Was immer glücklich macht
Erstellt von Redaktion am Sonntag 28. Juni 2020
Migration und Fachkräftemangel
Von Anna Lehmann
Ein junger Vietnamese bekommt in Thüringen die Chance, Elektroniker zu werden. Nach drei Monaten schmeißt er hin. Die Story eines Missverständnisses.
Nach dem Kaffeetrinken bauen sie das Buffet fürs Abendessen auf. In der hohen Maschinenhalle packen die Frauen die Reste der selbst gebackenen Kuchen ein. Oben Stahlträger, unten Tupperdosen. Der Caterer stellt Schlachteplatte, Sauerkraut und Kartoffeln bereit. Um die Getränkestände bilden sich Trauben von Menschen.
Es ist der 29. November 2019, die Firma Dreiling feiert den 40. Geburtstag des Chefs, es ist zugleich die Weihnachtsfeier. Dreiling, ein Maschinenbauer in Thüringen, hat Geschäftspartner:innen und Freunde eingeladen. Die Herren aus dem Vorstand der Kreissparkasse sind da, fast alle 140 Mitarbeiter:innen mit Partner:innen und Kindern. Und die Azubis.
An einem der langen Tische sitzt Tu Nguyen, 19 Jahre alt. Er macht gerade eine Ausbildung als Elektroniker in der Firma und wohnt hier in Geisleden, einer 1.000-Einwohner-Gemeinde 70 Kilometer nordwestlich von Erfurt.
18 Flugstunden trennen Nguyen von seiner Heimatstadt, der Millionenstadt Hanoi. Zusammen mit 35 anderen Jugendlichen ist er im September 2019 nach Deutschland gekommen. Die Vietnames:innen sind die Hoffnung der Thüringer Mittelständler.
Jeder dritte Betrieb in Deutschland meldete 2019 unbesetzte Ausbildungsplätze. Im Osten ist der Mangel besonders groß. Der Geburtenknick in den Neunzigern und die Abwanderung schlugen im dritten Jahrzehnt nach der Wende voll durch. Das Programm „Auszubildende aus Drittstaaten“ soll helfen, den chronischen Mangel an Nachwuchs zu lindern.
An diesem Abend sitzt Tu Nguyen ganz allein am Ende der Tafel. Die anderen Lehrlinge stehen im vorderen Teil der Halle zusammen. Nguyen schaut auf sein Handy. Er überlegt, wann er gehen kann, ohne dass es unhöflich wirkt. Am nächsten Morgen wird er seine Kündigung in den Briefkasten neben der Werkshalle werfen.
Was ist schiefgegangen? Ist Nguyen gescheitert – oder das Programm?
Die taz hat Tu Nguyen über ein Jahr begleitet. Das erste Treffen fand im April 2019 in Hanoi statt, es folgten drei Besuche in Geisleden. Einmal war er in Berlin. Es besteht weiter Kontakt zu ihm. Am Anfang stand die Idee einer Reportage, die zeigen sollte, wie die deutsche Wirtschaft im Ausland Lehrlinge sucht. Daraus geworden ist die Geschichte eines jungen Manns auf der Suche nach sich selbst – und einem Platz für sich in Deutschland.
Flyer aus Südthüringen
Nguyen ist 19 Jahre alt, als wir uns das erste Mal begegnen, er hat schmale Hände und einen weichen Blick, er trägt eine randlose Brille. Er spricht leise, denkt zwischen den Sätzen nach und tippt dabei leicht mit dem Zeigefinger gegen die Oberlippe. Er lese gern, erzählt er bei der ersten Begegnung in Hanoi, und schreibe auch Gedichte. Er interessiert sich für Fotografie. Auf seiner Facebook-Seite postet er Aufnahmen. Wie die eines Vogels am Küchenfenster seiner Wohnung. „Seht mal, wen ich heute Morgen entdeckt habe“, schreibt er dazu.
Nguyens Weg nach Deutschland beginnt im Sommer 2018. Damals, im Juni, nimmt er am Aufnahmetest der Nationaluniversität Hanoi teil. Fast eine Million Schulabgänger:innen machen die landesweiten Prüfungen, nur jede:r Zweite bekommt einen Platz. An den renommiertesten Universitäten in Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt ist die Konkurrenz am größten, die Auswahl am härtesten.
„Ich hab’s versaut“, denkt Nguyen nach der Matheprüfung. Sein Vater wartet vor der Uni auf ihn und drückt ihm einen Flyer in die Hand, von einer Firma, die im Auftrag der Südthüringer Industrie- und Handelskammer Azubis für ihre Mitgliedsunternehmen rekrutiert. „Lust, ins Ausland zu gehen?“, fragt er. – „Ich habe wohl keine andere Wahl“, antwortet Nguyen. Er bewirbt sich für das Programm. Und wird genommen.
Der Vater, ein kräftiger Mann mit kurzem Haar, kennt Deutschland. Er hat in den Neunzigern in Rheinland-Pfalz als Kellner und Erntehelfer gearbeitet. Tu Nguyen ist aufgewachsen mit den Erzählungen seines Vaters, wie toll es in Deutschland sei. In Hanoi arbeitet der Vater heute als Kraftfahrer, die Mutter ist Hausfrau.
Die Familie ist nicht reich, aber sie hat ein Haus, und die Eltern stecken viel Geld in die Ausbildung der beiden Kinder. Die ältere Schwester hat Englisch studiert und arbeitet als Lehrerin, Tu Nguyen hat sein Abi mit Einserschnitt gemacht. „Streng dich an, damit du besser wirst“ – diesen Satz hat er oft von seinen Eltern gehört.
Später erfährt Nguyen, dass er den Aufnahmetest für die Uni doch bestanden hat. Er entscheidet sich trotzdem für Thüringen und das Angebot, eine Ausbildung zum Polsterer zu machen. Er war noch nie im Ausland.
Jede:r Dritte ist jünger als 25 Jahre
In Vietnam leben fast 95 Millionen Menschen, jede:r Dritte ist jünger als 25 Jahre. Der enorme Kinderreichtum belastet das Land auch – es gibt nicht genügend Jobs, Studien- und Ausbildungsplätze für alle. Nur die Besten haben eine Chance auf die angesehenen Akademiker:innenjobs. Selbst viele Hochschulabsolvent:innen finden nach dem Studium keine Arbeit.
In Deutschland das entgegengesetzte Bild: eine älter werdende Gesellschaft und Betriebe, die – vor der Coronakrise – selbst hochwertige Ausbildungsplätze oft nur schwer besetzen konnten.
Ein reiches westliches Industrieland mit sinkender Geburtenrate und ein sehr viel ärmeres Schwellenland mit einer wachsenden Bevölkerung. Den einen mangelt es an Menschen, den anderen an gut bezahlten Jobs. Es klingt wie eine perfekte Liaison, eine Win-win-Situation, zumindest aus Sicht der Mittelständler:innen in Deutschland. Aber ist es auch ein Austausch auf Augenhöhe?
Seit 1955 warb die Bundesrepublik Gastarbeiter:innen an – zunächst aus Italien, dann auch aus Spanien, Griechenland, der Türkei, Portugal und Jugoslawien. Die DDR unterzeichnete 1979 ein Abkommen mit der vietnamesischen Regierung, um Zehntausende Vertragsarbeiter:innen zu holen. In beiden Staaten sollten die Ausländer:innen monotone Tätigkeiten in der Produktion erledigen. Bloß keine Wurzeln schlagen sollten sie und nach getaner Arbeit in ihre Heimatländer zurückkehren. Es kam anders.
Thüringen will es diesmal besser machen. Man will Menschen, die sich wohlfühlen und sesshaft werden. Die Jugendlichen lernen vor der Abreise ein Jahr Deutsch, die Industrie- und Handelskammer (IHK) bezahlt den Kurs. Vor Ort, in Thüringen, werden sie während der Ausbildung von Sozialarbeiter:innen betreut. Die begleiten sie zum Arzt, zur Ausländerbehörde oder zum Sportkurs. Die Kosten übernimmt der Freistaat.
Die Firma Dreiling, ein Familienunternehmen, nimmt seit zwei Jahren an dem Programm teil und hat mehrere vietnamesische Auszubildende. Engelbert Dreiling hat das Unternehmen 1982 gegründet und bis zur Wende neun Mitarbeiter:innen beschäftigt. Heute baut die Firma maßgeschneiderte Maschinen für den internationalen Markt. Jedes Jahr bietet sie Ausbildungsplätze an: für Elektroniker:innen, Mechaniker:innen und Mechatroniker:innen. Man habe in den vergangenen Jahren immer weniger Bewerber:innen für die Plätze gefunden, sagt Juniorchef Sven Dreiling, Sohn des Gründers. „Wir nehmen mittlerweile auch Leute, die nicht die besten Noten in Mathe und Physik haben.“ Dennoch blieben Plätze unbesetzt. Bis die Dreilings von dem Vietnamprogramm hörten.
Die Liste ist nach wenigen Stunden voll
Als die IHK die Anmeldung für interessierte Ausbildungsbetriebe im August 2018 startet, ist die Liste nach wenigen Stunden voll. Die Dreilings, die im Vorjahr noch sechs Azubis aus Vietnam rekrutiert haben, bekommen nur einen Platz auf der Warteliste.
Die Auswahl in Vietnam übernimmt eine vietnamesische Firma, die Hanoi IEC. Sie gehört Thi Thanh Tam Nguyen. In Thüringen kennt man die resolute Frau als Frau Tam, seit 2007 arbeitet sie eng mit dem Land zusammen. Der vietnamesische Staat schickte sie noch vor dem Mauerfall mit einem Regierungsstipendium nach Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, um Philosophie zu studieren.
2001 kehrte sie mit drei Abschlüssen in Philosophie, Internationalen Beziehungen und Wirtschaft zurück. Seither arbeitet sie als Beraterin. 100 Jugendliche hätten sich für die 40 Plätze des Thüringenprogramms beworben, sagt Frau Tam. Sie wählt die künftigen Azubis nach Noten und Sprachkenntnissen aus oder rekrutiert sie direkt an der Technischen Fachhochschule.
„Ich hatte größten Respekt davor, junge Leute aus einem anderen Kulturkreis dauerhaft in Thüringen anzusiedeln“, sagt Ralf Pieterwas, ein drahtiger Mann mit Bürstenschnitt. Der Hauptgeschäftsführer der IHK Südthüringen reiste 2016 zum ersten Mal nach Vietnam, zur Erkundung. Heute sei er froh, dass der Austausch läuft.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Blick auf Hanoi
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2.) von Oben — Blick auf Geisleden
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Unten — Combined images of landmarks in Hanoi.