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Welt am Kipppunkt

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 27. Januar 2016

Die neue Unregierbarkeit und der Vormarsch der Anarchie

 von Ulrich Menzel

 Die Welt wird unregierbar. Dieser seit etlichen Jahren zu konstatierende Trend ist im Verlauf des Jahres 2015 besonders manifest geworden. Die Stichworte lauten locker geordnet: EU- und Griechenlandkrise, Krieg in der Ukraine als Restauration des sowjetischen Einflussbereichs und die Rückkehr des Rüstungswettlaufs, Scheitern der militärischen Interventionen in Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, Syrien, Staatszerfall im Komplex Irak-Syrien, Vormarsch terroristischer Organisationen wie IS oder Boko Haram – und schließlich massive Armuts- und Kriegsflucht, die erstmals in großem Stil Europa erreicht (inklusive massenhafter Schleusung als neues Geschäftsfeld des organisierten Verbrechens). Kurzum: Ein Problem verdrängt das andere in der öffentlichen Aufmerksamkeit, ohne dass auch nur eines gelöst ist. (Allenfalls der DFB oder VW sind in der Lage, wenigstens tageweise die Schlagzeilen in anderer Form zu dominieren.)

Sicher ist heute nur, dass alle diese Themen auch 2016 weiter auf der politischen Agenda stehen werden – mit der Konsequenz, dass die bestehenden Institutionen überfordert sind. Besonders in Europa wird sich der Trend zur nationalen Selbsthilfe statt des Vertrauens in die EU-Institutionen verstärken und Deutschland in die ungewollte Rolle des Eurohegemons drängen.

Unregierbarkeit droht damit zu einem Dauerzustand zu werden – im Nahen und Mittleren Osten, in Subsahara-Afrika, im Andenbereich Lateinamerikas, tendenziell sogar an der Peripherie der ehemaligen Sowjetunion im Kaukasus, in der Ukraine, in Zentralasien.

Verantwortlich für das düstere Szenario sind jedoch keine kurzfristigen (und damit schnell korrigierbaren) Ereignisse, sondern langfristige Trends, die keinen linearen, sondern einen exponentiellen Verlauf nehmen, bis sogenannte Kipppunkte erreicht werden. Damit ist gemeint, dass ab einem gewissen Punkt die ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und administrativen Systeme nicht mehr in der Lage sind, die Folgen der Trends zu bewältigen, und folgerichtig kollabieren. Die entsprechende Metapher lautet „Hockeyschlägereffekt“. Das Bild liefert ein waagerecht gehaltener Eishockeyschläger, um dessen Stiel das lange Zeit kaum wahrnehmbare lineare Wachstum oszilliert, bis der Trend bei Erreichen der Kelle in ein exponentielles Wachstum umschlägt, um sich an deren Ende auf hohem Niveau bei abgeschwächtem Wachstum zu stabilisieren. Doch ist der systemische Kipppunkt schon vorher erreicht.

Nachholende und vorauseilende Entwicklung

Eine wesentliche Ursache für die neue Unregierbarkeit besteht paradoxerweise darin, dass in großen Teilen der Welt „nachholende Entwicklung“ stattfindet und in den alten Industrieländern „vorauseilende Entwicklung“ unvermindert fortschreitet. Das bedeutet Wirtschaftswachstum, bessere Ernährung und medizinische Versorgung mit der Konsequenz von Bevölkerungswachstum bei steigender Lebenserwartung und höherem Pro-Kopf-Einkommen. Innerhalb einer Generation hat sich so die Weltbevölkerung auf mehr als 7 Mrd. Menschen verdoppelt, ein welthistorisch einmaliger Vorgang und eindrucksvoller Beleg des „Hockeyschläger-Effekts“.

Alles zusammen führt zu exponentiellem Verbrauch und ebensolcher Belastung von Böden, Rohstoffen, Energie, Wasser, Luft – mit massiven Konsequenzen für den Klimawandel, dem die ariden und semiariden Gebiete vom Nahen Osten bis nach Zentralasien, aber auch in Kalifornien und den Great Plains besonders unterworfen sind. Bei Letzteren handelt es sich um die Kornkammer der Welt, die auch die weltweite Armenspeisung bedient. Daraus resultieren innergesellschaftliche Verteilungskonflikte um knapper werdende Ressourcen wie neue Formen des Kolonialismus, die sich etwa im chinesischen Landgrabbing in Afrika äußern. Aus diesem komplexen Zusammenhang rührt eine der tieferen Ursachen für den fortschreitenden Staatszerfall und die großen Wanderungsbewegungen.

Während der Bedarf nach Weltordnung wächst, schwindet zugleich die Fähigkeit, diesen Bedarf zu bedienen. Grundsätzlich gibt es vier Modelle, wie mit der wieder zunehmenden Anarchie der Staatenwelt (auch innerhalb einstmals scheinbar festgefügter Staaten) angesichts des nicht vorhandenen Weltstaats, der mit einem globalen Gewaltmonopol ausgestattet ist, umgegangen werden kann: Selbsthilfe, Kooperation, Hegemonie und Imperialismus.

Selbsthilfe, Kooperation, Hegemonie und Imperialismus

Der realistischen Schule entspricht das Selbsthilfeprinzip. Jeder Staat versucht, so gut er kann, seine Interessen nach außen aus eigener Kraft wahrzunehmen. Dazu benötigt er Macht und wirtschaftliche Ressourcen. Für große Staaten ist dies eher möglich als für kleine, zumal jene die Option des Isolationismus besitzen. Dem idealistischen Denken entspricht die Kooperation der Staaten durch Verträge, internationale Organisationen, das Völkerrecht und normengeleitetes Handeln, das auf gemeinsamen Werten beruht. Das Recht soll die Macht ersetzen. Die EU ist dafür das prominenteste und weltweit erfolgreichste Beispiel.

Wenn man allerdings nicht die Anarchie, sondern die Hierarchie der Staatenwelt als deren wesentliches Kennzeichen ansieht, bieten sich das hegemoniale und das imperiale Modell an, bei denen die großen Mächte anstelle des nicht vorhandenen Weltstaats für Ordnung sorgen.

Der (benevolente) Hegemon stützt sich auf seine überragende Leistungsfähigkeit und die Akzeptanz der Gefolgschaft. Er sorgt für Weltordnung durch die Bereitstellung internationaler öffentlicher Güter, in deren Genuss die Gefolgschaft nahezu kostenlos gelangt. Nur der Hegemon bzw. dessen Steuerzahler kommen für die Bereitstellung auf, alle anderen sind Freerider bzw. Cheaprider, wenn sie Beiträge weit unterhalb ihrer Leistungsfähigkeit erbringen. Damit konzentriert sich die Frage, wie internationale Ordnung zustande kommt, darauf, wer, wie und in wessen Interesse internationale öffentliche Güter wie zum Beispiel (militärische) Sicherheit und (wirtschaftliche) Stabilität bereitstellt. Nach 1945 haben die USA die Rolle des Hegemons über die westliche Welt eingenommen – und seit 1990 über die gesamte.

Das Imperium nimmt seine Ordnungsfunktion dagegen durch Herrschaft wahr. Es liefert sogenannte Clubgüter für die Unterworfenen und akquiriert dafür deren Ressourcen. Internationale Clubgüter haben eine regionale Reichweite (Beispiel militärischer Schutz), da sie nur von denjenigen in Anspruch genommen werden können, die zum „Club“ des Imperiums gehören. Da sie zu den Finanzierungskosten herangezogen werden, sind sie auch keine Free- bzw. Cheaprider. Die Sowjetunion gehörte zwischen 1945 und 1990 zum imperialen Typ. Das dritte Modell beruht demnach auf Freiwilligkeit der Gefolgschaft gegenüber dem Hegemon, das vierte auf Zwang, den das Imperium auf die Beherrschten ausübt.

Von der bipolaren zur unipolaren Konstellation

Quelle: Blätter >>>>> weiterlesen

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Fotoquelle: Wikipedia – Urheber userinjapan –/–   CC BY-SA 2.0

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