt das Zitat ist?“, fragte die Lehrkraft. Ich erinnere mich daran, wie erstaunt wir waren, dass das Zitat von Sokrates stammt und 2.000 Jahre alt ist. Ich wünschte, ich könnte erzählen, dass wir danach die Beine auf den Tisch gelegt haben. Aber der Unterricht ging ganz normal weiter.
Das Zitat von Sokrates geht dieser Tage auch durch die Kommentarspalten der taz, denn vergangene Woche schrieb eine Kollegin an der gleichen Stelle, dass die „Jungen“ nicht mehr arbeiten wollen und meinte damit vor allem Millennials – also Menschen, die um die Jahrtausendwende geboren wurden. Sie wollten Freizeit, Freiheit, Homeoffice und dazu noch flexible Arbeitszeiten.
Das Echo auf den Text war groß – Wut, Verwunderung und Zuspruch, es war alles dabei. Am Mittwoch gab es auf dem Forum Reddit vier Subreddits zum Thema mit mehr als 900 Kommentaren. Ich glaube, dass im Sokrates-Zitat der Kern dessen steckt, woran viele schier verzweifeln: Manchen Boomern fehlt der Perspektivwechsel. Die Lebensrealität aus der Jugend der Älteren ist nicht vergleichbar mit der gegenwärtigen Wirklichkeit. Anders gesagt: Das Arbeitsmodell aus dem 20. Jahrhundert passt nicht zum Leben des 21. Jahrhunderts. Trotzdem läuft es seit Jahrzehnten irgendwie gleich mit der 40-Stunden-Woche, aber auf die komme ich später nochmal zurück.
Unsere Eltern konnten sich von ihrer Lohnarbeit vielleicht mal ein Reihenhaus kaufen. Für mich ist das so schwer vorstellbar, ich hämmere es mehrmals in die Tastatur, weil meine Finger „Wohnung“ statt „Reihenhaus“ tippen. Dabei können sich viele Millennials auch keine Wohnung leisten. Der Begriff Millennial an sich ist übrigens nicht unproblematisch, weil ich da als vergleichsweise privilegierte weiße Journalistin genauso drunter falle wie eine schwarze Person, die im strukturell rassistischen Deutschland ganz anderen Herausforderungen gegenübersteht.
Warum gibt es eigentlich die 40-Stunden-Woche noch?
Laut Statistik verdient dieses Konstrukt „Millennial“ zwar mehr als die Menschen in allen Generationen vor ihm – gestiegene Lebenshaltungskosten und die Inflation sorgen aber dafür, dass Millennials durchschnittlich weniger davon haben. In den USA sind Boomer laut Business Insider zehn Mal so reich wie die Generation Jahrtausendwende.
Viele fragen sich: Warum Überstunden machen für einen Job, der uns nicht mehr geben kann, was unsere Eltern wollten? Zudem wissen wir inzwischen, dass zu viel Lohnarbeit krank macht – laut dem DAK-Gesundheitsreport haben 8,6 Millionen Menschen ein erhöhtes Herzinfarkt-Risiko durch eine psychische Erkrankung oder arbeitsbedingten Stress.
Im Jahr 2021 machten Arbeitnehmer-innen laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linken etwa 1,3 Milliarden Überstunden. Etwa 700 Millionen davon wurden nicht bezahlt – und Betriebe profitieren davon mit einem zweistelligen Milliardenbetrag. Besonders profitieren sie von Arbeitnehmer-innen, die befristet angestellt sind. Im Homeoffice sammeln die meisten etwa vier Überstunden pro Woche, im Büro „nur“ 2,7. Auch unter den vielen Überstunden leiden Beschäftigte: So schreibt die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin davon, dass „die Variabilität der Arbeitszeit als ungünstig für die Gesundheit von Beschäftigten zu bewerten“ sei. Und: „Die Arbeit findet dann häufig zu ungünstigen Zeiten statt, worunter auch die soziale Strukturierung des Lebens leiden kann.“
Anders gesagt: Der Kinoabend mit Freund-innen wird verschoben, weil etwas auf der Arbeit nicht ohne Überstunden funktioniert. Viele machen das nicht mehr mit, einige Journalist:innen schreiben schon über „quiet quitting“, einen angeblichen Trend, bei dem die Arbeitnehmer-innen nicht mehr machen als von ihnen verlangt wird. Für mich klingt allein schon die Bezeichnung nach Arbeitgeber-innen-Perspektive. Warum sollte es denn nicht okay sein, wenn man nicht mehr Aufgaben macht als bezahlt werden?
Ich glaube nicht daran, dass sich unablässig produktiv arbeiten lässt. Das Gehirn braucht Pausen. Und: Arbeit kann Sinn schaffen, für manche Menschen sogar Lebenssinn sein, sie muss es aber nicht. Für viele ist es einfach der Weg, die in den letzten Jahren gestiegenen Lebenskosten zu bezahlen, und dafür macht man nicht alles mit, was Arbeitgeber-innen von einem wollen. Sie arbeiten, um zu leben, nicht umgekehrt.
Zumal Fachkräftemangel herrscht und die Verhandlungsposition junger, einigermaßen okay ausgebildeter Menschen so gut ist wie seit Jahren nicht mehr. Hat uns der Kapitalismus nicht gelehrt, dass das Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen? Na also: deal with it!
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Early 20th Century German illustration from 1902 Jugend Magazine publication from Austria
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Unten — Ein altes französisches Ehepaar, M. und Mme. Baloux aus Brieulles-sur-Bar, Frankreich, seit vier Jahren unter deutscher Besatzung, begrüßt Soldaten der 308. und 166. Infanterie bei ihrer Ankunft während des amerikanischen Vormarsches. Nation WWI Museum Bildunterschrift: „Offizielle A.E.F.-Fotos, die vom Signal Corps aufgenommen wurden: „Mitglieder der Kompanie I, des Dreihundertachtundachtzigsten Regiments Infanterie, der siebenundsiebzigsten Division und der Kompanie I, Einhundertsechsundsechzigstes Regiment Infanterie (ehemals Vierte Ohio Infanterie), Zweiundvierzigste Division, werden von Herrn und Frau Baloux, einem alten Ehepaar, das vier Jahre lang gefangen war, befragt. Von links nach rechts: Philip Tanger von der siebenundsiebzigsten Division und Allen Floyd von der zweiundvierzigsten Division. Brieulles sur Bar [sic], Ardennen, Frankreich. 6. November 1918.“
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