Die Grünen mit Ziel in 2021:
Erstellt von Redaktion am 8. Januar 2021
Im Wahlkampf 1997/98 prognostizierten die US-Politologen Andrei Markovits und Philip Gorski, die Grünen würden eines Tages die SPD – und die 68er Linke – überflügeln, wenn sie denn ihren Frieden mit dem Westen, der EU und Nato machten, Demokratie und Menschenrechte, Republikanismus und Multiethnizität voranstellten – und ein unbefangenes Verhältnis zur liberalen deutschen Demokratie als freundlichem Hegemon Europas gewännen. Dann werde Grün die autoritär geprägte Linkspartei, damals noch PDS, aber auch die staatstragend-jugendfreie SPD schlagen. Ein Vierteljahrhundert und einen ersten virtuellen Parteitag später ist festzuhalten: Die Grünen haben unter Annalena Baerbock und Robert Habeck alle genannten Bedingungen erfüllt. Sie agieren als westlich-demokratische Partei, die eindeutig auch militärische Aktivitäten befürwortet, um Demokratie und Menschenrechte zu schützen. Sie setzen auf Republikanismus und Multiethnizität und bilden den libertären Gegenpol zur autoritären AfD. Gleichzeitig haben sie ihren Frieden mit Bundeswehr und Polizei gemacht, fordern aber zugleich als beste Sicherheitspolitik eine bessere Bildungs- und Sozialpolitik. Damit haben sie auch ihre soziale Flanke geschlossen und treten offensiver auf als die SPD: keine Sanktionen bei Hartz IV, Bürgergarantie als abgeschwächtes Grundeinkommen, Kindergrundsicherung und zwölf Euro Mindestlohn.
Die Ökonomie wollen die Grünen gemeinsam mit der Wirtschaft in eine sozial-ökologische Richtung transformieren – und sie unterstützen auch deshalb den „Green Deal“ der EU. Ihr Multilateralismus und ihre EU-Treue rühren aus der Überzeugung, die großen Herausforderungen – Agrar- und Energiewende, Digitalisierung, grüner Umbau, Klimawandel- und Ungleichheitsbekämpfung – seien nicht mehr national zu lösen. Und sie sehen Deutschland als Vorkämpfer gegen die autoritär-rechtspopulistische Welle in der EU.
Auf ihrem Kerngebiet schließlich, der Umwelt- und Klimapolitik, weist ihnen ohnehin eine Mehrheit die größte Kompetenz zu. Mit alledem haben sich die Grünen als zweitstärkste Kraft im Parteienspektrum etabliert und die SPD längst überholt. Sie haben viele Großstädte im Westen und auch einige im Osten ergrünen lassen, regieren in elf von 16 Ländern mit und sind auf dem Weg zur grünen Volkspartei.
Allerdings gibt es dabei ein nicht ganz kleines Problem: Angesichts der unaufhaltsamen Schwächung der SPD als Juniorpartner Merkels schien es, als könnten sich die Grünen regelrecht zur Macht schleichen. So etablierte sich auch bei den Grünen ein „juste milieu“ der smarten Schwiegersohntypen, das vor allem in wohlhabenden Südländern wie Hessen und Baden-Württemberg eine überaus wirtschaftsfreundliche Versöhnung von Ökonomie und Ökologie vorexerzierte. (Stilbildend dafür war der langjährige Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon, der prompt vor Kurzem eine herbe Niederlage einstecken musste.) Kurzum: Hier wurde das Bündnis mit der CDU vorstrukturiert, das in einem Jahr auch auf Bundesebene folgen soll.
Genau das lässt die Grünen jetzt heftig mit neueren sozialen Bewegungen wie Fridays für Future oder radikaleren Umwelt- und Tierschützern aneinandergeraten. Denn: Die Grünen wurden so selbst zum Establishment, das für kleine Leute ohnehin schon immer unwählbar schien, nun aber zunehmend auch von jüngeren Umweltaktivisten, Künstlern und Intellektuellen kritisch beäugt wird.
Der politische Arm der neuen Mittelklasse
Das größte Problem der Grünen bei ihrem Wunsch nach der Kanzlerfähigkeit ist aber nach wie vor ein diametral anderes – nämlich, dass sie weiter vor allem jüngere, gebildete und urbane Milieus ansprechen. Sie wirken nach wie vor ganz primär wie der politische Arm der „neuen Mittelklasse“ (Andreas Reckwitz), der „globalisierungsfreundlichen Kosmopoliten“ (Wolfgang Merkel), während sie der „alten Mittelklasse“ – Facharbeiter, Handwerker und kleine Selbstständige – eher Angst einflößen, zumal auf dem flachen Land. Grüne sieht man hier eher als Gefahr für Arbeitsplätze, automobile Verkehrsanbindungen und den eigenen Diesel.
Annalena Baerbock, die selbst vom Land stammt und ihren Wahlkreis im brandenburgischen Potsdam hat, wo beide Milieus hart aufeinandertreffen, hat dies längst erkannt und fordert unablässig Investitionen in die ländliche Infrastruktur, in Kitas und Schulen, ÖPNV und Kliniken. Sie weiß: Ohne Verankerung in der alten Mittelklasse bleiben die Grünen ein Phänomen jüngerer urbaner Milieus. Inzwischen fordern alle Grünen daher möglichst gleichwertige Lebensverhältnisse. Offen bleibt jedoch, ob sie diese Versprechen in einer Reformregierung mit knappen Ressourcen umsetzen können.
Dabei hat die „stecken gebliebene“ Energiewende längst gezeigt, dass Bürger Reformen eher mittragen, wenn diese ihre Interessen bedienen: Einfachere Bedingungen für Bürgergenossenschaften hätten die Akzeptanz für Windkraftanlagen deutlich erhöht. Daher plädieren die Grünen hier inzwischen für Vereinfachungen: Der Europapolitiker Sven Giegold fordert einen Rentenfonds nach schwedischem Vorbild, also unter staatlicher Aufsicht, aber unabhängig verwaltet, ohne hohe Profite für Private und ohne Einfluss der Regierung und Ausschüttung nach Kassenlage. Damit will er das Interesse der alternden Bürgerschaft an sicherer, kapitalgedeckter Rente mit dem der Kapitalmärkte an green finance kombinieren. Ob so etwas mit der Union, die bisher stets im Dienst der privaten Versicherer agierte, zu machen wäre, steht allerdings dahin. Konflikte sind hier jedenfalls vorprogrammiert.
All das zeigt: Inhaltlich haben sich die Grünen enorm fortentwickelt, ihre frühere Spaltung in „Fundis“ und „Realos“ überwunden und erheblich breiter aufgestellt. Ihre einstige finanz- und wirtschaftspolitische Schwäche haben sie mit dem neuen Grundsatzprogramm beseitigt. Finanzpolitisch vertreten sie einen Keynesianismus für nachhaltige Investitionen, den der arbeitgebernahe Ökonom Michael Hüther wie der arbeitnehmernahe Sebastian Dullien teilen: Ihre Bekämpfung der Coronafolgen durch einen starken „grünen“ Staat ist auf der Höhe der Zeit. Nicht zufällig enthalten alle „Wiederaufbauprogramme“ von EU, Bund und Ländern transformative Elemente zu den grünen Themen Bildung, Digitalisierung und sozial-ökologischer Umbau zur Klimaneutralität. So soll das neue Europa ergrünen – auch wenn die Industrie und deren Vertreter in den Volksparteien alles tun werden, damit die grünen Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Allerdings fließt derzeit eine Menge Wasser auf die grünen Mühlen – mit jedem Skandal à la Dieselgate, vor allem aber mit dem persönlichen Erleben der Dürresommer, Brände, Nitrifizierung der Böden, dem Rückgang der Artenvielfalt, kurz: der Zerstörung des Planeten. Der clevere Markus Söder hat dies nach dem Erfolg des bayerischen Volksbegehrens zum Schutz der Bienen längst begriffen. Seine Doppelstrategie lautet: Grüne Themen auf- und die Grünen als Hauptgegner angreifen. Er begradigt damit die Frontlinie seines Vorgängers, der noch um die AfD-Wähler buhlte und versucht, die Bürgerskinder zu gewinnen, die längst bei FfF, unteilbar, Seebrücke, Greenpeace und Co umherwimmeln.
Quelle : Blätter >>>>> weiterlesen
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Grafikquelle :
Oben — Parteilogo
Unten — Protest gegen Atomkraft im November 2008
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