Ein Generationenkonflikt
Erstellt von Redaktion am 9. Januar 2022
„Fragt nach der Macht, emanzipiert euch!“
Das Interview mit Daniela Dahn und Sarah-Lee Heinrich führte Elsa Koester
Daniela Dahn wollte die DDR demokratisieren, Sarah-Lee Heinrich kämpft gegen Ungerechtigkeit. Ein Streitgespräch über Naivität, Scheitern und die Zukunft. Die Idee eines gemeinsamen Gesprächs begeistert Daniela Dahn, 72, und Sarah-Lee Heinrich, 20. Spontan: wie spannend! Die linke Intellektuelle und die Bundessprecherin der Grünen Jugend sagen sofort zu. Die Terminfindung wird kompliziert. Die eine denkt an einen Videocall, die andere geht vom persönlichen Treffen aus, fragt, ob es bei ihr zu Hause ginge, sie meide wegen Corona öffentliche Verkehrsmittel. Ein Generationengespräch inmitten einer Pandemie. Aber wir finden uns, in einem warmen Wohnzimmer tief im Osten Berlins.
der Freitag: Frau Heinrich, wie weit ist für Sie 1989 entfernt?
Sarah-Lee Heinrich: Weit. Der Mauerfall und die ganze DDR waren für mich geschichtliche Ereignisse, von denen ich im Unterricht gelernt habe.
So weit weg wie … 1968?
Daniela Dahn: Viel weiter. Dreißigjähriger Krieg!
Heinrich: Hahaha, ja, fast …
Dahn: Junge Leute interessieren sich nicht für die DDR, weil sich in der Geschichtsschreibung durchgesetzt hat, dass da nichts von Interesse war.
Heinrich: Im Geschichtsunterricht wurde ich misstrauisch, als eine Freundin anfing, über Frauenrechte in der DDR zu recherchieren, und ein Referat hielt. Warum haben wir darüber nicht mehr gesprochen? Ich habe dann mehr erfahren über Polikliniken in der DDR, über das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, über Gleichstellung …
Dahn: Ja, ich komme aus einer Gesellschaft, in der man das Gendern nicht in die Grammatik verlegte, sondern die Berufstätigkeit von Frauen selbstverständlich war – das Wichtigste für Gleichstellung.
Gendern Sie, Frau Dahn?
Dahn: Nein. Das führt nur zu Sexualisierung. Nach der Wende wurde ich von Feministinnen kritisiert, ich hätte eine „maskuline Sprache“. „Ich bin Autor“ – das fand ich emanzipierter, weil es eine Art von Gleichwertigkeit beschreibt, die das Weibliche nicht in eine Substandard-Abteilung auslagert: Es war mir lieber, wenn eine DDR-Frau sagte: „Ich bin Traktorist“, als wenn sie nach der Wende, klüger geworden, sagen musste: „Ich war Traktoristin.“
Heinrich: Das verstehe ich. Gendern ist jedoch eine Frage der Gewohnheit: In meiner Generation denken inzwischen viele nur an Männer, wenn sie das Wort „Autor“ hören.
Dahn: Ich habe nie nur an Männer gedacht, wenn ich so eine Berufsbezeichnung gehört habe. Sondern gleiche Liga, bitte kein Damenprogramm. In modernen Sprachen wie dem Japanischen oder Schwedischen hört man inzwischen auch auf mit diesem unsinnigen Anhängsel.
Heinrich: So sind wir nicht aufgewachsen. Für mich klingt gegenderte Sprache normal, das geht mir flüssig über die Zunge. Aber wenn Frau Dahn andeutet, die Linke tendiere dazu, bestimmte systemische Probleme zu sehr in die Sprache auszulagern – dann kann ich mit dieser Kritik etwas anfangen. Ich komme aus einem Haushalt, der in Armut gelebt hat. Mich mit meiner Mutter darüber zu streiten, welchen Begriff für Berufe sie verwenden soll, kommt mir absurd vor. Ein Hartz-IV-Bescheid, der gegendert ist, hätte uns keine Verbesserung gebracht.
Sind Sie der Meinung, dass jüngere Protestbewegungen gegen Sexismus oder Rassismus die ökonomischen Aspekte sozialer Ungleichheit vernachlässigen?
Dahn: Die letzte starke Bewegung, die soziale Ungleichheit bis in ihre Rechtsform hinein analysierte und dagegen protestierte, war Occupy. Ich habe die Platzbesetzung in New York erlebt. Erst wollte die Bewegung die Börse und Banken blockieren, dann das Wirtschaftssystem, dann kam sie dazu, ein neues Recht formulieren zu wollen: Occupy the Law. Völlig richtig!
Das ist nun zehn Jahre her.
Dahn: Man muss sich fragen: Wo sind die 99 Prozent geblieben? Wie wurden diese und andere Bewegungen zersetzt? Da gab es Diffamierung, weit hergeholte Antisemitismus-Vorwürfe, Probleme bei der Finanzierung, polizeiliche Räumung. Aber auch einen Mangel an klaren Zielen … Bei der jetzt aufbrechenden Generation vermisse ich eine Analyse des Scheiterns vorheriger linker Kämpfe.
Heinrich: Da bin ich bei Ihnen, Frau Dahn: Wie arbeitet Macht? Die Arbeiterklasse wurde in den vergangenen Jahrzehnten ganz gezielt demobilisiert, besonders mit der Agenda 2010. Da stellte sich eine linke Regierung hin und sagte: Deine eigene Leistung muss es reißen, und wenn du es nicht aus Hartz IV schaffst, bist du selber schuld. Diese Ideologie hat gezogen! Ich dachte ganz lange, ich sei schuld an meiner Armut. Erst als ich verstand, dass sie systemisch ist, begann ich zu protestieren!
Wann haben Sie verstanden, dass Ihre Armut die Folge eines Gesetzes war?
Heinrich: Mit 14. Im Schulunterricht haben wir über die Agenda 2010 gesprochen, und ich verstand zum ersten Mal, dass Hartz IV das Ergebnis einer politischen Entscheidung war.
Dahn: Und nicht vom Himmel gefallen.
Heinrich: Genau. Ich hörte von den Protesten gegen die Einführung von Hartz IV und war überrascht: Es gibt noch andere Leute, die dagegen sind! Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nur verstanden, dass meine Rassismus-Erfahrungen politisch sind. Da hat man einen sichtbaren Gegner: Die Person, die einen rassistisch diskriminiert. Bis es mir dämmerte: Auch Armut ist politisch.
Ist das auch den privilegierten Menschen Ihrer Generation klar?
Heinrich: Bei der Grünen Jugend haben wir viele junge Menschen, die aus Haushalten mit akademischem Hintergrund kommen – und gelernt haben, ihre Privilegien zu sehen: Ich bin weiß, ich bin ein Mann, also bin ich privilegiert. Diese Studierenden arbeiten meist in absolut prekären Jobs – tun aber nichts dagegen, weil sie ja davon ausgehen, dass sie privilegiert sind, und sich selbst für diese Prekarisierung beschuldigen!
Dahn: Dieser Jugend fehlt eben die Analyse der Machtverhältnisse.
Heinrich: Es fehlt das Gefühl der Zugehörigkeit zur Arbeiter*innenklasse. Diese prekär arbeitenden Studierenden sind ja kein Unternehmen – sondern sie verkaufen ihre Arbeitskraft!
Jungen Menschen fällt es also schwer, den Interessengegensatz zwischen Arbeiterinnen und Unternehmern wahrzunehmen, weil dieser im Alltag weniger sichtbar ist?
Heinrich: Es stimmt ja auch: Es gibt nicht diesen einen bösen Mann, der Zigarre raucht und die Arbeiter unterjocht. In der Logik des Kapitalismus können alle ihr Recht geltend machen: der Arbeitgeber, der hohe Profite erwirtschaften möchte, und der Arbeitnehmer, der einen hohen Lohn erhalten möchte. Die Ausbeutung dahinter ist verschleiert.
Dahn: Es kommt nicht mehr, wie früher im mittelständischen Betrieb, jeden Tag der Boss durch. Aber dafür kommt doch der Abteilungsleiter. Oder er kontrolliert digital. Wieso ist es denn heute so schwer, die Frage zu stellen: Wem gehört das Ganze?
Häufig gehört es verschiedenen Aktionär*innen …
Dahn: Eher einigen großen, Kleinaktionäre sind die Minderheit. Aber es gibt die kritischen Aktionäre, Belegschaftsaktionäre – per Mausklick gelangt man zu den Eigentümern oder ins aufschlussreiche Aktiengesetz. Mit etwas Mühe kann man die Kapitalisten unserer Zeit sehr wohl sichtbar machen. Und die Folgen ihrer Entscheidungen. Es brennt, es vertrocknet oder wird überschwemmt … In der Klimakrise ist sichtbar, was dieses System anrichtet.
Heinrich: Es gibt doch eine junge Bewegung, die es geschafft hat, Akteure sichtbar zu machen: „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ in Berlin. Die haben gefragt: Wer profitiert davon, dass es uns mit unseren Wohnungen schlecht geht? Sie wollen diese Wohnkonzerne enteignen und vergesellschaften und haben dafür eine Mehrheit bekommen. Das Bewusstsein gegenüber Ungleichheit und kapitalistischer Ausbeutung kommt langsam wieder. In den USA wurde eine junge Generation stark von den Bernie-Sanders-Wahlkämpfen 2016 und 2020 geprägt. Auch ich wurde davon abgeholt.
Dahn: Was hat Sie überzeugt?
Heinrich: Da stehen Hunderttausende Arm in Arm hinter einem Kandidaten, der sagt: Ich stehe hier für die Arbeiterklasse! Was geht, so was gibt’s?! Das hat viele abgeholt. Darunter auch die Klimabewegung in den USA, die dann sagte: Wir gehen dem Unternehmen an den Kragen, und nicht seinen Arbeitern.
Von Fridays for Future fühlen sich in Deutschland vor allem Gymnasiast*innen abgeholt – kaum Auszubildende oder junge Erwerbslose. Woran liegt das?
Heinrich: Es gibt einen Spruch der französischen Gelbwesten: Man kann sich schwer Gedanken machen über das Ende der Welt, wenn man sich Gedanken über das Ende des Monats machen muss. Als Klimabewegung haben wir uns hierzulande über Jahre hinweg sehr konsumkritischen Debatten hingegeben. Es wurde darüber diskutiert, ob man mit Plastikgabeln essen darf oder wie schlimm es ist, einen Kaffee im Pappbecher zu kaufen. Das ist abschreckend. Und wenn der Sprit teurer gemacht wird, ohne dass der Bus häufiger kommt, dann ist nur die Fahrt teurer, und dem Klima bringt es gar nichts. Aber vieles ändert sich. Daher freue ich mich, dass in den USA eine moderne Form der Klassenpolitik im Kommen ist, die es schaffen könnte, verschiedene Kämpfe zu verbinden.
Studien zufolge lehnen mehr als 50 Prozent der jungen Menschen in den USA den Kapitalismus als Wirtschaftssystem ab.
Heinrich: Alexandria Ocasio-Cortez ist eine prominente Vertreterin so einer modernen, klassenbewussten Linken. In unserer Generation ringen wir darum, wieder eine gemeinsame Analyse zu finden, um zusammenzukommen.
Dahn: Ich beobachte dieses Ringen mit Sympathie, muss aber auch sagen, dass ich zum Teil fassungslos bin … Moment, ich hole mal dieses Buch von Extinction Rebellion.
Daniela Dahn geht in ihr Arbeitszimmer und kommt mit dem Buch Wann wenn nicht wir* der Klimaschutz-Organisation zurück.
Dahn: Hier. Ich war baff über das Nebeneinander von richtigen Forderungen bei gleichzeitig völliger Abwesenheit von Überlegungen dazu, ob sie durchsetzbar sind. Das soll mit Liebe und Altruismus gehen, aber wo bleibt die politische Analyse der Macht? Oder hier, das Buch vom Jugendrat der „Generationen Stiftung“: Ihr habt keinen Plan, darum machen wir einen!
Haben Sie keinen Plan, Frau Dahn?
Dahn: Genau: Wir sind die Generation, die alles versaubeutelt hat. Und jetzt kommt die junge Generation und bringt den Plan. Diese Anmaßung finde ich erst mal völlig in Ordnung. Aber sie birgt Probleme in sich: Da findet keine Analyse vorangegangener Pläne statt, so als würde man bei null anfangen. Und dann kommen Forderungen – die ziehen mir die Schuhe aus! „Bis 2022 Erstellen eines Zukunftsszenarios für eine generationsgerechte Wirtschaft durch die Bundesregierung“. Durch die Bundesregierung?! Und zwar sofort? Ja, geht’s noch? Hat man denn überhaupt kein Bewusstsein dafür, dass im bürgerlichen Staat die Regierung durch den „Code des Kapitals“, wie etwa die Juristin Katharina Pistor analysiert, gesetzlich verpflichtet ist, Privateigentum zu schützen – und nicht eine neue, „gerechte Wirtschaft“?
Sie finden das naiv?
Dahn: Hochgradig unwissend. Ich habe mal den Koalitionsvertrag der Ampel danebengelegt. Von den 100 sehr berechtigten Forderungen aus dem Buch sind fünf beachtet. Bei sehr gutem Willen!
Also, Frau Heinrich: Wo bleibt die Rebellion?
Heinrich: Eine der Autorinnen hat nach diesem Buch ein zweites geschrieben, Franziska Heinisch: Wir haben keine Wahl. Ein Manifest gegen das Aufgeben. Darin stellt sie fest, dass diese Forderungen nichts bringen, wenn wir keinen Weg finden, sie durchzusetzen. Es geht dann um das Organisieren von Menschen von unten: Organising. Diese Prozesse finden in der jungen Linken gerade statt.
Das behauptet die junge Linke, seit ich sie kenne. Ein Ausdruck der Hilflosigkeit.
Heinrich: Wieso das denn?
Moment, wieso bin jetzt ich in der Rolle der altklug Daherredenden, die war doch Frau Dahn zugedacht! Aber ich habe 2010 viel Hoffnung in einen Organising-Versuch am Jobcenter in Berlin-Neukölln gesteckt, der kläglich scheiterte – wie viele andere.
Heinrich: Was ist denn dann die Antwort auf unsere soziale und politische Situation? Das Einzige, was wir in den gesellschaftlichen Machtverhältnissen auf unserer Seite verbuchen können, ist die Tatsache, dass wir im Vergleich zur Kapitalfraktion einfach mehr Menschen sind, die von einer Politik profitieren würden, die nicht profitorientiert handelt.
Quelle : Der Freitag-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Twitter – Sarah Lee
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Unten — Berlin, 09.12.12 Szenische Lesung über „Stefan Heym – Einer,der nie schwieg“ im Palais am Festungsgraben. Mit Daniela Dahn.. Foto. Ulli Winkler
Abgelegt unter Berlin, Debatte, Kultur, P.Die Grünen | Keine Kommentare »