Wir sind nicht adäquat
Erstellt von Redaktion am Mittwoch 25. September 2013
Wir sind nicht adäquat
Der Frage nach dem aus der Politik immer wieder gehörten „Wir“ geht die freie Autorin Charlotte Wiedemann in ihren Kommentar nach. Wer sind „Wir“?
Mir fehlten bisher die Worte, und der Ausgang der Wahl mag helfen, sie zu finden, in einer äußerst vorläufigen Form. Mir fehlten die Worte für ein Gefühl, das mich seit geraumer Zeit immer wieder befällt: ein schmerzliches Gefühl von kollektiver Unangemessenheit. Wir sind nicht adäquat. Das klingt rätselhaft, und man mag im ersten Moment nur spüren, dass es um ein Nichtzusammenpassen geht, um ein Zurückbleiben, vielleicht auch um einen Verlust.
Zunächst: Wer ist „wir“? Leicht zu sagen: Es mag sich jede und jeder selbst dazu rechnen – aus der Grundmenge derer, die sich nicht abfinden wollen mit der Welt, so wie sie aufgetischt wird. All jene also, die Ansprüche stellen und daraus einen Teil ihrer Identität und Integrität schöpfen. Profaner gesagt: Ein gewisser Prozentsatz derer, die Rot-Rot-Grün gewählt haben oder mit guten Gründen zu Hause blieben. Ich glaube nicht, dass dieses Wir so klein ist, aber wir machen uns klein.
Unsere Genügsamkeit
Nicht adäquat sein, das heißt: Wir sind nicht auf der Höhe der Herausforderungen – ob Europa-Krise, Überwachungsstaat, Syrien, Flüchtlinge. Wo man hinschaut Unterwerfung unter falsche Logiken, intellektuelle Hasenfüßigkeit. Wir bleiben unter unseren Möglichkeiten, in einem bizarren, schwer erklärbaren Ausmaß.
Der Wahlkampf war dafür wie ein Spiegel, ein Spiegel unserer Genügsamkeit. Das beleidigend niedrige Niveau der Plakate und Debatten hatte auch mit uns zu tun, die wir uns über solche Volksverdummung gern erhaben fühlen und ihre Wirkung auf andere diagnostizieren. Im Unterschied zu diesen anderen fühlen wir uns chic, solange wir unsere aufregenden virtuellen Kreise ziehen und uns ständig unserer Bedeutung versichern.
Als neulich 10.000 Menschen gegen den Überwachungsstaat demonstrierten, sprachen Medien von einer „großen Demonstration“. Wie konnte es so weit kommen? Über die Massenbewegung gegen die Volkszählung von 1983 wird heute gern herablassend gesagt, sie sei Ausdruck der Hysterie der damaligen Zeit gewesen.
Tatsächlich lebte der Protest von der Fantasie dessen, was möglich wäre – was heute möglich ist. Der Protest war hochmodern, denn er ging davon aus, dass das technologisch Mögliche auch politisch möglich gemacht werden kann. Dagegen steht heutzutage die radikale Fantasieverweigerung: Wir sehen das technologisch Mögliche plus das politisch bereits Exekutierte, wollen uns aber nicht vorstellen, dass es gegen „uns“ angewandt werden kann.
Fußweh am Computer
Als ich dieser Tage einen Personalausweis beantragte, wurden meine Fingerabdrücke genommen – welch eine Anmaßung des Staates! Und wir lassen es geschehen. Man muss nur ein paar Seiten Günther Anders lesen, um zu spüren, wie weit wir zurückgefallen sind. Der Mensch müsse seine „moralische Fantasie“ ausbilden, die Wahrnehmung des Undenkbaren schulen. Die Welt ist nur mit geschlossenen Augen zu erkennen. Versponnener Kram. Heute machen wir die Augen auf und sehen nichts.
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Fotoquellen : Merkel / Autor: Kuebi = Armin Kübelbeck galerie.hbz-da.de
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