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RENTENANGST

Wir waren wie Brüder

Erstellt von Redaktion am Samstag 29. September 2018

Was haben die mit mir zu tun?

Rund 65.000 Menschen kamen nach Chemnitz.

Von Daniel Schulz

Unser Autor ist vor Neonazis weggelaufen und war mit Rechten befreundet. In den neunziger Jahren in Ostdeutschland ging das zusammen. Wenn er heute in Chemnitz Männer um die vierzig sieht, die Hitlergrüße zeigen, dann fragt er sich: Was habt ihr mit mir zu tun? Und ich mit euch?

Die eigene Hässlichkeit kann ein Rausch sein. Wenn man sie umarmt und das Grauen in den Gesichtern derer sieht, die einen beobachten und verachten, aber sich nicht an einen herantrauen, dann strömt Macht durch die Adern wie elektrischer Strom.

Als ich bei über hundert Kilometern pro Stunde einem BMW hinter uns auf die Motorhaube pisse, spüre ich diese Macht. Als ich da im Dachfenster stehe, die Hose bis zu den Oberschenkeln heruntergelassen, sehe ich das große weiße Gesicht des Fahrers: Die Augen geweitet, vor Schreck, Entsetzen, Empörung, bläht es sich auf wie ein Ballon, ich würde gern mit einer Nadel hineinstechen.

Ich bin neunzehn, ich bin zehn Meter groß und acht Meter breit, ich bin unverwundbar.

Als am 27. August 2018 Männer meiner Generation, so um die vierzig, in Chemnitz einen „Trauermarsch“ veranstalten und einige ihre nackten Hintern in die Kameras halten, wie man es bei YouTube sehen kann, denke ich an meine Autobahnfahrt. Als schwere Männer Hitlergrüße zeigen und Menschen angreifen, deren Hautfarbe ihnen nicht passt, als die Polizisten nicht einschreiten, bin ich paralysiert, als würde etwas Dunkles hochkommen, von dem ich dachte, ich hätte es hinter mir gelassen. Aber ich erinnere mich auch an diesen Machtrausch, den Kick, wenn du jemandem klarmachst: Regeln? Und was, wenn ich auf deine Regeln scheiße, mein Freund? Was dann?

Ich sehe Chemnitz und frage mich: Was habt ihr mit mir zu tun? Was ich mit euch?

Zum Tag der Deutschen Einheit wird es wieder die geben, die erzählen, warum die Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte ist. Schon das Wort „Wiedervereinigung“ ist eine Lüge, werden die anderen sagen, die vor allem sehen, was verloren ging: Betriebe, Selbstachtung, ganze Leben. Gerade sind die besonders gut zu hören, die sagen: Erkennt endlich die Leistungen derjenigen an, die sich eine neue Welt aufbauen mussten. Die auch oft sagen: Lasst mich in Ruhe mit den Opfergeschichten, wir sind stolz auf das, was wir geschafft haben, selbst wenn wir gescheitert sind.

Gerade, fast dreißig Jahre nach der Wende, erzählt die Generation meiner Eltern und Großeltern ihre Geschichten. Nicht das erste Mal, aber es scheint die richtige Zeit zu sein. Die sächsische Staatsministerin für Integration, Petra Köpping, hat einige dieser Geschichten aufgeschrieben in ihrem Buch „Integriert doch erst mal uns!“ und sie füllt in Ostdeutschland zur Zeit jedes Haus.

Es geht viel um verlorene Arbeitsplätze und ja, das klingt hübsch technisch, wie ein leicht lösbares Problem. Aber in diesem preußischen Vollbeschäftigungsstaat namens DDR, in dem Arbeit gleich Lebenssinn war und die wenigen, die keine Jobs hatten, „Assis“ gerufen wurden, bedeutete das eben auch: Kollegen, Brüder, Ehemänner, die sich erhängten, Geschwister und Cousins, die sich langsam zu Tode soffen, Familien, in denen es erst heiß aufwallte wie in einem Vulkan, weil einer jetzt mehr hatte als die anderen und dann erstarrte alles zu einer toten Landschaft kalter Schlacke. Frauen, die so sehr anpackten, um sich, ihre Männer und ihre Kinder durchzubringen, bis nichts mehr von ihnen übrig blieb als der Wille „es zu schaffen“.

Ist da noch Platz für die Erzählungen der 90er Jahre aus der Sicht derjenigen, die beim Fall der Mauer zu alt waren, um nichts von der Vergangenheit mitbekommen zu haben, aber zu jung um mitzureden, wie die Zukunft aussehen sollte? Über das Jahrzehnt, in dem auch die Menschen aufgewachsen sind, die heute Hitlergrüße zeigen und brüllen?

„Mit den 90er Jahren verbinde ich persönliche Erlebnisse, die derzeit wieder hochkommen“, sagt Manja Präkels, „und wenn ich im Land unterwegs bin, sehe ich jetzt oft genau die Leute bei der AfD wieder, die sich als Sieger der Kämpfe der 90er Jahre begreifen.“

Präkels hat das Buch „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ geschrieben, über die letzten Tage der DDR und das barbarische Jahrzehnt, das Ostdeutschland danach erlebte. Präkels ist 1974 geboren und in Zehdenick aufgewachsen, einer Stadt nördlich von Berlin. Ihr Buch ist neben „Oder Florida“ von Christian Bangel der zweite Roman mit autobiografischen Zügen, der im vergangenen Jahr erschienen ist und vom Ostdeutschland der 90er Jahre handelt.

Ich habe sie angerufen, um sie zu fragen, ob auch sie sich an damals erinnert fühlt, wenn sie die Bilder aus Chemnitz und Köthen sieht. Sie sagt, wenn sie auf Lesereisen unterwegs sei oder bei Tagungen, dann treffe sie auf Rechtsextreme, die angetrieben sind von dem, was sie damals erreicht haben in Rostock-Lichtenhagen und bei den vielen kleineren Feuern, die kaum jemand sah. „Sie begreifen sich als Sieger dieser Kämpfe“, sagt Präkels, „weil nichtweiße Menschen damals aus Ostdeutschland abtransportiert worden sind. Das hat die Gewalt jener Jahre in ihren Augen nachträglich legitimiert.“

Wann fängt man also eine Geschichte über damals an? Für mich begann es nicht 1989. Für mich begann es in der DDR.

Demonstration Chemnitz 2018-08-27.jpg

In der zweiten Klasse malt Ricardo mit dem Bleistift ein Hakenkreuz auf die Schulbank. An sich nichts Besonderes, auch ich habe das schon gemacht, einmal an einem Junitag 1987, während ich in mein Diktatheft krakele: „Heute kommt unsere Mutter spät nach Hause. Wir wollen helfen.“ Hakenkreuze malen ist das Verbotenste, was ich mir vorstellen kann. Jedes Mal brüllt ein kleines Tier in meinem Brustkasten seine Freude darüber hinaus, nicht erwischt worden zu sein. Die Kunst ist, aus dem Hakenkreuz gleich wieder ein kleines Fenster zu machen, bevor einen jemand sieht.

Aber Ricardo ist zu langsam gewesen oder vielleicht hat er vergessen, die Striche weiter zu ziehen, ich sehe es, zwei Freunde sehen es, wir nehmen ihn uns vor, als die Lehrerin nicht im Klassenzimmer ist. Es ihr zu sagen, geht nicht. Eine Petze zu sein, war schlimmer als alles andere. Wir müssen das unter uns regeln.

„Du weißt, dass das falsch war?“, frage ich.

Er heult. Er ist schwerer als ich und größer, aber er versucht nichts, zwei andere Jungs aus der Klasse stehen neben ihm. „Nimm die Brille ab“, sage ich. Ricardo heult noch ein bisschen mehr, er fleht mit großen Augen und ja, na klar, wohnen wir im gleichen Block und ja, wir wollen uns am Nachmittag wieder beim Sandkasten vor dem Haus treffen, aber erst einmal muss das hier erledigt werden.

Der im sozialistischen Jugoslawien geborene Schriftsteller Tijan Sila hat dieses Verhalten von Jungen in seinem Buch „Tierchen Unlimited“ so beschrieben: „Die Erziehung von Grundschülern sollte das Ethos der Partei spiegeln, und das erschloss sich mir damals nur in Gegensätzen: oben ein kaltes, appolinisches Gesicht, das Keuschheit, Nüchternheit und Leidensfähigkeit forderte, und darunter ein triebhafter, dämonischer Torso, der Härte, Kampf, Rivalität oder Opfer gut fand.“ Vielleicht blieb dieser Torso übrig, als der Kopf mitsamt der DDR verging.

Ums Kämpfen ging es in der DDR oft, die größten Kämpfer waren die, die nicht mehr lebten: die kommunistischen Antifaschisten, die in den Lagern gestorben waren, damit wir es besser hatten. Von Wandbildern und aus unseren Schulbüchern blickten uns muskulöse weiße Männer an. Von den Juden erzählten unsere Lehrerinnen nur, dass die Nationalsozialisten sie umgebracht hatten. Gekämpft hatten sie jedenfalls nicht.

Auf dem Nachhauseweg von der Schule erzählen wir Jungs uns Judenwitze. Zu viert oder zu fünft laufen wir über Kopfsteinpflaster und schwarzen Sand nach Hause, am Friedhof und an der Kneipe vorbei hin zu den vier Neubaublöcken am Rande des Dorfes.

Einer fragt: „Was ist der Hauptgewinn in der KZ-Lotterie?“

Ich sage: „Kenn ich doch schon. Eine Platzkarte in der Gaskammer.“

Später habe ich unsere Witze in dem Buch „Das hat’s bei uns nicht gegeben!“ wiedergefunden. Veröffentlicht hat es vor einigen Jahren die Amadeu Antonio Stiftung, benannt nach einem angolanischen Vertragsarbeiter, den junge Männer 1990 in Eberswalde so lange schlugen, bis er ins Koma fiel und später starb.

Woher wir unser Witze hatten, weiß ich nicht mehr. Es hätte sie gar nicht geben dürfen. In der Verfassung der DDR stand, der Faschismus sei besiegt. Und weil er nun einmal besiegt war, durfte er nicht existieren. Die Staatssicherheit, das lässt sich in dem Buch der Stiftung ebenso nachlesen wie in den Berichten des Geheimdienstes selbst, nannte Hakenkreuze auf jüdischen Friedhöfen und Neonazis, die andere Menschen zusammenschlugen, „Rowdytum“ und tat so, als gäbe es keinen politischen Hintergrund. Punks und alle, die anders aussahen als sich die sozialistische Elite ihre Bürger vorstellte, verfolgten Geheimdienst und Polizei dagegen hart als Auswüchse einer Dekadenz, die nur aus dem Westen kommen konnte.

Daran knüpft die AfD heute an. Die Partei setzt wie keine andere darauf, eine ostdeutsche Identität zu feiern und zu fördern. In Wahlkämpfen und Reden umwerben ihre Politiker die Menschen damit, wie fein deutsch und wenig verfremdet es in Ostdeutschland so zugehe. Und die Erzählung vom unpolitischen Rowdytum scheint bei vielen Polizisten ebenfalls heute noch zu funktionieren.

War das in der Bundesrepublik denn besser? Klassische Frage, die immer kommt, wenn man etwas über die DDR schreibt. Vielleicht ließe sich sagen, es gab in Westdeutschland wenigstens die Chance auf ein öffentliches Gespräch. In der DDR lief so eine Serie wie „Holocaust“ nicht im Fernsehen, die Leute konnten danach nicht darüber reden, sich aufregen oder weinen – zu Hause, in der Kneipe, im Bus. Und bei allem Verständnis für den Willen, sich von Westdeutschen nicht mehr das eigene Leben ausdeuten zu lassen: Ist es wichtiger, das Andenken an die DDR zu retten oder sich Gedanken darüber zu machen, warum die eigenen Kinder von Nazis gejagt werden oder selbst andere jagen?

Nach dem Überfall von Neonazis auf ein Punk-Konzert in der Ostberliner Zionskirche 1987 wollte das Zentralkomitee der SED dann doch einmal die neonazistischen Umtriebe untersuchen. Die Forscher registrierten 1988 bis zu 500 Taten aus dem rechtsextremen Milieu pro Monat. Die Ergebnisse verschreckten die Machthaber so sehr, dass sie sie gleich wieder wegschlossen. Der Oberstleutnant der Kriminalpolizei, der das Team geleitet hatte, wurde ab da von der Stasi beobachtet.

Wir lesen „Pawel“ in der vierten Klasse. Wir haben das grüne Schulbuch vor uns auf dem Tisch liegen, wir lesen abwechselnd ein paar Sätze vor. Ein Leutnant der Wehrmacht sitzt am Rande eines brennenden sowjetischen Dorfes und sieht einen spielenden Jungen. Er denkt: „Worin besteht der Unterschied zwischen diesem und einem deutschen Kind?“ Er rettet den Jungen vor dem heranrasenden Auto eines Feldwebels, sie fliehen zusammen zu sowjetischen Soldaten und der Leutnant kehrt an der Seite der Roten Armee nach Deutschland zurück. Fünfeinhalb Seiten dauert die Transformation des Nazi-Offiziers zum Kommunisten und sie beschreibt in ihrer kindgerechten Kürze recht gut den antifaschistischen Mythos der DDR. Der Staat musste ein paar Verführer bestrafen, den großen Teil seiner Bürger konnte er dann, ohne groß über die Vergangenheit zu reden, zum Aufbau des neuen Staates einsetzen.

Zugleich wussten wir wenig vom Fremden. Selbst unsere angeblichen Brüder kannten wir nicht. „Wir zeigen unsere freundschaftliche Verbundenheit mit dem Sowjetvolk“, schreibe ich am 8. Mai in meinen Heimatkundehefter. Aber wir sehen sie kaum, obwohl viele Kasernen gar nicht so weit weg sind. Manchmal marschiert ein Trupp mit Kalaschnikows auf dem Rücken an unserem Kindergarten vorbei und wir drücken uns an den Zaun und sehen ihnen nach. „Scheißrussen“, sagt ein Junge neben mir, und als ich ihn frage warum, sagt er: „Wenn der blöde Hitler unsere Wehrmacht nicht kaputt gemacht hätte, wären die jetzt nicht hier.“ Das hatte ihm jedenfalls sein Vater erzählt.

Wir wussten nicht, wer die Juden waren. Wir wussten nicht, wer die Russen waren. Wer die Nazis waren, wussten wir. Der Nazi war einer, der aus dem Westen kam. Der Kapitalismus galt als Vorstufe des Faschismus, und tatsächlich saßen ja noch alte Nazi-Eliten auf genügend Machtpositionen, um die als Beweis zu präsentieren. Als die Staatssicherheit 1960 im Bezirk Rostock eine „Aufstellung über Hakenkreuzschmierereien“ mit über fünfzig Delikten erstellte, sagte der Leiter der Bezirksverwaltung, diese seien „Teil der Provokation aus Westdeutschland“. In „Käuzchenkuhle“, einem der bekanntesten Jugendbücher der DDR, löst ein Junge zusammen mit seinen Freunden einen Kriminalfall, bei dem „der Fremde“, ein ehemaliger SS-Mann aus Westdeutschland, zurückkehrt, um alte Nazi-Raubkunst zu bergen. Noch 2006 erklärte mir der SPD-Innenminister eines ostdeutschen Bundeslandes vor einem Interview, das Naziproblem käme aus dem Westen und, nein, in der DDR habe es das nicht gegeben.

Der Fall der Mauer brach mir das Herz. Ich hatte Angst vor dem Westen, vor den Faschisten, einfach davor, dass alles, was ich kannte, kaputt gehen könnte.

Die Erwachsenen rührten keinen Finger. Sie saßen vor dem Fernseher und sahen sich Demonstrationen an. Sie unterrichteten uns weiter in der Schule, als sei alles völlig normal. Dass wir wirtschaftlich keine Chance hatten, war mir ja klar, jeder Junge, der wusste, wo die Matchboxautos herkamen, begriff das. Aber mein Vater war Oberstleutnant der verdammten Nationalen Volksarmee, er hatte mal dreißig Panzer kommandiert, wo waren die denn jetzt?

Ich wollte eine chinesische Lösung, ich wollte Tiananmen-Platz in Berlin und Leipzig. Als mein Vater, der Feigling, nicht loszog, um die Irren da draußen zu stoppen, überlegte ich, wie ich ihm seine Makarow-Dienstpistole klauen könnte. Mein Plan war, in Westberlin ein paar Leute zu erschießen und einen Krieg zu provozieren. Denn den, da war ich mir sicher, den würden wir gewinnen.

Wir fuhren mit dem Begrüßungsgeld nach Berlin-Spandau. Bei Karstadt kaufte ich mir ein Telespiel, einen kleinen blauen Computer, mit dem ich Eishockey zocken konnte.

Mit jedem neuen Level wurde der Puck schneller und schwieriger zu erreichen. Es fing mit Piep – piep – piep an und steigerte sich pieppiep pieppiep pieppiep bis zu pipipipipipip. Wie hypnotisiert starrte ich auf die kleine blinkende Scheibe, bis die Welt um mich herum nur noch gedämpft zu hören war, wie hinter Watte. Die Erwachsenen hatten mich verraten, ich hatte mich für ein Computerspiel verkauft. Ich war wütend, aber ich hatte keine Ahnung auf wen.

Quelle        :     TAZ          >>>>>         weiterlesen

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2. von Oben    —           Demonstranten auf der von Pro Chemnitz angemeldeten Demonstration am 27.08.2018 in Chemnitz mit Flaggen und Transparent.

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3. von Oben     —        Via –   Wikimedia Commons  Twitter    GRÜNE Mittelsachsen

 

 

 

 

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