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Zerstreuen und ersticken

Erstellt von Redaktion am Dienstag 29. Mai 2018

Eine kurze Geschichte des Tränengases

Datei:Bundesarchiv Bild 183-58816-0005, Tränengasbomben für Westberliner Wahlen.jpg

Tränengasbomben für Westberliner Wahlen Info non-talk.svg

Der Krieg war gerade ein paar Jahre vorbei, da braucgten die Hitler Nachfolger schon wieder Tränengasbomben. Als  Originalnachfolger eines Rechtsstaat.

Von Anna Feigenbaum

Der Wirtschaftszweig, der sein Geld mit öffentlicher Ordnung und Sicherheit verdient, hat anderen Branchen etwas voraus – er braucht weder soziale Unruhen noch politische Krisen zu fürchten. Im Gegenteil: Sowohl der Arabische Frühling 2011 als auch die vielen anderen Proteste der letzten Jahre ließen die Verkaufszahlen von Tränengas und sonstiger Ausrüstung zur Abwehr von Revolten rasant steigen.

Mit ihren Auftragsbüchern in der Hand bereisen die Händler den gesamten Planeten. Heerscharen von Experten lauern auf jedes Murren in der Bevölkerung, um die Hersteller über die Märkte der Zukunft zu informieren. Tränengas ist dabei der Topseller: Den Regierenden gilt es als ebenso verlässliches wie schmerzloses Mittel gegen soziale Unruhen und als Allheilmittel gegen jede Form der Unordnung.

Dabei weiß niemand, welche Schäden Tränengas bei den Opfern verursacht und welche Probleme es für die öffentliche Gesundheit aufwirft. Denn danach fragt niemand. In keinem Land der Welt werden die Opfer von Tränengas offiziell gezählt oder Daten über Liefermengen, Einsatz, Verkaufserlöse und Umweltschäden durch Tränengas erhoben. Seit fast einem Jahrhundert wird ständig behauptet, Tränengas schade niemandem, es sei schließlich nur eine Rauchwolke, die in den Augen brenne. Wenn Menschen durch Tränengas sterben – wie bei den Unruhen in Bahrain 2011/12, bei denen mutmaßlich 34 Menschen durch Tränengaseinsätze ums Leben kamen1 –, entgegnen die Behörden, dabei handle es sich um Unfälle.

Tatsächlich ist Tränengas gar kein Gas. Bei seinen chemischen Bestandteilen, die so hübsche Namen haben wie CS (2-Chlorbenzylidenmalonsäuredinitril), CN (omega-Chloracetophenon) und CR (Dibenzoxazepin), handelt es sich um Reizstoffe, die als Spray, als Gel oder in flüssiger Form verkauft werden. Ihre Kombination wirkt sofort auf alle fünf Sinne und fügt den Betroffenen ein körperliches und seelisches Trauma zu. Tränengas verursacht vielfältige Schäden: Tränenfluss, Verbrennungen der Haut, Sehstörungen, Schleimhautreizungen, Schluckbeschwerden, vermehrter Speichelfluss, Husten, Erstickungsgefühl, Übelkeit, Erbrechen. Tränengas wurde auch mit Fehlgeburten in Verbindung gebracht sowie mit anhaltenden Muskel- und Atemproblemen.2

Der Einsatz chemischer Waffen hat eine lange Geschichte. Schon im Peleponnesischen Krieg sollen die Spartaner Schwefeldämpfe gegen belagerte Städte eingesetzt haben. Die ersten Versuche, den Einsatz chemischer und biologischer Kampfstoffe zu beschränken, gab es bei den Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907, doch die Abkommen blieben wegen der vagen Formulierungen weitgehend wirkungslos.

Der Erste Weltkrieg diente dann als Freiluftlabor für die Entwicklung eines neuen Arsenals an Giftstoffen. Im August 1914 feuerte die französische Artillerie erstmals mit Xylylbromid gefüllte Geschosse auf deutsche Frontabschnitte – eine Substanz, die Reizungen verursacht und den Gegner außer Gefecht setzt, aber unter freiem Himmel nicht tödlich wirkt. Die Deutschen schlugen im April 1915 mit dem tödlichen Senfgas oder Yperit zurück – das erste Beispiel in der Geschichte für die Nutzung von Chlorgas als chemischer Kampfstoff.

Die USA waren zunächst skeptisch gegenüber diesen Innovationen. Doch sie setzten noch am Tag ihres Kriegseintritts eine Kommission ein, die „Untersuchungen über Giftgas, seine Herstellung und Gegenmittel für den Einsatz im Krieg“ führen sollte.3 Und sie gründeten eine mit viel Geld und Personal ausgestattete Behörde für chemische Kriegführung (Chemical Warfare Service, CWS). Im Juli 1918 waren fast 2000 Wissenschaftler an entsprechenden Forschungen beteiligt.

Nach dem Krieg bestand Uneinigkeit unter den Militärs. Viele hatten die verheerenden Wirkungen von Chemiewaffen mit eigenen Augen gesehen und verurteilten deren Unmenschlichkeit. Die anderen hielten sie für einigermaßen humane Waffen, weil sie angeblich weniger Menschenleben forderten als die Feuerwalze der Artillerie. John Burdon Sanderson Haldane, ein Biochemiker aus Cambridge, pries die Effizienz chemischer Kampfstoffe und warf ihren Kritikern Sentimentalität vor: Wenn man „mit einem Schwert Krieg führen“ könne, warum dann nicht „mit Senfgas“?

Im Zuge der Debatten nach dem Ersten Weltkrieg etablierte sich die Unterscheidung zwischen „Giftgas“ – das schon in Den Haag Gegenstand der Verhandlungen war – und den neuen Chemiewaffen, die erst in den Kriegsjahren erfunden worden waren. Diese Unterscheidung tauchte danach in inter­na­tio­nalen Vereinbarungen immer wieder auf. Sie diente als Begründung für das Verbot bestimmter Waffen und für die Zulassung von solchen, die angeblich nicht so tödlich sind.

Aus diesem Grund fielen auch die rechtlichen Regelungen zu Tränengas großzügiger aus als die zu anderen giftigen Kampfstoffen. Außerdem nahm man sehr viel Rücksicht auf die Interessen der expandierenden Chemieindustrie. Ihre Kreativität auf militärischem Gebiet einzuschränken, würde ihr inakzeptablen Schaden zufügen – ein Argument, das auch hundert Jahre später noch zählt.

Die Mär vom humanen Kampfstoff

Quelle     :     Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen

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Grafikquelle    :

Original-Bildunterschrift
Es folgt die historische Originalbeschreibung, die das Bundesarchiv aus dokumentarischen Gründen übernommen hat. Diese kann allerdings fehlerhaft, tendenziös, überholt oder politisch extrem sein. Info non-talk.svg

Zentralbild Ulmer 2.10.1958 Repro Tränengasbomben für Westberliner Wahlen (Siehe ADN-Meldung Nr. 240 vom 2.10.1958 UBz: Tränengasbomben, die mit diesem Lastzug aus der Westzone durch die DDR nach West-Berlin transportiert werden sollten.

Namensnennung: Bundesarchiv, Bild 183-58816-0005 / Ulmer, Rudi / CC-BY-SA 3.0

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