Kritik an Lebensformen
Erstellt von Redaktion am 30. Januar 2022
„Revolution sollte man machen!“
Das Interview mit Rahel Jaeggi führte Hanno Rehlinger
Die Berliner Philosophie-Professorin Rahel Jaeggi hat vor ihrem Abitur in einem besetzten Haus gelebt. In ihrem Buch „Kritik von Lebensformen“ geht sie der Frage nach, inwieweit diese die Krisen, aus denen sie hervorgegangen sind, lösen können.
taz am wochenende: Frau Jaeggi, zuerst zum Persönlichen …
Rahel Jaeggi: Oh, Persönliches mache ich ganz ungern …
Trotzdem. Sie sind mit 14 in Berlin in ein besetztes Haus gezogen: In welches?
(lacht) Ich dachte, Sie würden jetzt fragen, warum.
Also: warum?
Das war während der ersten großen Welle der Berliner HausbesetzerInnenbewegung. Und das war im Grunde etwas … etwas, das in der Luft lag, wo an allen möglichen Orten, an denen ich verkehrt habe, im Jugendzentrum zum Beispiel, Unterstützerinnentreffen stattgefunden haben und Besetzungen angestoßen wurden. Die Leute kamen wirklich von überallher. Da muss man nicht jahrelang organisiert sein, um so etwas zu machen. Man hat sich’s auch nicht jahrelang überlegt. Na ja, ich sowieso nicht …
Waren Sie die Jüngste?
Es gab einige in meinem Alter. Jünger waren nicht sehr viele.
Und wie war das: Sind Sie nachts zu Hause rausgeschlichen und einfach nicht mehr wiedergekommen?
Nein, ich hatte ja kein zerbrochenes Verhältnis zu meinen Eltern.
Haben Ihre Eltern Ihnen das einfach erlaubt?
Na ja, am Ende ja. Aber das waren natürlich schwierige Auseinandersetzungen. Das war eben auch eine andere Zeit. Wenn Sie so erstaunt fragen: Man kann die Euphorie oder das Ausmaß, in dem das Leben sich damals wie im Ausnahmezustand angefühlt hat, vielleicht gar nicht so leicht nachvollziehen. Es war eben nicht nur eine politische Kampagne und auch keine organisierte Politik, sondern eine Bewegung. So etwas erzeugt einen gewissen Sog.
Waren Sie an der politischen Kampagne denn interessiert?
Ja, ich war sehr daran interessiert. Letztens habe ich mal eine frühere Mitbewohnerin getroffen, die ich sehr, sehr lange nicht mehr gesehen hatte. Und die sagte zu mir: „Ich hab dich letztens gegoogelt, du bist ja so was ganz Krasses geworden! Na ja, wenn ich so überlege, also ich bin damals eher im Haus rumgehangen und hab gekifft, und du warst immer auf den Besetzerräten … also ist doch eigentlich auch kein Wunder.“
Ist das Thema „Freiräume schaffen“ heute noch aktuell?
Damals ging es auch immer um das Thema Nichtanpassung, um die Vorstellung, dass man sich der herrschenden Normalität, dem Normallebenslauf, dem Nine-to-five-Job bis zur Rente und dem normalen Spießertum entziehen möchte. Man sieht daran, wie sich die Problemlagen verschoben haben. Während in den goldenen Zeiten des Sozialstaats das Schreckensbild für viele noch war, dass man von der Gesellschaft unbarmherzig integriert und konformisiert wird, war das Szenario kurze Zeit später schon das der viel unbarmherzigeren Prekarität. Plötzlich wurde klar, dass die Gesellschaft gar nicht mehr daran interessiert ist, alle zu integrieren. Das ändert natürlich alles. Auch die, sagen wir, akademischen und kreativen Schichten müssen heute um die Festanstellung und die Planbarkeit ihres Lebenslaufs kämpfen. Da ist das Eigenheim auf einmal gar kein Schreckensbild mehr …
Vor einigen Wochen erzählten in der taz ehemalige BesetzerInnen des Bethanien, dass es damals Probleme mit jugendlichen Ausreißern gab. War das bei Ihnen auch so?
Klar, aber ich meine, das ist ja auch einer der guten Effekte. In dem Moment, wo es solche offenen Räume gibt, ziehen die natürlich auch ganz unterschiedliche Leute an, auch viele, die unmittelbar in Not sind. Das hat sich dann vermischt.
Haben Sie als Tochter einer berühmten Professorin und eines berühmten Professors ins besetzte Haus gepasst?
Ich glaube, das Gute an der Zeit war, dass es am Ende darum ging, was man zusammen macht, und nicht, wo man herkommt. Dass die Herkünfte am Ende doch eine größere Rolle spielen, als man während der Zeit gedacht hat, zeigt sich dann erst, wenn so was dann vor größeren Schwierigkeiten steht. Es gab viele Studienabbrecher oder Leute, die ihre Lehre abgebrochen haben oder die Schule. Und die Frage: Berappelt man sich dann wieder oder ist das nicht so, das hängt von ganz vielen Faktoren ab. Nicht zuletzt natürlich auch von den Ressourcen des Elternhauses. Und umgekehrt gab es diejenigen, die dadurch erst auf die Bahn gebracht wurden. Einer meiner damals sehr engen Freunde hat mir das immer so erzählt, dass er durch die Häuserbewegung sozusagen vom ungerichteten und selbstzerstörerischen Widerstand gegen alles und jeden zu einem Fokus, einer Richtung gekommen ist. Der hatte so eine typische Erziehungsheim- und Jugendstrafanstaltskarriere hinter sich und hat sich dann in der Hausbesetzerbewegung politisiert.
Wann haben Sie sich entschieden, sich zu berappeln?
Ich habe sehr lange im Kino als Filmvorführerin gearbeitet, hatte kein Abitur, auch keinen Hauptschulabschluss, weil ich zu früh aufgehört hatte. Deswegen war das ein bisschen eine Hemmschwelle, damit wieder anzufangen. Aber dann habe ich mit 23 eine Möglichkeit gefunden, mit einer externen Prüfung alle anderen Abschlüsse quasi zu überspringen und direkt ein externes Abitur gemacht.
Ein gutes Abitur?
(lacht) Um Himmels willen, nein! Also das wäre mir nicht in den Sinn gekommen, auf ein gutes Abitur zu zielen. Viele aus meinem damaligen Umfeld fanden ja schon das Abitur zu machen an sich einen Akt von Kapitulation. Und ganz so einfach ist es ja auch nicht, das allein vorzubereiten und sich selbst zu disziplinieren.
Dann haben Sie Philosophie studiert – warum?
Das hat eigentlich schon unmittelbar angefangen, nachdem ich mit der Schule aufgehört hatte. Wir hatten damals eine Gruppe, die sich um Gefangene gekümmert hat. Es war ja so, dass im Zuge der Auseinandersetzungen ein nennenswerter Anteil unserer GenossInnen über kürzer oder länger dann auch mal im Gefängnis landete. In dieser Gruppe haben wir dann auch – abgesehen von der ganzen konkreten Arbeit, die man macht, also Geld zusammenzubringen, die mit Dingen zu versorgen, Besuche organisieren – Foucault gelesen: „Überwachen und Strafen“.
Frau Jaeggi, sind Sie Kommunistin?
(lacht) Nee, so was muss ich nicht beantworten.
Ihr berühmtestes Werk heißt „Kritik von Lebensformen“. Sie versuchen darin, Lebensformen anhand ihrer Fähigkeit zu beurteilen, interne Widersprüche zu lösen. Was meinen Sie mit Ihrem Begriff der Lebensformen?
Die Art und Weise, wie wir miteinander leben, wie wir arbeiten, wie wir lieben, wie wir unsere alltäglichen und persönlichen Verhältnisse gestalten, aber eben auch, in welchen ökonomischen Strukturen wir das tun. Die Formel, die dann im Buch erläutert wird, ist: Lebensformen sind träge Ensembles sozialer Praktiken, normativ verfasst. Instanzen von Problemlösung.
Sie sagen zu Beginn Ihres Buchs, private soziale Praktiken seien von der philosophischen Kritik ausgeschlossen worden. Aber reden wir nicht ständig öffentlich über Lebensformen, zum Beispiel über Sex?
Ja, tatsächlich könnte man das so sehen. Wenn es darum geht, Zwangsheteronormativität zu thematisieren oder aufzuzeigen, in welchem Maße die bürgerlich-heterosexuelle Kleinfamilie immer noch die vorherrschende Position ist, von der aus gesehen andere Lebensformen dann als abweichend betrachtet werden – das merkt man vielleicht weniger in Berliner Clubs, aber sofort, wenn man sich die meistverkauften Kinderbücher ansieht – oder auch wenn es um die Kritik an toxischer Männlichkeit geht, dann stehen natürlich Lebensformen zur Debatte. Allerdings stehen diese nicht unbedingt immer als Lebensform zur Debatte, also entlang der Frage, ob es eine gute, angemessene, rationale Lebensform ist. Sehr häufig geht es ja – politisch aus guten Gründen – erst mal um eine gewisse Pluralität und Liberalität, also darum, dass Menschen unbehelligt ihren eigenen Lebensvorstellungen nachgehen können sollen, dass sie sich frei von Diskriminierungen in der öffentlichen Welt bewegen können sollen, dass die Weise, wie sie leben und lieben und wie sie sich im Spektrum der Geschlechter verorten, anerkannt werden muss.
Und eine Kritik von Lebensformen will mehr als diese liberalen Zugeständnisse?
Ja, ich würde einen Unterschied machen zwischen diesem genuin liberalen Punkt und dem Einsatz einer emanzipatorischen Kritik von Lebensformen, wie es sie eben auch gibt. Eine solche sagt ja offensiv: Wir wollen nicht nur die Abwesenheit von Diskriminierung und Diversität an sich, sondern eine andere Lebensweise. Oder zumindest eine Debatte darüber, was an den alten (nehmen wir die zwangsheterosexuelle oder die patriarchale) Lebensweisen schlecht, irrational, toxisch ist. Im ersten Fall beharre ich nur auf der Vielfalt von Lebensweisen. Das ist das berühmte liberale „harm principle“, demzufolge jeder frei sein sollte, zu tun und zu lassen, was er will, solange er den anderen keinen Schaden zufügt. Im zweiten Fall rede ich inhaltlich darüber, wie wir zusammenleben wollen und sollten. Warum die sozialen Praktiken und Institutionen, die wir unausweichlich teilen, so oder so gestaltet sein sollten und so oder so eben nicht.
Also haben die Konservativen zu Recht Angst, dass ihre Lebensformen verschwinden?
Ja klar. Die Lebensformen sind nicht mehr alternativlos, die Annahme, bestimmte Dinge seien „natürlich gegeben“ schwankt und wird untergraben. Wenn die autoritären Rechtspopulisten schreien, die Genderstudies zerstören die Familie, dann spüren sie, dass da etwas ins Wanken geraten ist, etwas, woran sie sich festhalten. Tatsächlich fasst die „andere Seite“ die Liberalisierungsbemühungen auch genau deshalb als Bedrohung auf: Sie halten es also nicht nur für eine Erweiterung von Lebensmöglichkeiten, sondern für einen Angriff auf ihre eigene. Und das stimmt ja irgendwie auch – und das sollte man dann auch offensiv so vertreten und nicht so tun, als ob man hier einen neutralen Standpunkt einnehmen könnte.Es ist doch klar, dass die Familie nie wieder so sein wird, wie sie mal war, nachdem sie durch diesen Prozess der Pluralisierung und Diversifizierung gegangen ist. Also nicht, dass es nicht noch traditionelle oder autoritäre Familien geben kann (leider nicht), aber deren Status, die Selbstsicherheit, mit der das gelebt wird, ist ein ganz anderer. Oder denken Sie an bestimmte Formen der stereotypen Männlichkeit: Man kann doch fast schon nicht mehr anders, als diese als Inszenierung zu betrachten.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden, vom Bebelplatz aus gesehen.
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