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Warum das Grauen kam

Erstellt von Redaktion am Dienstag 1. März 2011

Verstehen, warum das Grauen kam.

File:Stalin è morto.jpg

Deutsche Antifaschisten in Stalins Lagern – Betroffene haben sich nach langem Schweigen in einem Arbeitskreis zusammengefunden.

»Arbeits- und Gesprächskreis zum Gedenken an die in der sowjetischen Emigration verfolgten, deportierten und ermordeten deutschen Antifaschisten bei der Berliner VVN-BdA« – ein langer und komplizierter Name. Er steht für eine Gruppe von Menschen, die nach Jahrzehnten des Schweigens den Austausch suchen. Hochbetagte, die während ihres Exils in der Sowjetunion über Jahre in Arbeitslagern verschwanden und wie durch ein Wunder überlebten; dann die etwas Jüngeren, die als Kinder ihren Eltern entrissen wurden oder die in der Verbannung geboren sind; schließlich auch die Enkelgeneration – so um die 40 –, die wissen will, was damals ihren Eltern und Großeltern unter Stalin im Namen des Sozialismus geschah. Die Zahl der Deutschen, die ab 1936 Opfer der Massenrepressionen wurden, wird auf zwei- bis sechstausend geschätzt. 567 Namen weisen die Listen auf, die allein die Namen derjenigen enthalten, die 1937 und 1938 vorwiegend in den Gebieten Moskau und Leningrad erschossen wurden.

Initiator des Gesprächskreises, der seit Oktober 2008 besteht, ist Oswald Schneidratus. Was er über das Schicksal seiner Familie erzählt, ist bei aller Einmaligkeit exemplarisch. Geboren wurde er 1951 nahe der sibirischen Stadt Krasnojarsk. Sein Großvater, Jahrgang 1881, Mitglied von SPD, USPD, Spartakusbund und dann am Ende des Ersten Weltkrieges einer der Mitbegründer der KPD, war schon in den 20er Jahren in die Sowjetunion gegangen. In Moskau beteiligte er sich in verschiedenen Funktionen am Aufbau des Landes, bevor er am 5. Juni 1937 verhaftet wurde. Was seine Angehörigen erst nach 1990 erfuhren: Bereits am 22. August 1937 war das Todesurteil »wegen konterrevolutionärer und terroristischer Tätigkeit« ausgesprochen und noch am selben Tag auf dem Schießplatz Butovo bei Moskau vollstreckt worden. Seine Frau Elisabeth Schneidratus wurde nach Kasachstan verbannt, die Tochter Ilse in die »Arbeitsarmee« zwangsrekrutiert.

Sein Sohn Werner, der Vater von Oswald Schneidratus, damals ein junger Architekt, der an der Generalrekonstruktion Moskaus mitwirkte, wurde am 1. November 1937 »als Sohn eines Feindes des Volkes« verhaftet. Elf Jahre brachte er im Arbeits- und Straflager Kolyma im Fernen Osten zu. Unter extremen klimatischen Verhältnissen mit bis zu 50 Grad Frost und unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen bauten die Häftlinge unter anderem Goldsand ab.

Werner Schneidratus war einer der wenigen, die das überlebten. Doch nach elf Jahren Kolyma folgte 1948 für ihn auf der Grundlage der gleichen Anschuldigungen wie schon 1937 ein weiterer Urteilsspruch: die »ewige Verbannung«.

Dass sich an diesem Zustand jemals etwas ändern könnte, war 1951, als Oswald als Sohn zweier Verbannter geboren wurde, nicht abzusehen. Doch die mit dem Tod Stalins 1953 einsetzende erste Aufarbeitung des Personenkults brachte auch für die junge Familie die Rehabilitierung. Wie halbherzig sich die Veränderungen vollzogen, zeigte die Rehabilitierung von Schneidratus senior. »Auf Grund einer neuen Sachlage« sei das Urteil kassiert, heißt es im entsprechenden Schreiben.

Zur gleichen Zeit besann man sich höheren Orts des Architektenberufes von Werner Schneidratus und bot ihm das Amt des Chefarchitekten für die geplante Stadt Chruschtschowsk an. Da hatte er jedoch bereits Kontakte zur DDR aufnehmen können, wohin die Eltern mit Oswald 1955 reisten. Diesen Weg gingen die meisten in der Sowjetunion verfolgten deutschen Antifaschisten, wohl wissend, dass in Westdeutschland Kommunisten nicht gelitten waren, es sei denn, sie schworen ihrer Gesinnung ab.

Um diese Fakten wurde in der Familie Schneidratus kein Geheimnis gemacht. Wurde darüber gesprochen, dann immer unter dem Blickwinkel: »Wir sind die richtigen Kommunisten, nicht Stalin«, zitiert Schneidratus seinen Vater. Aber er weiß von anderen, dass deren Eltern ihre Erlebnisse, ihre tiefen Verwundungen fest verschlossen hielten und bis zu ihrem Ende schwiegen. Dieses Schweigen, das sich nach der Wende fortsetzte, war es unter anderem, das ihn veranlasste, den Arbeits- und Gesprächskreis anzuregen.

Die VVN-BdA, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten, schien ihm dafür der geeignete Rahmen, waren doch viele derjenigen, die während des Exils zu Tode kamen oder in Lagern litten, als Antifaschisten aus Nazi-Deutschland in die Sowjetunion gekommen. Etliche Betroffene sind in der VVN aktiv. So ist der über 90-jährige Frido Seydewitz, der als Jugendlicher nach Kolyma deportiert worden war und dort auch Werner Schneidratus kennenlernte, heute Ehrenvorsitzender der Organisation in Sachsen.

Das Schweigen war es auch, was die ersten Gesprächsrunden bestimmte. Warum, so die Frage, haben wir, warum habt ihr das Erlittene so lange nicht ausgesprochen? Eine Erklärung dafür liegt auf der Hand: In allen sozialistischen Staaten gab es kein Interesse, diese in der Sowjetunion verübten ungeheuerlichen Verbrechen öffentlich zu behandeln. Dieses quasi verordnete Schweigen wurde von vielen Betroffenen als notwendig akzeptiert und wirkte so subtil, dass es zu einem selbstverordneten Schweigen wurde, das sich viele auferlegten. »Teilnahme am sozialistischen Aufbau in der UdSSR« hieß es häufig in den offiziellen Lebensläufen über die Jahre der Zwangsarbeit.

Oswald Schneidratus versucht eine Erklärung dafür – ohne Psychologe zu sein und ohne wissenschaftliche Untersuchungen, wie er betont. Sein Vater, zum Beispiel, war begeistert von der Abrechnung Chruschtschows mit dem Personenkult Stalins und schrieb diesem sogar einen offenen Brief. Er war überzeugt, dass jetzt endlich der richtige Sozialismus aufgebaut würde. Nach seiner Rückkehr in die DDR führte er das Leben, das er sich ersehnt hatte. Als Architekt war er am Wiederaufbau der Dresdner Semperoper und an der Errichtung des Berliner Fernsehturms beteiligt. »Er, der Sträfling«, sagt sein Sohn, »konnte sinnerfüllt wirken. Welchen besseren Beweis hätte es für ihn geben können, dass die Partei in der Lage ist, ihre Fehler zu überwinden? Und dass man denjenigen, die die DDR auslöschen wollten, keine Argumente liefern dürfe, war Bestandteil seiner Überzeugung.«

Mit diesem Herangehen ist Oswald Schneidratus aufgewachsen, und für ihn war es seinerzeit eine Möglichkeit, das Geschehene zu interpretieren und damit umzugehen. Heute glaubt er, dass die Betroffenen gar keine andere Chance sahen. Mit wem sollten sie – außer gelegentlich im kleinen Kreis von Schicksalsgefährten – sprechen oder das Erlittene aufarbeiten? Sich Wege dafür zu suchen, vielleicht sogar in der Öffentlichkeit, hätte bedeutet, die mehr oder weniger erreichte Sicherheit des Lebens wieder in Frage zu stellen.

Inzwischen sieht Schneidratus auch »die nackte Angst« hinter dem Schweigen. »Diese Erfahrung, es kann jeden treffen und es kann jeder verschwinden, egal ob Arbeiter oder Politbüromitglied, muss sich tief eingegraben haben, ebenso der Wunsch und Wille, dass mir so etwas nie wieder passieren darf und vor allem nicht den Kindern.« Das Schweigen, die Verdrängung war auch der Versuch, das Grauen hinter sich zu lassen und sich ganz auf das neue Leben einzustellen. Schneidratus erinnert sich, dass er seinen Vater, der 2001 gestorben ist, anregen wollte, seine Erinnerungen aufzuschreiben. »Wenn ich das mache, das überlebe ich nicht, hat er mir damals gesagt.«

Der Gesprächskreis bietet nun Gelegenheit, die Jahrzehnte alten Tabus aufzubrechen. Durch Betroffene und ihre Nachfahren und durch Heranziehen von Dokumenten wurden bereits zahlreiche ergreifende Schicksale, die häufig ganze Familien erfasst hatten, rekonstruiert. Sie sollen in eine Wanderausstellung eingehen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Bereits mehrere Veranstaltungen fanden statt, und alle stießen auf ein großes Interesse, darunter eine Konferenz gemeinsam mit der Hellen Panke – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin zum Thema »Das verordnete Schweigen«.

Ein Ort des Gedenkens für die deutschen Antifaschisten, so eine Überlegung aus dem Gesprächskreis, sollte das Karl-Liebknecht-Haus in Berlin sein – heute Sitz des Parteivorstandes der LINKEN und bis zur Besetzung durch die Nazis 1933 Sitz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei.

Oswald Schneidratus war Student in Moskau und hat dort immer noch sehr viele Freunde und auch Verwandte. Von daher weiß er nicht nur theoretisch, dass Millionen Sowjetbürger das gleiche Schicksal erlitten haben wie seine Familie. Die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen ist mühsam und für ihn noch nicht beendet. Seine Gedanken kreisen immer wieder darum, wie so etwas möglich war, wo die gesellschaftlichen Ursachen dafür lagen. Er erinnert daran, dass Marx »klugerweise wenig über den Sozialismus gesagt hat«, und spricht über die verhängnisvollen Auswirkungen von Lenins Theorien zur Partei neuen Typs, über die Diktatur des Proletariats, den Kriegskommunismus …

Die Oktoberrevolution (»eine angeblich proletarische Revolution in einem Land fast ohne Proletarier«) und die folgenden Ereignisse hätten letztlich auch zur Vernichtung der wichtigsten Produktivkräfte im Land geführt. »Und so wurde die notwendige Industrialisierung dann durchgepeitscht – wie so oft in Russland unter den Bedingungen autokratischer Alleinherrschaft und auf Kosten eines riesigen Heeres von Entrechteten.«

Eine verhängnisvolle Kette ohne Ende, mit deren Resultaten Schneidratus bis heute befasst ist. Er ist, wie er sagt, »Abrüster«. Als studierter Außenpolitiker war er zum Ende der DDR deren stellvertretender Delegationsleiter bei den Wiener Abrüstungsverhandlungen. Seither sorgt er mit dafür, die militärischen Altlasten in den ehemals sozialistischen Ländern zu beseitigen. »Reagan hatte offen erklärt, die sozialistischen Staaten tot zu rüsten – und wir haben keine bessere Antwort auf diese reale Bedrohung gefunden, als tatsächlich weit über unsere ökonomischen Möglichkeiten hinaus und in unvorstellbaren Dimensionen aufzurüsten«, meint er angesichts des Ausmaßes der zu entsorgenden nuklearen, chemischen und konventionellen Waffen.

Resümierend zitiert er ein russisches Sprichwort: »Je tiefer man in den Wald (die eigene Geschichte) eindringt, umso schrecklicher wird es.« Deshalb müsse man alle Aspekte der eigenen Vergangenheit umfassend wissenschaftlich und auch kontrovers aufarbeiten, »damit man vielleicht versteht, warum das Grauen kam, und damit es nicht wiederkehrt.«

Der Arbeits- und Gesprächskreis wird dazu sicherlich seinen Beitrag leisten. Er steht allen Interessierten offen.

Brigitte Holm

Quelle: DIE LINKE

Kontakt über: VVN-BdA Berlin, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, mailto:berlin@vvn-bda.org, Tel. 030/29784178, Fax 030/29784378

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Ein Kommentar zu “Warum das Grauen kam”

  1. Dieter Carstensen sagt:

    Das „Grauen“ kam, weil der Faschismus und der Kommunismus zwei menschenverachtende Ideologien sind.

    Der Einzelne zählt nichts, die indivudelle Freiheit auch nichts.

    Das Problem kam mit Karl Marx. Er setzte den Schwachsinn von der „Diktatur des Proletariats“ in die Welt.

    Damit gab er Lenin, Trotzki, Stalin und den ganzen anderen Verbrechern gegen die Menschenrechte die Grundlage für ihr verbrecherisches Handeln, mit Millionen unschuldiger Toten.

    Ich meine es völlig ernst: Wer sich heute noch „Kommunist“ nennt, hat für mich eine Vollmeise, ist gemeingefährlich und gehört weggesperrt.

    Dasselbe gilt für Faschisten, selbstverständlich.

    Kommunismus und Fachismus sind wegen ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit komplett gescheitert, sie werden nie wieder eine Chance haben, wenn die Menschheit aufpasst.

    Bei der „Die Linke“ gibt es ja viele Spinner, die sich nach dem „Kommunismus“ sehnen, wie die „Kommunistische Plattform“!

    Für mich sind diese Leute Feinde der Demokratie, die aus der Geschichte nichts gelernt haben. Dagegen sind die Zeugen Jehovas geradezu harmlos.

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