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Wenn alle gehen,

Erstellt von Redaktion am Sonntag 28. Oktober 2018

Wenn alle gehen, bleibt die Wut

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Von Saikou Suwareh Jabai

Aus Gambia wollen viele weg. Ich bin noch hier. Es ist nicht Europa, das uns ein Leben in Würde schuldet, sondern mein Land.

Als Kind war ich fest davon überzeugt, dass alle erfolgreichen Afrikaner es entweder in Europa oder in Amerika geschafft haben. Vor fast zwei Jahrzehnten, im Jahr 2000, haben zwei meiner Brüder unser Heimatland Gambia verlassen, um sich auf den „Backway“ zu machen – den Weg durch die Hintertür nach Europa. Damals war der Landweg noch nicht so gefährlich, weil die meisten Migranten nach Marokko gingen, wo durch die Meerenge Europa ganz nah ist.

Doch seit dem Sturz Muammar al-Gaddafis im Jahr 2011 ist Libyen ein zerfallener Staat. Afrikanische Migranten benutzen seitdem diese Route und den viel gefährlicheren Weg über das Mittelmeer nach Lampedusa in Italien. Meine beiden Brüder wurden aus Spanien und Italien insgesamt viermal zurück nach Marokko deportiert. Jedes Mal hatten sie geglaubt, es nun endlich geschafft zu haben, und jedes Mal waren sie unendlich frustriert. Der Jüngere, Abdou, entschloss sich nach zwölf Jahren vergeblicher Versuche zurückzukehren. Der andere, Amfaal, reist bis heute zwischen verschiedenen nordafrikanischen Staaten hin und her.

In all diesen Jahren ging ich in meinem Dorf noch zur Schule; meine Kindheit war geprägt von dem Unbehagen, meine Brüder nicht um mich zu haben. Noch viel schwieriger fand ich es, nichts von ihnen zu hören, während zugleich täglich neue Nachrichten von gesunkenen Booten und steigenden Zahlen toter Migranten auftauchten, deren Identität nirgendwo dokumentiert ist. Im Jahr 2014 ging mein Vater, der den Lebensunterhalt für unsere Familie bestritt, in Rente. Allen war klar, dass dieser Einschnitt Chaos bedeuten könnte. Wir überlegten, ob noch jemand nach Europa aufbrechen sollte. Auch ich habe unzählige Male daran gedacht zu gehen, aber ich blieb, weil sonst niemand mehr übrig geblieben wäre, um sich um die Eltern zu kümmern. Irgendwann wurde mir klar, dass ich es mit meinen Fähigkeiten und der richtigen Ausbildung auch in Gambia schaffen könnte, für mich und meine Familie zu sorgen. Ich wollte nicht mein Leben riskieren für eine Reise, die im Grunde eine Selbstmordmission ist.

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Schon bevor irreguläre Migration nach Europa zum Massenphänomen wurde, gingen Gambier fort, aber in viel geringeren Zahlen. Sie verließen ihr Zuhause meist aus politischen Motiven. Viele Jahre litt das Land unter einem Tyrannen, der mit eiserner Faust regierte und die Menschen ins Exil trieb. Die meisten gingen, weil das Leben unerträglich war. Politisch, aber auch, weil für ihre grundlegendsten Bedürfnisse nicht gesorgt wurde. Das ordnete sie automatisch in die Kategorie „Wirtschaftsflüchtlinge“ ein. Inzwischen ist in Gambia seit 18 Monaten eine neue, demokratische Regierung im Amt.

Für junge Leute spricht nach wie vor nicht viel dafür zu bleiben, aber auf der anderen Seite gibt es auch nicht mehr so viele Gründe zu gehen. Die neue Regierung hat ein kaputtes System geerbt. Aber es hat inzwischen auch zahlreiche Kommissionen gegeben, die junge Leute eingestellt haben. Und ebenso viele Projekte, die Jobs für die Jugend geschaffen haben; der Bau der Banjul-Barra-Brücke, Straßenbau, Unternehmensgründungen. Ich denke deshalb, dass junge Leute bleiben oder zumindest später wieder heimkehren sollten, denn welchen Sinn hat es sonst, die Regierung zu drängen, das Land zu entwickeln, wenn am Ende doch alle weggehen?

Eine typische Eigenschaft afrikanischer Großfamilien besteht darin, dass alles zusammenbricht, wenn der Ernährer stirbt. In unserer Familie gab es nur noch drei männliche Mitglieder, als mein Vater starb: mich, Abideen und unseren ältesten Bruder Abdou, der als Erster den „Backway“ genommen hat. Alle anderen sind weiblich, darunter meine Mutter und auch meine Zwillingsschwester. Als Ältester wäre es eigentlich Abdous Aufgabe gewesen, Verantwortung für die Familie zu tragen. Doch Abideen musste diese Rolle übernehmen. Denn Abdou war, wie die meisten „Backway“-Rückkehrer, orientierungslos und nicht alltagstauglich. Ein Rückkehrer ist fast immer eine Belastung für seine Familie, weil er von vorne anfangen muss. Abdou kam mit nichts zurück. Als die Situation in der Familie immer schwieriger wurde, entschied sich auch Abideen, sein Glück auf dem „Backway“ zu versuchen. Er ging voller Hoffnung und Entschlossenheit. Als er Libyen erreichte, begann er zunächst mit Maurerarbeiten; Steine formen, bauen, anstreichen. Er schickte ab und zu Geld, um die Familie zu unterstützen. Er sagte uns in einer WhatsApp-Sprachnachricht: „Ich arbeite hier, bis ich genug Geld habe für die Überfahrt nach Italien. Niemand muss für mich Geld zusammenkratzen, ich zahle selbst.“

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So ging es eine ganze Weile weiter bis zu dem schicksalhaften Tag, an dem wir einen Anruf aus Libyen bekamen von einem seiner Kollegen. Er sagte, Abideen sei schwer krank geworden. Als Migrant in einem Land, das nicht sonderlich freundlich zu Fremden ist, bekäme er aber keine medizinische Hilfe. Wenn wir ihn nicht zurückholten, würde er sicher sterben. Es war, als hätte eine Bombe bei uns eingeschlagen! Unsere Familie sah sich mit einer schwierigen Entscheidung konfrontiert. Entweder wir beauftragten jemanden, Abideen zurückzubringen, oder wir würden ihn selbst holen. Nach langen Diskussionen entschieden wir uns für Letzteres: Abdou, der schon viele Jahre in Nordafrika verbracht hatte bei dem vergeblichen Versuch, nach Europa zu gelangen, wurde ausgesucht, ihn zu holen.

Quelle         :         TAZ          >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben     —          Gambia      /     Hauptstadt – Banjul   31.000  Einwohner

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2.)  von Oben     —       Geschäftsstraße in Banjul      20051115-154538

 

 

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