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Wie können sie es wagen?

Erstellt von Redaktion am Freitag 3. Januar 2014

 Die unterstehen sich das, weil wir sie lassen.

Messeturm
Der Messeturm, Goldman Sachs International Niederlassung Frankfurt

Autor: U. Gellermann

Rationalgalerie

Datum: 02. Januar 2014
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Buchtitel: Wie können sie es wagen
Buchautor: Peter Mertens
Verlag: VAT

„Sie“, das sind jene Men In Black, deren Wohnzimmer die Börse, deren Lektüre die Bilanzen und deren Klo wir sind, denn sie scheißen auf uns. Geschrieben, in ein Buch gebracht, hat die empörte Frage ein: belgischer Autor: Peter Mertens, der auch ein entschieden linker Stadtrat in Antwerpen ist. Belgien, könnte man denken, Belgien ist doch dieses nette kleine Land mit den leckeren Pralinen und den unendlich vielen Biersorten. War da sonst noch was? Ja. Belgien bereichert uns mit einem Buch: „Wie können sie es wagen“ über den „Euro, die Krise und den großen kapitalistischen Raubzug“. Und Mertens schreibt heiter und wütend zugleich, überschüttet seine Leser mit einer Fülle von Fakten und vermittelt ihnen parallel das Gefühl, das alles sei locker zu bewältigen und wenn das alles gebündelt und gezwirnt würde, man dann einen ordentlichen Strick bekäme, um „sie“ zumindest zu fesseln.

Mertens beendet die belgische Pralinen-Saga, wenn er notiert, dass „sie“ in Belgien keine Steuern zahlen, wenn sie nur genug fiktive Zinsen in ihre Bilanzen eintragen, und dass deshalb internationale Konzerne wie VW, BASF oder Bayer dort ihre Bilanzen waschen lassen. Wenn er sich dann der EU zuwendet, deren Parlament in Brüssel sitzt, findet er 4.500 Lobbyisten, die dort akkreditiert sind: Sechsmal so viele, wie es Parlamentsmitglieder gibt. Und dann exekutiert er am Beispiel der Dexia Bank, wie europäische Bankenpolitik funktioniert: Einst war die Dexia, als sie noch Crédit Communal hieß, eine staatseigene Bank. Die wurde für schäbige 750 Millionen verkauft und privatisiert, um sie dann in der Bankenkrise für vier Milliarden zurückzukaufen und 54 Milliarden Staatsgarantien für eine Bad Bank abzugeben, in der die faulen Papiere lagern. Ist jemand verhaftet worden, hat einer den Strick genommen oder bekommen? Nein, haften müssen immer nur die Normalos, das Heer der braven Bürger. Denn, so zitiert Mertens den Nobelpreisträger Joseph Stiglitz: „Es gibt heute größere Banken als vor der Krise“.

Dieses elegante Haftungsprinzip wurde, so beweist Mertens, in Europa von den New Age Sozialdemokraten eingeführt: Mit dem Einfrieren der deutschen Löhne ab 1996 begann die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Lockerung des Kündigungsschutzes bis hin zu Hartz IV dem neuen Sozialgefängnis. Dass parallel die Kontrollbremsen des Finanzsektors gelöst wurden, Hedgefonds und Leerverkäufe erlaubt und die Unternehmenssteuern gesenkt wurden, galt fortan bis in die Merkelei hinein als Modell Deutschland und hat die Deutschen bis heute 400 Milliarden Euro Steuereinnahmen gekostet, die natürlich bei den Renten eingespart werden müssen. Dieses wunderbare Modell führt bei den Deutschen zu gut sechs Millionen Hartz-IV-Empfängern, in Griechenland zur Zunahme der Selbstmordrate um 30 Prozent und zu immer mehr und mehr Arbeitslosen in Europa. Insbesondere die deutschen Medien, begleitet von der schlechten Bismarck-Kopie an der Staatsspitze, werfen den Südländer dann gern vor, sie hätten über ihre Verhältnisse gelebt und würden nur zu Recht bestraft. Mertens schildert die „Verhältnisse“ am Beispiel Portugals: Ein Viertel aller Kindern wächst dort in Armut auf, einer von fünf Portugiesen muss mit weniger als 360 Euro leben. Rund eine Million Menschen sind ohne Arbeit. Das sind die üppigen Verhältnisse in Portugal nach dem vierten von der deutschen EU diktierten Sparpaket.

Mertens Buch widmet sich dem Goldman Sachs-Dreigestirn: Den Herren Henry Paulsen (langjähriger US-Finanzminster und ehemaliger Spitzenmann bei Goldman Sachs), Mario Draghi (Chef der EZB und ehemaliger Spitzenmann bei Goldman Sachs) und Mario Monti (vorgeblicher Italien-Sanierer) und natürlich auch Berater bei Goldman Sachs. Und er skizziert wie die angeblich völkerverständigende EU immer mehr ultrarechte und nationalistische Parteien hervorbringt. Das intensivste Kapitel in diesem klugen Buch handelt von Chile und wie dort der Neoliberalismus sich auf das Schönste mit der Diktatur paarte. Eine einzige leise Kritik sei angemerkt: Der Originaltitel des Buches lautet im Niederländischen „Hoe durven ze?“ Das müsste im Deutschen „Was unterstehen die sich?!“ heißen und die Antwort lautet: Die unterstehen sich das, weil wir sie lassen.

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Fotoquelle: Wikipedia – Norbert NagelEigenes Werk

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  • CC BY-SA 3.0
  • File:01-01-2014 – Messeturm – trade fair tower – Frankfurt- Germany – 03.jpg
  • Erstellt: 1. Januar 2014

 

 

Ein Kommentar zu “Wie können sie es wagen?”

  1. Hollis Thornton sagt:

    Karen Brecht wurde in Hamburg geboren. Nachdem ihre Eltern früh gestorben waren – ihre Mutter kam 1943 bei der Bombardierung Hamburgs ums Leben -, wuchs sie bei ihrer Tante und Großmutter auf. Sie ließ sich nach dem Abitur zur Fremdsprachenstenotypistin ausbilden, begann dann aber 1957 in Hamburg ein Medizinstudium. Nach dem Vorphysikum wechselte sie nach Homburg im Saarland, 1960 dann nach Heidelberg. Hier lernte sie ihren Mann Thomas Brecht (1933?-2000) kennen, der später zu den führenden Angiologen zählte. Ihre 1961 geborene Tochter Judith starb 1976 an Leukämie. Von 1967 bis 1973 studierte Karen Brecht Psychologie an der Universität Heidelberg, anschließend absolvierte sie von 1974 bis 1981 eine psychoanalytische Ausbildung am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt. Sie eröffnete eine private Praxis in Heidelberg und wurde 1990 ordentliches Mitglied, 1994 Lehr- und Kontrollanalytikerin der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV). Karen Brecht war Dozentin am Psychoanalytischen Institut Heidelberg-Karlsruhe und arbeitete dort in verschiedenen Gremien. Sie war Vorsitzende des örtlichen Weiterbildungsausschusses und gehörte der Ethikkommission der DPV an. Einen Schwerpunkt Karen Brechts bildete die Beschäftigung mit der jüngeren psychoanalytischen Geschichte und der jüdisch-deutschen Problematik. Sie stand in engem Austausch mit emigrierten AnalytikerInnen in England, Holland, Israel und den USA und beteiligte sich an der berühmten Ausstellung zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland „Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter…“, die erstmals 1985 anlässlich des 34. Psychoanalytischen Kongresses in Hamburg gezeigt wurde.

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