Acht Meter tief Geschichte
Erstellt von Redaktion am 14. Februar 2021
Seit mindestens 1.700 Jahren gibt es jüdisches Leben in Köln
Aus Köln von Klaus Hillenbrand
In Köln begann alles. Mitten in der Stadt schaufeln derzeit Archäologen das alte Judenviertel aus. Ein Besuch in der wohl spannendsten Grube der Republik
Ein ockerfarbenes Stück Stein befindet sich in einem Klarsichtbeutel, es ist vielleicht zwei Zentimeter groß. „Wandputz“ steht auf dem Etikett der Tüte, darunter Angaben zum Fundort im Nordwesten des Grabungsgeländes. Hunderte solcher Plastikbeutel lagern in einer Kunststoffwanne, Hunderte solcher Kunststoffwannen stehen in hohen Regalen. Größere Fundstücke wie ein Säulenkapitell sind einzeln verpackt. Wie viele Objekte hier lagern? „Vielleicht 300.000“, schätzt Grabungsleiter Michael Wiehen.
Der junge Archäologe hebt eine der Wannen aus einem Regal und packt eines seiner „Lieblingsobjekte“ aus, wie er sagt. Zum Vorschein kommt ein etwa 30 Zentimeter langer zylinderförmiger Stein, der einer Säule ähnelt. Er ist das Ergebnis eines natürlichen Prozesses, erklärt Wiehen. Es handelt sich um Kalkablagerungen aus einer römischen Wasserleitung, die einst die Stadt mit Frischwasser aus der Eifel versorgte. Aquäduktenmarmor wird das ausgesprochen harte Material genannt, das auch selbst verbaut wurde.
Wir befinden uns im Kellergeschoss des Kölner Rathauses; über uns eine Betondecke, darüber ein profaner Neubau aus der Nachkriegszeit. Wiehen sperrt die Tür des Magazins auf. Dahinter verbirgt sich ein Gewölbe aus dem 12. Jahrhundert, in der Mitte abgestützt durch eine romanische Säule. Über diesem Keller stand einst ein von Juden bewohntes Haus, das im späten Mittelalter der Erweiterung des Rathauses zum Opfer fiel. Teile des Rathauses wiederum wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Der Keller ist geblieben.
Es dürfte derzeit in Deutschland keine spannendere Baustelle geben: Mitten in der Kölner Altstadt an der Judengasse gräbt ein Team von Archäologinnen und Archäologen seit bald 14 Jahren ein ganzes Stadtviertel aus – an dem Ort, an dem im Mittelalter die Juden von Köln lebten. In einigen Jahren werden Besucher durch die historischen Keller und Gebäude laufen können. Sie werden die Synagoge aus dem frühen 11. Jahrhundert entdecken können, in die Mikwe, das rituelle jüdische Tauchbad, hinuntersteigen, aber auch auf die Überbleibsel des römischen Statthalterpalastes stoßen.
Über ihnen werden sich die Räume des Jüdischen Museums von Köln erheben, das dem jüdischen Leben in der Stadtgeschichte gewidmet sein soll. „MiQua“, so soll das Museum über dem Ausgrabungsfeld heißen. Die Bezeichnung leitet sich aus der Abkürzung von „Museum im archäologischen Quartier“ ab. Sie erinnert aber auch an die Mikwe – kein Zufall, zählt das Tauchbad doch zu den herausragenden Ausstellungsobjekten.
Die Eröffnung des Museums ist für 2025 geplant. Doch schon in diesem Jahr wird ein Jubiläum groß gefeiert: Seit mindestens 1.700 Jahren gibt es jüdisches Leben in Deutschland. Es begann hier in Köln.
Das belegt ein Dekret des römischen Kaisers Konstantin. In dem Schreiben vom 11. Dezember 321 antwortet er auf eine Nachricht aus Köln: „Durch reichsweit gültiges Gesetz erlauben wir allen Stadträten, dass Juden in den Stadtrat berufen werden. Damit ihnen [den Juden] selbst aber etwas an Trost verbleibe für die bisherige Regelung, so gestatten wir, dass je zwei oder drei […] aufgrund dauernder Privilegierung mit keinen [solchen] Berufungen belastet werden.“ Es ist der Beweis, dass Juden damals in Köln lebten.
Um das Dekret zu verstehen, muss man wissen, dass das Amt des Stadtrats damals eine kostspielige und unbeliebte Angelegenheit war – für die Räte selbst. Denn sie mussten für die Steuereinnahmen der ihnen unterstellten Einwohner bürgen und Fehlbeträge aus ihrer Privatschatulle begleichen, so auch in der „Colonia Claudia Ara Agrippinensium“, wie Köln damals hieß. Das, was auf den ersten Blick wie eine Gleichstellung der Juden wirkt – deren Berufungsmöglichkeit in den Stadtrat –, markiert in Wahrheit also das Ende eines Privilegs.
Von einer jüdischen Gemeinde ist in dem Dekret nicht die Rede. Allerdings argumentieren Historiker, aus dem Schreiben gehe hervor, dass es damals in Köln wohlhabende Juden gegeben haben muss, denn nur für sie kam eine Berufung in den Stadtrat überhaupt infrage. Dann dürfte es auch ärmere Angehörige der Minderheit gegeben haben. Vermutlich hat eine größere Gruppe, eine Gemeinde, dort gewohnt. Und diese Gemeinde lebte wohl schon länger in der römischen Stadt, wahrscheinlich schon seit dem ersten Jahrhundert nach Christus, als die aus Palästina vertriebenen Juden in das ganze römische Weltreich emigrieren mussten.
Allerdings sagt der Archäologe Thomas Otten: „Eine Siedlungskontinuität von der Antike bis zum Mittelalter lässt sich nicht nachweisen.“ Zwar seien vereinzelt jüdische Objekte aus der Römerzeit in Deutschland gefunden worden, etwa in Augsburg eine Öllampe mit dem Bild einer Menora, des siebenarmigen Leuchters. Der Kölner Boden hat aber nichts dergleichen ausgespuckt. Es lasse sich auch nicht nachweisen, dass in der Merowingerzeit – in den sogenannten dunklen Jahrhunderten nach dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft – Juden in Köln ansässig waren, sagt Otten, auch wenn das wahrscheinlich ist. Nur das Dekret von 321 belegt ihre Anwesenheit schon vor dem zweiten Jahrtausend.
Der Platz vor dem Rathaus ist mit einem Bauzaun abgesperrt. Die Bodenplatte für das künftige Museum wurde schon in großen Teilen gegossen. Darunter sind immer noch Archäologen mit der Sicherung von Artefakten beschäftigt, ausgestattet mit gelben Warnwesten und roten Bauhelmen. Einer von ihnen ist Gary White, der stellvertretende Stabsleiter der archäologischen Zone. Der gebürtige Brite hat in Deutschland Archäologie studiert und ist geblieben. Er erklärt, dass an einigen Stellen noch gegraben wird, während anderswo die Vorbereitungen für den Neubau des Museums weitergehen. White weist auf einen der beiden Fahrstuhlschächte, die in den Himmel wachsen. Unmittelbar daneben sind die Überreste einer römischen Therme zu erkennen. „Das war Millimeterarbeit“, sagt er, „der Fahrstuhl durfte die Therme nicht beschädigen.“
Es ist ziemlich einmalig, dass mitten in einer Stadt derart großflächige archäologische Grabungen stattfinden können. Nach den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs, dem die Kölner Altstadt fast vollständig zum Opfer fiel, entschied die Stadt, das Gelände am Rathaus nicht mehr neu zu bebauen. Stattdessen entstand ein Parkplatz. Schon damals fanden Grabungen statt, die einen Teil des römischen Statthalterpalastes und die Mikwe, das Tauchbad, zum Vorschein brachten.
Als die neuen Grabungen 2007 begannen, stießen die Archäologen in den aufgefüllten Kellergewölben der im Krieg zerstörten Häuser auf die erste Schicht Geschichte: die Trümmer aus der Kriegszeit. Einen ganzen Topf Soleier haben sie geborgen, erinnern sich Gary White und Michael Wiehen. Glühbirnen, zwei Zahnprothesen nebst Wassergläsern. Es fanden sich verkohlte Zeitungsreste, zertrümmerte Möbelstücke, Porzellan und ein wertloser „Münzschatz“, bestehend aus 2-Mark-Geldstücken aus der Nazizeit.
Die Archäologen bargen aber auch einen Sederteller mit einem Davidstern. Einen solchen Ritualgegenstand benutzen Juden beim Pessachfest in Erinnerung an den Exodus. Wie er 1943 zwischen die Kriegstrümmer geraten ist, vermag niemand zu sagen. War er das Beutestück eines christlichen Kölners, erstanden auf einer der Versteigerungen von geraubtem Eigentum? Juden gab es damals in der Altstadt nicht mehr. Sie waren schon ab 1941 zusammengetrieben worden, zunächst in „Judenhäuser“, dann in das Sammellager im Vorort Müngersdorf, schließlich in die Messehallen, wo sie auf ihre Deportation in den Tod warten mussten, ab dem Bahnhof Deutz-Tief in Richtung Osten. In die Gettos und Vernichtungslager. Fast 6.000 jüdische Kölner sind damals verschleppt worden, nur wenige von ihnen haben überlebt.
Auch die ab 1890 errichtete Synagoge der Jüdischen Gemeinde Köln in der Roonstraße außerhalb des Zentrums ist in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 von den Nationalsozialisten gebrandschatzt und verwüstet worden. Im April 1945 fanden in den Trümmern wieder erste Gottesdienste statt. Nur wenige Juden waren da zurückgekehrt, manche hatten die Verfolgungen im Versteck überlebt.
Das Gotteshaus wurde wiederaufgebaut; gewaltig und in der Formensprache fast einer Kirche gleich. Der Innenraum ist schlicht gehalten, mit geweißten Wänden und Mosaiken in den Fenstern. Große Tafeln erinnern im Eingang zum Betsaal an die Opfer während der NS-Zeit.
Über 20.000 Jüdinnen und Juden lebten um 1930 in der Rheinmetropole. Knapp ein Viertel davon sind es heute wieder, berichtet Abraham Lehrer, der im Vorstand der Gemeinde sitzt und auch als Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland fungiert. „Ein bisschen stolz“ auf 1.700 Jahre jüdische Geschichte in Köln sei er schon, sagt Lehrer am Telefon, aber das mache die Kölner Juden nicht zu einer besseren Gemeinde. Dem 66-Jährigen ist vor allem wichtig, dass die „mittelgroße Gemeinde“ wieder über eine fast komplette Infrastruktur verfügt, mit Begegnungszentrum, Seniorenheim und Kindertagesstätte. Nur ein jüdisches Gymnasium fehle noch, aber „daran arbeiten wir“.
Mit den Archäologen, die das einstige jüdische Viertel in der Altstadt ausgraben, ist die Gemeinde in engem Kontakt. Die Pläne für das Museum begrüße er, sagt Lehrer, „weil dort nicht ein Shoah-Museum entstehen soll, sondern ein Museum für jüdisches Leben, um Vorurteile abzubauen.“ Lehrer möchte im Jubiläumsjahr weniger an die Verfolgung erinnern, sondern eher das Positive betonen, er will auch das jüdische Leben von heute zeigen.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Rathaus (Town Hall), Köln. Photo taken from SW
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2.) von Oben — Archäologische Zone Köln – Grabungen nördlich der Rathauslaube
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