Westeuropäische Angst
Erstellt von Redaktion am Sonntag 27. September 2020
Der Albtraum, die Gewohnheiten zu verlieren
Eine Kolumne von Sibylle Berg
Am Ende dieses seltsamen Sommers ist die Sehnsucht groß nach der heilen Welt. Und umso größer die Furcht vor dem Verlust der Gewohnheiten. Doch die Zeit des „Das haben wir immer so gemacht“ ist vorbei.
Die Albträume in der Nacht, unterscheiden sie sich bei allen Milliarden auf der Welt? Oder werden nur ein paar Standard-Horrorträume bereitgestellt, die in die Hirne gesendet werden? Nackt durchs Dorf laufen, im Flugzeug ins Trudeln kommen, die nicht bestandene Prüfung, das Sterben, immer sterben, oder das Haus brennt, der Wald brennt, das Wasser kommt oder die Mutter geht.
Bricht man all die schlechten Träume, die Ängste meinen, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner herunter, so bleibt die Wahrheit: Nichts fürchten die meisten mehr als den Verlust von Gewohnheiten. Das kleine geschundene Wort: Gewohnheit, das klingt nach schweigenden Ehepaaren an Restauranttischen, nach Vorgärten und Weihnachten. In diesem kleinen Wort steckt das, was das Leben vieler ausmacht. Die Routine, die Tradition, der Alltag. Dinge machen, wie man sie schon immer machte. Das Sonntagsfrühstück mit der Familie, die leisen Gespräche mit der Partnerin oder dem Partner unter der Bettdecke.
Der Tag besteht aus Millionen kleiner Gewohnheiten, sie bilden das Mosaik, aus dem das Sein besteht, und wehe, wenn sie einem genommen werden. Die Welt, die sich gerade rasend schnell verändert, die Unwetter, die Pandemien, das Sichtbarwerden der Ausbeutung, in der sich die meisten Arbeitnehmenden befinden, all das bedroht das Gewohnheitsrecht, das viele zu haben meinen. Ein Leben als irgendwem überlegener Westeuropäer.
Als würde man sich auflösen in der Feindlichkeit des Lebens
Viele Westeuropäer haben sich an die Abwesenheit eines Krieges so sehr gewöhnt, dass sie es für ihr eigenes Verdienst halten. So wie sie sich an den Wohlstand gewöhnt haben oder an die Angst, die zum Bedrohungsmechanismus des Kapitalismus gehört. Streng dich an, verkaufe deine Lebenszeit, sonst verlierst du den Job, die Wohnung, die Daseinsberechtigung.
Diese für wenige wunderbare Erfindung des Wettbewerbs, aus dem fliegt, wer nicht leistet. Und nur wer leistet, kann sich irgendein Zeug leisten, was dann herumsteht. Und die Angst befeuert, es wieder zu verlieren. Egal, die Angst ist vertraut, die Arbeit wird nicht hinterfragt, so ist es eben. Nichts soll sich verändern, von außen. Vermutlich ist der größte Albtraum der meisten, Gewohnheiten zu verlieren. Als würde man auseinanderfallen, keinen Boden, kein Geländer, keine Sicherheit mehr haben, und sich auflösen in der Feindlichkeit des Lebens.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
———————————————————————-
Grafikquellen :
Oben — sieht man in letzter Zeit häufig
Source | Berliner Stadtbild – |
Author | Rolf Dietrich Brecher from Germany |
This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic license. |
This image was originally posted to Flickr by Rolf Dietrich Brecher at https://flickr.com/photos/104249543@N07/49662579196. It was reviewed on by FlickreviewR 2 and was confirmed to be licensed under the terms of the cc-by-sa-2.0. |
—————————
Unten — Sibylle Berg, Frankfurter Buchmesse 2012