Erstellt von Redaktion am 19. Dezember 2021
Eine deutsche Besonderheit
Samuel Hahnemann, Organon der rationellen Heilkunde, Erstausgabe 1810, Einleitung
Von Christian Jakob
In den deutschsprachigen Ländernherrscht eine vergleichsweise große Impfskepsis. Das ist auf die Romantik zurückzuführen – aber auch auf Politikversagen.
Ende November schrieb der Verschwörungstheoretiker und AfD-Unterstützer Oliver Janich, was die Notwehr angesichts der drohenden Impfpflicht seiner Meinung nach gebiete: „Jeder Mensch hat das Recht, einen Polizisten über den Haufen zu schießen, der einen zur Zwangsimpfung schleppt.“ Dazu postete er das Foto einer Pistole. Schließlich gehe es hier „um den größten Massenmord in der Geschichte der Menschheit“.
Janichs Telegram-Nachrichten abonnieren 160.000 Menschen, die Coronaproteste haben die Followerzahlen von Hetzern wie ihm explodieren lassen. Trotz der teils enormen Reichweite sind Menschen wie Janich auch unter den „Querdenkern“ eine Minderheit. Doch der Resonanzraum für Impfangst, die zu befeuern sie sich zum Geschäftsmodell machen, ist groß. Und in deutschsprachigen Ländern ist dieser Raum größer als anderswo.
Beim Impfen stehen diese Länder weit hinten. Unter den 17 westeuropäischen Staaten waren Deutschland, Österreich und die Schweiz am 9. Dezember bei den zweitgeimpften Volljährigen auf den Plätzen 13, 16 und 17. Das Virus breitete sich hier zuletzt aus wie in nur wenigen anderen Regionen der Welt.
Woran liegt das? Gibt es etwas spezifisch Deutsches, das die Angst vor der Spritze erklärt? Als sich im November zeigte, dass die niedrige Impfrate mit einer besonders heftigen vierten Welle einhergeht, schrieb der Spiegel-Journalist Mathieu von Rohr, dies seien die „Spätfolgen der deutschen Romantik: Anthroposophie, Homöopathie, Impfgegnertum“. Eine Hochburg der Schwurbelei also, wo Spitzenforschung und Antirationalismus eng beieinander sind? Oder sind die Gründe banaler? Hat schlechtes politisches Handwerk der Impfkampagne den mageren Erfolg beschert?
Mit dem Falter in Wien und der WOZ in Zürich ist die taz der Frage nachgegangen, ob die Impfskepsis eine Folge der deutschen Geistesgeschichte ist. Die Antworten von Fachleuten aus Geschichtswissenschaft, Soziologie, Gesundheitspsychologie und Demoskopie zeigen: Den einen Grund für Impfskepsis gibt es nicht – ebenso wenig, wie es eine homogene Gruppe von Skeptikern gibt. Nicht alle Anthroposophen sind gegen die Impfung, nicht alle Impfgegner sind Esoteriker oder Rechtsextreme – auch wenn diese Gruppen die Proteste maßgeblich organisieren. Und: Neben historisch-kulturellen Faktoren sind auch ganz handfeste Gründe für die Impfmisere verantwortlich.
Der Journalist Andreas Speit, der auch für die taz schreibt, hat jüngst das Buch „Verqueres Denken – Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus“ herausgebracht. Es trifft einen Nerv: „Ich halte gerade ungefähr einen Vortrag pro Tag.“ Speit pflichtet von Rohrs These bei. Es gebe im deutschsprachigen Raum eine „klare geistesgeschichtliche Linie zwischen der Romantik und der Impfskepsis heute“, sagt er. In der romantischen Literatur sei „das Natürliche unglaublich verklärt und verabsolutiert“ worden. Bei Schiller etwa heißt es: „Selig muß ich ihn preisen, der in der Stille der ländlichen Flur, fern von des Lebens verworrenen Kreisen, kindlich liegt an der Brust der Natur.“ Der Dichter Novalis schrieb: „Der Poet versteht die Natur besser wie der wissenschaftliche Kopf.“
Novalis , Heinrich von Ofterdingen, 1802, zweites Kapitel – „Ich weiß nicht, aber mich dünkt, ich sähe zwei Wege um zur Wissenschaft der menschlichen Geschichte zu gelangen. Der eine, mühsam und unabsehlich, mit unzähligen Krümmungen, der Weg der Erfahrung; der andere, fast ein Sprung nur, der Weg der inneren Betrachtung.“
Das sind harmlose Sätze, keine Frage. Doch die Romantik habe – anders als in anderen Ländern – im deutschsprachigen Raum politischen Einfluss bekommen, sagt Speit. Sie beförderte eine Mystifizierung der Natur und Respiritualisierung des Denkens, die eine Distanz zur vermeintlich kalten Wissenschaft und sogenannten schulischen Medizin bewirken kann. Diese Position spitzte sich in der modernisierungskritischen Lebensreformbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts zu. Einer ihrer bekanntesten Vertreter: der österreichische Begründer der Anthroposophie und der Waldorf-Pädagogik, Rudolf Steiner.
Die Lebensreformer sehnten sich nach der Wiederherstellung eines Einklangs mit der Natur. Diese antimoderne Bewegung habe laut Speit „zu Recht die Moderne in ihren Auswüchsen kritisiert. Denn die wirkte sich damals ja tatsächlich dramatisch aus, etwa in Form des Börsencrashs und der Umweltzerstörung“. Doch eine Folge war eine „radikale Abkehr von der Aufklärung“.
Ein Antimodernismus also, für den die Entzweiung von Mensch und Natur nur als Werk eines äußeren Feindes vorstellbar ist. Bis heute werde das Versprechen der Moderne, mit Rationalität und Logik eine bessere Welt aufzubauen, deshalb „von der Rechten bekämpft“, sagt Speit. Sie halte gleichsam an der Vorstellung einer zu verteidigenden ursprünglichen Einheit von Volk und Natur fest.
Wie aber konnten Ideen aus dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart überdauern? Und sind sie mitverantwortlich dafür, dass in Thüringen heute „Gib Gates keine Chance“-Schilder an der Straße stehen, als wollten die Anwohner böse Geister vertreiben?
JUTTA DITFURTH, SOZIOLOGIN – „Die Aufklärung hatte große Mühe in Deutschland“
Die ehemalige Grünen-Politikerin und Soziologin Jutta Ditfurth erforscht die deutschen Esoteriker seit Jahrzehnten. Dass die Romantik hier politisch wirksam werden konnte, habe mit der Abwehr der aus Frankreich kommenden Aufklärung zu tun, sagt sie: „Die Aufklärung kam aus Frankreich und hatte große Mühe in Deutschland.“ Im 19. Jahrhundert sei das Land rückschrittlich und durch die Agrarwirtschaft geprägt gewesen. „Es ist heute schwer vorstellbar, wie sehr deutsche Eliten im ländlichen Raum die Aufklärung und die französische Revolution hassten.“
Zu diesen Eliten zählt auch Ditfurths eigene Verwandtschaft – großgrundbesitzender Adel aus Preußen. „Wenn ich Briefe meiner Verwandten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert lese, dann war ihr Schreckgespenst eine Revolution wie die französische, der Albtraum, als herrschende Klasse zu stürzen“, sagt Ditfurth. Diese Eliten hätten Deutschlands intellektuelle Entwicklung lange aufgehalten, auch wegen ihres Antisemitismus. So sei ein geistiges Klima entstanden, das auch die Wandervogel- und Lebensreformbewegung erfasst habe mit Wissenschaftsfeindlichkeit, Eugenik, Naturreligiosität, völkischem Denken. Ditfurth sagt, dass Mystizismus, Irrationalismus und Antisemitismus als reaktionären Anteile alternativen Denkens bis heute fortwirken. „Auch so kommt es zur Weitergabe von antisemitischen Bildern, die man tief im Mittelalter vergraben glaubte.“
Auch Speit verweist darauf, dass die Kritiker der Moderne diese schon sehr früh als „jüdisch“ begriffen und sich deshalb auch gegen die moderne, angeblich „jüdische“ Schulmedizin stellten. Der österreichische Publizist Christian Kreil führt den Begriff auf Samuel Hahnemann, den Begründer der Homöopathie, zurück.
Die Nazis hatten in der Tat großes, auch wirtschaftlich bedingtes Interesse an Alternativmedizin. Reichsärzteführer Gerhard Wagner betonte 1933 die „Überlegenheit“ der Alternativmedizin gegenüber der „verjudeten Schulmedizin“. Um dieser die Homöopathie entgegenzusetzen, gründeten die Nazis 1935 die „Reichsarbeitsgemeinschaft Neue Deutsche Heilkunde“. Deren Mitglieder waren unter anderem der „Deutsche Zentralverein homöopathischer Ärzte“, der „Reichsverband der Naturärzte“ und die „Vereinigung anthroposophischer Ärzte“. 1933 zeigt das NS-Propagandablatt Der Stürmer die Karikatur einer blonden Mutter mit Baby im Arm. Daneben steht ein „naturferner und verirrter Mediziner“ mit einer Spritze in der Hand. Mit der Hakennase des Arztes erfüllt die Karikatur klar antisemitische Klischees. Skeptisch blickt die Mutter auf den Mediziner: „Es ist mir sonderbar zumut, denn Gift und Jud’tut selten gut.“
Im Zusammenhang mit Impfungen habe der Antisemitismus eine lange Geschichte, sagt der Medizinhistoriker Malte Thießen, der am Institut für Regionalgeschichte Münster und an der Universität Oldenburg forscht. Das Impfen werde teils als „Verschwörung einer Elite“ begriffen, die in den Körper eingreift.
Die bis heute anhaltende Ablehnung der „Schulmedizin“ sei „eine deutsche Besonderheit, die klar auf die Romantik zurückzuführen ist“, sagt Andreas Speit. Man sehe dies etwa daran, dass es Heilpraktiker als staatlich geregeltes Berufsbild nur in Deutschland (NS-Heilpraktikergesetz von 1939) und Teilen der Schweiz gibt. Die alte Bundesregierung erwog die Abschaffung des Berufs, die Querdenker-Partei „Die Basis“ behauptet, die einzige Partei zu sein, die sich gegen die Abschaffung einsetze. „Die Menschen möchten frei entscheiden, welchen Therapeuten sie aufsuchen. Sie wünschen sich ein Miteinander von traditionellen und konventionellen, schulmedizinischen Therapien“, heißt es auf ihrer Website.
Jutta Ditfurth schrieb 1996 in ihrem Buch „Entspannt in die Barbarei“, die Esoteriker würden „ein Teil der Massenbasis künftiger faschistischer Bewegungen sein“. Damals hätten ihr alle gesagt: „ ‚Übertreib nicht.‘ “ Heute zeige sich die geistige Nähe. Waldorf-Pädagogen treten als Redner auf Querdenker-Demos auf. Der ehemalige Waldorf-Ausbilder Christoph Hueck etwa gilt als Vordenker der Szene. Der Bund der Freien Waldorfschulen allerdings distanziert sich ausdrücklich von ihm. Der Ulmer Waldorf-Lehrer Wilfried Kessler verglich als Demo-Redner Querdenker mit NS-Widerständlern. Anthroposophen seien heute eine „tragende Größe in der Corona-Querfront“, sagt Ditfurth.
Ist also eine jahrhundertealte ideologisch abgedriftete Liebe der Deutschen zum Wald daran schuld, dass heute Millionen lieber eine lebensgefährliche Covid-19-Erkrankung riskieren, als sich impfen zu lassen? So einfach sei es natürlich nicht, sagt der Medizinhistoriker Thießen. „Man neigt dazu, in Schwarz-Weiß-Muster zu fallen: Impfskeptiker werden schnell als rechte Aluhut-Spinner abgetan.“ Es gebe aber noch andere Motive.
Thießen unterscheidet elf Arten von Impfskepsis. Bei Weitem nicht alle ließen sich auf die Romantik zurückführen. Eine Rolle spiele etwa auch die starke liberale Tradition in Deutschland, wegen der in Preußen bis 1874 eine Impfpflicht abgelehnt wurde. „Es geht da auch um die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen: Wer bestimmt über den Körper?“, sagt Thießen.
Die Soziologin Nadine Frei von der Universität Basel hat mit ihrem Kollegen Oliver Nachtwey die Coronaproteste für die Böll-Stiftung untersucht. Frei spricht – ähnlich wie Thießen – von einem „libertären Freiheitsverständnis“ der Impfgegnern. Dieses hätten solche mit einem anthroposophischen Hintergrund ebenso wie ein bildungsbürgerliches Milieu, in dem Eigenverantwortung und Selbstbestimmung „fast schon absolut gesetzt“ werde.
Friedrich Schiller, Wallensteins Tod, 1799. 3. Akt. 9. Auftritt – “ Wo die Natur aus ihren Grenzen wanket, da irret alle Wissenschaft.“
An Waldorfschulen würde häufig gar nicht anthroposophisch argumentiert. Stattdessen heiße es: „Der Staat hat hier nichts zu suchen, das ist der Ort, den ich hier gestalte“, sagt Frei. „Das ist auch eine Motivation von Eltern, die ihre Kinder auf Waldorfschulen schicken: die selbstbestimmte Struktur.“ Die dominierende Einstellung, „der Staat habe einem nichts zu sagen“, könne sich vor allem die Mittelschicht leisten: „Wenn ich schön in meinem Homeoffice sitze und keinem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt bin, ist es schön und gut, wenn ich sage, ich kann mich einfach gesund ernähren und Corona macht mir nichts aus.“ Frei kommt zu dem Schluss, dass die Coronademos in Westdeutschland ein „akademischer Mittelschichtsprotest“ seien – getragen von „anthroposophisch-esoterischer Ablehnung von Impfungen“. Eine „monokausale“ Erklärung gebe es aber nicht.
Zu den Protesten in Ostdeutschland gebe es grundlegende Unterschiede, heißt es in ihrer Studie. Dort seien die Proteste „stärker von der extremen Rechten geprägt und tragen deutlich weniger esoterische und anthroposophische Züge“.
Die AfD habe im Osten die mitunter starke Entfremdung vom politischen System erfolgreich mit einer Impfskepsis verbinden können. „Somit hat sich aus unterschiedlichen soziokulturellen Quellen in Baden-Württemberg und den neuen Bundesländern eine ähnliche Dissidenz gegenüber der Pandemiepolitik herausgebildet.“
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — (Dr.Christian Friedrich Samuel Hahnemann (Gemeinfrei, gemeinfrei) {{Bild-GFDL}})
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2.) von Oben — zeitgenössisches Gemälde von Novalis (1772-1801), eigentlich Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg, war ein deutscher Schriftsteller der Frühromantik, Philosoph und Bergbauingenieur. Maler unbekannt (?)