Erstellt von Redaktion am Mittwoch 22. Januar 2020
Das Märchen vom goldenen deutschen Jahrzehnt
Die vergangenen Jahre werden als zweites deutsches Wirtschaftswunder in die Geschichte eingehen, orakeln Hobby-Historiker. Eine ziemlich gefährliche Fehleinschätzung.
Es gibt Zeitgenossen, die bereits kurz nachdem sich Ereignisse ereignet haben, diese für historisch befinden – noch bevor der Historiker die Sache überhaupt auf den Tisch bekommen hat. Totaler Wahnsinn.
Wie derzeit in Deutschland, wo zu lesen ist, wir hätten gerade eine „goldene Dekade“ hinter uns – wo die doch gerade erst ein paar Tage vorbei ist. Historiker würden, orakelt gar der eherne Rentenexperte Bert Rürup, das Jahrzehnt einmal als zweites deutsches Wirtschaftswunder einstufen. Mehr geht nicht. Da kann der Historiker gleich in Vorruhestand gehen. Ende der Geschichte.
Oder doch nicht? Wie heikel so eine vorgezogene Geschichtsschreibung sein kann, könnte sich im Rückblick auf das Schwärmen vom deutschen Boom der vergangenen Jahre bald schon zeigen. Wobei diese Vermutung schon jetzt nahe liegt, wo seit dieser Woche erstmals die gesamten amtlichen Daten zur Wirtschaftsentwicklung Deutschlands in der Gesamtdekade vorliegen.
Keine goldene Zeit
Zeit für eine vorsichtige Annäherung an die wirkliche Dekadenbilanz. Gut möglich, dass künftige Geschichtslehrer das Ganze als gar nicht so goldig mehr einstufen werden. Zumindest, wenn sie die Ad-hoc-Geschichtsschreibung nicht einfach so übernehmen. Für die Politiker der kommenden Jahre könnte ein nüchternerer Blick ohnehin lohnen, um auf neue Krisen vorbereitet zu sein.
Selbstverständlich waren die vergangenen Jahre wirtschaftlich ziemlich gut. Es gab in zehn Jahren keine richtige Rezession mehr – das hat es in der Tat jahrzehntelang nicht gegeben. Die registrierte Arbeitslosigkeit ist von fast fünf auf nur noch knapp über zwei Millionen gefallen. Und es kamen in zehn Jahren tatsächlich gut vier Millionen Jobs dazu, darunter auch eine Menge, die ordentlich sozialversicherungspflichtig sind. Dazu macht der Staat Überschüsse. Und Inflation gibt es so gut wie keine. Nach Standardlehrbuch: das Paradies.
Nur historisch? Wirtschaftswunder? Vielleicht gemessen daran, wie schlecht sich Deutschland nach all den Nullerjahren mit Gerd Schröder und Hans-Werner Sinn geredet hatte. Nimmt man das Ab und Auf in der Globalkrise 2009/10 raus, ist die deutsche Wirtschaft in den Zehnerjahren im Schnitt mit 1,5 Prozent gewachsen. Dieselbe Rate kommt heraus, rechnet man den Anstieg der Wirtschaftsleistung seit 2005, als die Arbeitslosigkeit zu fallen begann.
Goldene Zeit? Das war nach den traurigen besagten Nullerjahren die zweitschwächste aller (west-)deutschen Nachkriegsdekaden. Selbst in den kriselnden Siebziger- und Achtzigerjahren waren es mit 2,9 und 2,6 Prozent noch deutlich mehr.
Das wahre Wirtschaftswunder
Jetzt könnte sein, dass damals einfach die Bevölkerung stärker wuchs – pro Kopf aber gar nicht so viel mehr erwirtschaftet wurde. Auch nicht. Je Einwohner wuchs das (nominale) BIP in den Fünfzigerjahren mit fast zehn und in den Achtzigern immer noch um fast fünf Prozent. In den Zehnerjahren waren es magere 2,6 Prozent – abzüglich Inflation. Nicht mehr als in den schwachen Nullerjahren. Siehe oben. Kein Wunder.
Der Befund zieht sich so oder so ähnlich durch fast alle wirtschaftlichen Lebensbereiche. In den Fünfzigerjahren wurden im Vergleich mit der jüngst abgeschlossenen Dekade prozentual doppelt so viele Jobs geschaffen. Das war mal ein Wunder. Der Export wurde in den Fünfzigern fast verdreifacht – klar, außergewöhnliche Nachkriegsumstände. Trotzdem kein Vergleich: zwischen 2009 und 2019 lag das Plus unter 60 Prozent. Nicht schlecht. Aber auch nicht so sensationell, dass es zum Wunder taugt.
Die Deutschen konnten ihren Konsum fast verdoppeln und in den Sechzigern noch einmal um die Hälfte steigern – was jährlichen Raten von knapp acht und fünf Prozent entsprach. In der abgelaufenen Dekade lag das Jahresplus bei gerade einmal 1,6 Prozent, das zweitschwächste Plus aller Nachkriegsjahrzehnte. Das ist für saturierte Hochverdiener kein Drama – nur gibt es eben auch Leute, die mit ihrem Geld nicht hinkommen, es aber gern würden.
Eher ein Desaster
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Fotograma de The Spirit of ’43 con el primer antecedente de „Scrooge McDuck„.…
Erstellt am Mittwoch 22. Januar 2020 um 12:37 und abgelegt unter Deutschland_DE, Friedenspolitik, International, Regierung, Wirtschaftpolitik.
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