Warum schweigt das Lamm?
Erstellt von Redaktion am Sonntag 30. Dezember 2018
Darum schweigen die Lämmer!
Quelle : INFOspertber CH.
Von Christian Müller
Die westlichen Demokratien sind so strukturiert, dass sie die Macht der Mächtigen nicht tangieren. Zu einem Buch, das aufrüttelt.
Es gibt Tage, die könnte man im Nachhinein verfluchen. Aber es gibt auch Tage, deren Kalenderblatt man am liebsten einrahmen und für einige Zeit an die Wand hängen würde. So ein Tag war für mich der 30. Oktober 2018. Schon vor 8 Uhr am Morgen erhielt ich ein Mail von meinem Freund Pietro: «Ich glaube ich spinne. Lese ich jetzt die NZZ oder lese ich die WOZ?»
In der NZZ dieses Tages war auf Seite 11 ein «Seitenblick» von Milosz Matuschek, und da stand zu lesen: «Die Demokratie hatte schon für Aristoteles einen Konstruktionsfehler: Wenn alle Menschen die gleiche Stimmgewichtung haben, wie verhindert man dann, dass das Heer der Besitzlosen die wenigen Reichen enteignet? Die Antwort der amerikanischen Gründerväter, wie Madison, darauf war klar: Es braucht eine Demokratieform, die es de facto denjenigen erlaubt zu herrschen, die das Land besitzen, ohne dass dies der besitzlosen Masse auffällt: Die ‹repräsentative Demokratie› war geboren und sie hat sich bis heute im Kern nicht verändert.»
Matuschek weiter: «Für die Beschreibung dieses Umstands hat sich seit der Antike ein Bild etabliert: Die Menschen sind strukturell auch in der Demokratie immer Lämmer, die einem Herdenbesitzer gehören – egal ob sie das im Alltag spüren oder nicht. Ihre Freiheit besteht darin, aus dem politischen Personal diejenigen Hirten (Politiker) auszusuchen, die sie sympathisch genug finden, um von ihnen für ein paar Jahre im Glauben belassen zu werden, dass sie doch eine Art Kontrolle haben. Das Bild der Lämmerherde findet sich als roter Faden bei Platon, Hume, Madison, Friedrich II., Tocqueville, Russell und Lasswell, ohne dass jemals detailliert beschrieben worden wäre, wie sich dieses Verhältnis konkret im Alltäglichen artikuliert.
Und jetzt, Milosz Matuschek – und dies in der NZZ!: Diese Lücke schliesst nunmehr der Kognitionspsychologe Rainer Mausfeld (‹Warum schweigen die Lämmer?›) mit einer so schmerzhaften wie brillanten Endoskopie des gegenwärtigen politischen Systems. Mausfeld ist ein Volksaufklärer in der Denktradition Humboldts, Deweys und Chomskys, der minuziös dechiffriert, was sonst viele Bürger nur als Grundgefühl hegen: Etwas ist hier faul. Mausfeld beschäftigt sich mit dem hässlichen Arsenal, das in Demokratien genutzt wird, um die lobotomisierte (neurochirurgisch behandelte) Herde auf Kurs zu halten: Meinungs- und Empörungsmanagment, Denunziationsbegriffe zur Kanalisierung der öffentlichen Meinung, Soft-Power-Techniken und Nudging (psychologische Beeinflussung), um die Details der Umverteilung von unten nach oben zu verbergen.»
Und, Matuschek weiter unten, abschliessend: «Die Bilanz der letzten Jahre in Sachen Gleichheit vor dem Recht sieht verheerend aus. Mausfelds Buch ist ein Weckruf zur rechten Zeit: Der Demokratie laufen die Demokraten davon, während die Termiten unter den politischen Kräften begeistert an ihren morschen Rümpfen nagen. Die Zeit zur umfassenden Renovierung des Systems wird knapp. Dank Mausfeld wird nun endlich klar, wo jeder ansetzen kann, um die Demokratie zu retten: bei sich selbst.»
Nach Pietros Mail-Hinweis habe ich den «Seitenblick» natürlich sofort gelesen und gleich darauf der Buchhandlung «Alter Ego» in Luzern gemailt, dass ich – von der Ausbildung her Historiker – dieses Buch so schnell wie möglich haben muss.
«Ebenso schmerzhaft wie brillant»
Die paar Franken, es zu kaufen, und die Zeit, die 218 Seiten (ohne Register) zu lesen, haben sich gelohnt. Mausfeld öffnet dem Leser in vielen Punkten ganz einfach die Augen. «Aus dieser Sicht habe ich das noch nie angeschaut», muss man sich da öfters eingestehen. Auch wenn man bisher gemeint hat, links und rechts genügend hingeschaut zu haben.
Etliche meiner Freunde und Bekannten werden das Buch nach 20 oder 30 Seiten allerdings beiseite legen: «Ideologie halt», werden sie sagen, und die Nase rümpfen. Und sie bestätigen damit genau die Erkenntnis von Rainer Mausfeld, die mehr als nur zu denken gibt: Die Machtelite hat es geschafft, den Raum für die politische Debatte so einzuengen, dass ganz viel einfach nicht mehr zur Diskussion steht, weil a priori «unvernünftig», also ausserhalb des Diskutablen. Mausfeld kommt zum Schluss, dass die heutige Demokratie ein Insiderspiel zwischen Kartellparteien ist und dass genau so viel zur Debatte steht, dass die Grundprinzipien der Machterhaltung der Elite und des Neoliberalismus nicht in Frage gestellt werden.
Rainer Mausfeld wagt es denn auch, den Neoliberalismus recht prägnant zu definieren: Das Ziel der neoliberalen Revolution ist eine Umverteilung von unten nach oben, von Süd nach Nord und von der öffentlichen in die private Hand. Und er liefert dazu zahlreiche Beispiele. Auch wenn man das Buch dann beiseite legt und zuerst wieder ein paar Nächte darüber schlafen will: In vielen Punkten muss man einfach sagen: Ja, je mehr ich darüber nachdenke, er hat einfach recht.
Wenn der Leser, wie der hier Schreibende, ein Journalist ist und viele Jahre auch als Medienmanager unterwegs war, trifft es ihn doppelt. Mausfeld kritisiert die Medien fundamental. Sie hätten, so sagt er, willfährigst mitgeholfen, den Debattenraum so einzuschränken, dass die Machtelite nie in Gefahr geriet. Die heutige parlamentarische Demokratie ist das spezifisch zugeschnittene System, die Macht und den Besitz der Eliten nicht zu tangieren, die Masse aber in der Illusion zu belassen, mitreden zu können. So, wie im Titel schon angetönt: den Lämmern einen Hirten zu geben und sie sich so wohlfühlen zu lassen. «Wo habe auch ich als Journalist mitgeholfen, die Macht der Machteliten zu erhalten?», muss man sich da öfters fragen.
Das Folterverbot als Beispiel
Wer sich durchbeisst und das Buch nicht beiseite legt, wie es der psychologische Selbstschutz manchmal fast erfordert, kommt im letzten Kapitel auf Facts, die in aller Deutlichkeit zeigen, wie sich die Machtelite nicht zuletzt auch mit Unterstützung der Intellektuellen und der Wissenschaftler zu halten vermag. Nach dem Zweiten Weltkrieg, am 10. Dezember 1948, verabschiedeten die Vertreter aller damaligen UN-Staaten die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die unter anderem ein absolutes Verbot der Folter umfasst. In der Zwischenzeit aber sind die Foltermethoden mit Hilfe von akademisch geschulten Psychologen – und, zum Beispiel 2007, mit offizieller Unterstützung der «American Psychological Association» APA mit um die 150’000 Mitgliedern! – so verfeinert worden, dass es nicht mehr des körperlichen Schmerzes bedarf, wie damals in vergangenen Zeiten, um einem Menschen den eigenen Willen zu brechen. Eine grausame Kombination von Einzelmassnahmen, die allein noch nicht als Folter geächtet werden müssten, kommt zum gleichen Ziel. Man foltert jetzt «seelisch», könnte man es vielleicht nennen: Mausfeld beschreibt es en détail, braucht diesen Begriff dabei allerdings nicht. Und er zitiert, belesen wie immer, auch deutsche Rechtsgelehrte, die für Deutschland ein eigenes Folterrecht einfordern, da die Absolutheit des UN-Folterverbots den «Geist des Totalitarismus» enthalte und eine sicherheitspolitische Selbstabdankung des Staates sei…
Soweit sind wir in den letzten 70 Jahren seit 1948 also gekommen. Es wird gefoltert, wie eh und je, nur mit raffinierteren, vielleicht sogar brutaleren Methoden. Mausfeld liefert etliche konkrete Beispiele. Und aus dem absoluten Verbot soll ein länderspezifisches werden, im Interesse der Sicherheit. Und Achtung: Zur «Sicherheit» gehört auch die Erhaltung der Macht der Besitzenden und Mächtigen.
Alles gut belegt
Und Achtung: Dass Mausfelds Buch nicht einfach gut verkaufte Ideologie ist, zeigen auch die Quellen. Rainer Mausfeld ist sehr belesen und belegt seine Aussagen mit Hunderten von Literatur-Angaben. So kennt er natürlich den Satz von James Madison (1751 – 1836), wonach jede Regierungsform so gestaltet sein müsse, dass die Minorität der Reichen vor der Mehrheit der Armen geschützt ist (to protect the minority of the opulent against the majority). Oder er zitiert Harold Lasswell (1902 – 1978), der argumentierte, der Demokratie sei dann der Vorzug zu geben, wenn mit geeigneten Techniken des Meinungsmanagements sichergestellt werden könne, die Bürger in Übereinstimmung mit dem politischen System zu halten. Techniken des Meinungsmanagements hätten gegenüber den Kontrolltechniken der Diktatur den Vorteil, dass sie kostengünstiger seien als Gewalt (»cheaper than violence, bribery or other possible control techniques»).
Darum schweigen die Lämmer
Rainer Mausfeld hat das Buch unter dem Titel «Warum schweigen die Lämmer?» veröffentlicht. Sein Buch aber ist seine Antwort darauf: Weil es von oben so gewollt und mit raffiniertem Meinungsmanagement – und nicht zuletzt dank willfährigen Medien – so durchgesetzt wird.
Das Buch zu lesen macht keinen «Spass», aber es öffnet die Augen, wie nicht schnell ein anderes.
Pietro, der mir am 30. Oktober per Mail den Hinweis auf den «Seitenblick» in der NZZ gegeben hat, hat von mir eine Flasche «Castello di Cacchiano» zugut, und Milosz Matuschek müsste von der Abo-Abteilung der NZZ eigentlich eine Abo-Werbe-Prämie erhalten. Er hat mit seinem «Seitenblick» dafür gesorgt, dass ich das NZZ-Abo mindestens noch einmal für ein Jahr verlängere, trotz der jetzigen, unerträglichen Chefredaktion. Rainer Mausfelds «Warum schweigen die Lämmer?» wurde durch den NZZ-Schreiber und den NZZ-Leser für mich zu so etwas wie ein zu früh eingetrudeltes Weihnachtsgeschenk.
- Zum vollständigen «Seitenblick» von Milosz Matuschek, hier anklicken.
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Grafikquellen :
Oben — Merinoschaf mit zwei Anfang März 2010 geborenen Lämmern, fotografiert in Heidelberg (Baden-Württemberg, Deutschland)
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