Landsleute ins Boot holen
Erstellt von Redaktion am 20. Juni 2022
Die Sorge der Menschen ist nicht, eines Tages abgehängt zu werden, sondern in Zukunft abgehängt zu bleiben
Wer hätte so nicht gedacht? Die Boote mit Politikern zu füllen und auf die Reise schicken.
Von Paulina Fröhlich und Florian Ranft
Rund 13 Millionen Menschen leben in strukturschwachen Regionen. Ihre Situation und Expertise sollten bei der großen Transformation eine Rolle spielen.
Der Begriff „Diversität“ steht im politischen Diskurs für einen bewussten und respektvollen Umgang mit Verschiedenheit und Individualität. Für die völkische AfD ist er ein Graus. Deutlich wird dies unter anderem an einem Beitrag in ihrem Mitgliedermagazin aus dem vergangenen Sommer. Dieser ist zynisch betitelt mit „Diversität bei Autos erhalten!“ Zusammengefasst lautet die Kernbotschaft sinngemäß: „Die Großstadt Berlin gibt Geld aus, das sie nicht hat, für sinnlosen und fiesen Klimaschutz, der nichts bringt, außer dass die Armen verarmen. Wählt die AfD, damit ihr weiter Diesel und Benziner fahren könnt.“
In dem kurzen Artikel sind die Spaltungsversuche einfach zu erkennen: (Groß-)Stadt versus Land, Reich versus Arm, Klimaschutz versus Freiheit. Diese Lesart der Klimapolitik mag bei der Kernklientel der Rechtspopulisten funktionieren. Diese Erzählung vom vermeintlichen Gegensatz zwischen scheinbar linksgrüner Stadt- und scheinbar konservativer Landbevölkerung passt zur Politik der einfachen Antworten der Rechtspopulist:innen. Sie darf sich aber nicht in anderen politischen Lagern breitmachen, denn sie gefährdet ein zentrales Ziel: die Bekämpfung sozialer Ungleichheiten im Rahmen der Klimapolitik.
Eine Befragung der ARD zeigte: „81 Prozent der Deutschen sehen sehr großen oder großen Handlungsbedarf beim Klimaschutz – über Alters- und Parteigrenzen hinweg.“ Auch in extrem strukturschwachen Regionen Deutschlands, in Ost und West, ganz gleich ob Stadt oder Land, stehen Umweltthemen weit oben auf der Liste der Themen, die die Menschen für wichtig halten.
Im Rahmen der Studie „Die Übergangenen – strukturschwach & erfahrungsstark“ führten wir in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung über 200 Haustürgespräche im Ruhrgebiet, Vorpommern-Greifswald, im Regionalverband Saarbrücken und Bitterfeld-Wolfen. Auf die Frage, was die großen Herausforderungen der Zukunft sind, nahmen Umwelt- und Klima den zweiten Platz ein, knapp hinter sozialen Herausforderungen.
Während Sorgen rund um die Klimakrise die Menschen sehr beschäftigen, bleibt ein Thema noch wichtiger: soziale Verwerfungen und Schieflagen. Vor allem dann, wenn man das direkte Lebensumfeld der Menschen aus strukturschwachen Räumen in den Blick nimmt. Nach den konkreten regionalbezogenen Zukunftssorgen gefragt, wird der Klimaschutz kaum noch genannt. Mit beispiellosen Abstand rangieren die Antworten auf Platz eins, die mit „Abgehängtsein“ zusammengefasst werden können („keine Nahversorgung“, „kein Nahverkehr“, „stark verschuldet“). Auffällig war bei den Befragungen außerdem, dass die Menschen nicht die Sorge davor haben, eines Tages abgehängt zu werden, sondern in Zukunft abgehängt zu bleiben.
Da helfen dann auch keine Thinktanks weiter, wenn in die Tanks nur Gedanken eingefüllt werden, welche spinnende Politiker erlauben.
Menschen in strukturschwachen Regionen ist die Bedeutung des bevorstehenden sozial-ökologischen Wandels durchaus bewusst. Unsicherheit besteht jedoch darüber, ob sie Benachteiligte oder Profiteur:innen des Umbruchs sein werden. Die Menschen erwarten nicht einfach eine Bewältigung des Klimawandels, sondern eine sozial verträgliche Bewältigung des Klimawandels. Der Blick in die Zukunft ist geprägt durch die Erfahrungen der Vergangenheit und diese sind nicht rosig. Politische Versprechen und wirtschaftliche Aussichten gingen zu häufig nicht auf. Viele leiden unter dem Eindruck, übergangen worden zu sein. Das Vertrauen in die politischen Repräsentant:innen ist durch Skepsis geprägt. Die Hälfte der Befragten winkt kategorisch ab bei der Frage, welche Partei oder welche:r Politiker:in sich denn wirklich um die Sorgen der Menschen kümmere.
Diese Ergebnisse könnten erst einmal hoffnungslos stimmen. Müssen sie aber nicht. Denn auch wenn das Vertrauen in Politiker:innen marode ist, glaubt die Mehrheit der Befragten, dass die Demokratie den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel meistern kann. Mit der neu gewählten Ampelregierung bietet sich die historische Chance, das Ruder bei der Klimapolitik noch rechtzeitig herumzureißen, und zum anderen die Gelegenheit, strukturschwache Räume zu Gestalter:innen des Wandels zu machen. Dafür braucht es Geld, Gestaltungsmacht und Gehör. So würden die Versäumnisse der Vergangenheit, die strukturschwache Räume mit zu dem gemacht haben, was sie heute sind, nicht wiederholt und das Vertrauen in demokratische Prozesse und politische Repräsentant:innen gestärkt.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Während der von Frontex geführten Operation Triton im südlichen Mittelmeer rettet das irische Flaggschiff LÉ Eithne Menschen von einem überfüllten Boot, 15. Juni 2015
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