Häusliche Notgemeinschaft
Erstellt von Redaktion am 8. Juli 2021
Mehr als 300.000 Pflegebedürftige werden von ausländischen HelferInnen zu Hause betreut
Von Barbara Dribbusch
Die Jubelrufe zum Urteil lösen in manchen Pflegehaushalten Beklemmungen aus. Das Bundesarbeitsgericht hat geurteilt, dass in einen Privathaushalt entsandte ausländische Betreuungskräfte Anspruch auf gesetzlichen Mindestlohn haben – auch für den „Bereitschaftsdienst“. Als Bereitschaftsdienst gilt, wenn die Betreuungskraft im Haushalt mitwohnt und dabei rund um die Uhr verfügbar ist.
Im Klartext bedeutet das, dass die im Haushalt mitwohnende Betreuungskraft bei einer nahezu 24-Stunden-Bereitschaft zum Stundenlohn von 9,60 Euro auf einen Bruttolohn von fast 7.000 Euro im Monat kommen müsste. Das kann kaum ein Pflegebedürftiger bezahlen.
Als „wegweisend und richtig“ bezeichnete Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) das Urteil. Der Deutsche Gewerkschaftsbund sprach von einem „Paukenschlag“ gegen „ausbeuterische Geschäftsmodelle“.
Wer eine durch einen Schlaganfall gezeichnete Mutter oder einen Vater hat, die zu Hause durch eine Betreuerin aus dem EU-Ausland versorgt wird, bekommt bei diesen Lobreden Schweißausbrüche. Schätzungsweise mehr als 300.000 pflegebedürftige Menschen werden von ausländischen HelferInnen zu Hause betreut. Dabei spielt das Lohngefälle zwischen den EU-Ländern Richtung Osten eine Rolle. Es stimmt aber nicht, dass es sich hier immer um schlimmste Ausbeutungsverhältnisse handelt. Die häusliche Betreuung ist vielmehr eine Notgemeinschaft der Schwachen.
Die mitwohnenden Betreuerinnen können durchaus selbst bestimmen, ob und wie sie arbeiten möchten. Die Frauen (und wenige Männer) bleiben in der Regel ein bis drei Monate und gehen dann wieder im sogenannten Wechselmodell für eine Weile in die Heimat zurück. Dabei macht es einen Unterschied, ob die BetreuerInnen aus einem EU-Land kommen oder als Illegale ohne Arbeitsvisum aus einem Drittstaat.
Die Situationen vor Ort sind zudem sehr unterschiedlich: Es gibt SchlaganfallpatientInnen, die nachts durchschlafen. Sie brauchen jemanden im Haus, der beim Waschen, beim Anziehen, beim Toilettengang, beim Essen hilft, vielleicht einen Spaziergang macht. Hat die Betreuerin dann Sozialversicherungsschutz im Herkunftsland, hat sie, wie heute von Vermittlungsagenturen verlangt, ein eigenes Zimmer mit WLAN-Anschluss zum Skypen mit der eigenen Familie, jeden Tag etwas Freizeit ohne Bereitschaft, jede Woche mindestens einen Tag frei und nach acht Wochen wieder eine lange Pause in der Heimat, helfen die Angehörigen der Pflegebedürftigen mit, dann ist der Deal okay für alle Beteiligten.
Oft aber läuft es anders: Verwirrte SeniorInnen, die nachts umherirren, und Familien, die eine billige Putzfrau und Köchin suchen und sich vor Ort nicht blicken lassen, Betreuerinnen, die ohne Vernetzung und ohne Sprach- und Vorkenntnisse in einen solchen Haushalt geraten sind. Eine baldige Abreise können sich jedoch nur Betreuerinnen aus einem EU-Land leisten, die Deutsch sprechen und sich ihre KundInnen aussuchen können. Wer aus Drittstaaten wie der Ukraine kommt und illegal in Deutschland arbeitet, hat es hingegen schwerer.
Heikel ist die Care-Arbeit dennoch für alle: Die Abgrenzung von Arbeits- und Ruhezeiten ist ein Problem, auch die hohen Summen, die Zeitarbeitsfirmen und Vermittlungsagenturen verlangen. Bei einem Unternehmen, das freiberufliche Pflegerinnen vermittelt, werden 2.500 Euro im Monat vom KundInnen verlangt, die oder der Pflegende bekommt nur 1.600 Euro und muss davon noch die Alterssicherung und einen Teil des Krankenversicherungsschutzes bezahlen. 90 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse, schätzen Experten, seien ohnehin Schwarzarbeit mit den verschiedensten Konstruktionen vom scheinbaren Minijob bis zu direkter Barzahlung.
Man kann diese Care-Arbeit insgesamt verdammen. Aber das globale Jobnomadentum nimmt zu und der Bedarf an Hilfskräften in Haushalten ebenso, bedingt durch die Demografie und die doppelte Erwerbstätigkeit in vielen Familien, die noch dazu fern der alten Eltern leben. Hunderttausende Pflegebedürftige in Heimen zu betreuen, die ja auch 2.000 Euro Eigenanteil verlangen, wäre zudem wegen des Heimplatzmangels gar nicht machbar.
Quelle : TAZ -online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Altenpflege durchgeführt von einem Zivildienstleistenden in München
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