von Moskau nach Europa
Erstellt von Redaktion am Donnerstag 27. September 2018
Als Moskau von Europa träumte
von Hélène Richard
Der Zustand der russisch-europäischen Beziehungen macht sich mitunter in unangenehmen Regungen bemerkbar – etwa in einem Kribbeln im Bein, während man in einem Vorraum des russischen Föderationsrats wartet. Senator Alexei Puschkow macht keinen Hehl aus seinem Misstrauen gegenüber den westlichen Medien: „Wenn Sie nur ein, zwei Zitate wollen, haben Sie genau 15 Minuten Zeit“, warnt er. Der ehemalige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Duma (Unterhaus des Parlaments) moderiert seit 20 Jahren die Sendung „Postscriptum“ beim Moskauer Fernsehsender TWZ. Am Ende dauert das Gespräch anderthalb Stunden.
Der frühere Redenschreiber von Michail Gorbatschow beurteilt die Politik seines ehemaligen Mentors im Rückblick als „naiv“. Gorbatschow sei „lediglich ein Experte für Landwirtschaftsfragen innerhalb der Partei gewesen, bevor er an die Macht kam“. Puschkow selbst ist glühender Anhänger der Außenpolitik Wladimir Putins, weshalb er seit der Ukraine-Krise von 2014 auf der Liste von Leuten steht, die nicht mehr in die USA, nach Kanada und Großbritannien einreisen dürfen.
Puschkows Karriere steht sinnbildlich für die Geschichte seines Landes. Gorbatschow wollte Russland wieder in die große Familie europäischer Nationen integrieren. Damit stand er in der Tradition von „Westlern“, die seit Peter dem Großen (1682–1725) auf den Anschluss Russlands an Europa hinarbeiteten – im Gegensatz zu den slawophilen Vorkämpfern eines russischen Sonderwegs. Ende der 1980er Jahre sah es so aus, als könnte diese Orientierung nach Westen allgemein an Akzeptanz gewinnen, womit das leidige Blockdenken auf der internationalen Bühne vorbei gewesen wäre. Ohne das Scheitern dieses Traums von Europa lässt sich die das aktuelle Verhalten Russlands kaum verstehen.1
Bei seinem ersten Auslandsbesuch, in Frankreich im Herbst 1985, prägte Gorbatschow die Formulierung vom „gemeinsamen Haus Europa“. Dass dies in Paris geschah, war kein Zufall. Bereits Charles de Gaulle hatte die Idee eines Europas „vom Atlantik bis zum Ural“ verteidigt: ein „Europa der Vaterländer“, frei von jeglicher Bevormundung, in dem Russland dem Kommunismus entsagt hätte – den der General im Übrigen für eine vorübergehende Erscheinung hielt. Zu de Gaulles Zeiten kam diese Vision für Moskau jedoch kaum in Betracht: Die Sowjetunion hielt damals an der Teilung Europas und insbesondere Deutschlands fest, die das Fundament ihrer Präsenz im Herzen des Alten Kontinents war.
Die Rede vom „gemeinsamen Haus“ setzte auch auf eine Lockerung der Bande zwischen Washington und seinen europäischen Verbündeten, um die USA an den Verhandlungstisch zu zwingen. Aus Sicht Moskaus war es angesichts der hohen Militärausgaben höchste Zeit, das Wettrüsten zu beenden. Das Konzept der friedlichen Koexistenz auf der Basis eines strategischen Gleichgewichts stand ohnehin auf wackeligen Beinen. Zweimal wäre die Welt fast in die Luft geflogen: im September 1983, als Stanislaw Petrow einen vermeintlichen Atomschlag der USA als Fehlalarm erkannte; und zwei Monate später, als die Sowjets das Nato-Manöver „Able Archer 83“ für einen verkappten Angriff hielten.
„Wissenschaftler machten sich gerade daran, das Szenario vom ,nuklearen Winter‘ zu erforschen“, erinnert sich Puschkow. „Ich gehörte zu denen, die den Kalten Krieg beenden wollten.“ Auch Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan waren sich bei ihrem ersten Treffen in Genf im November 1985 einig, dass ein Atomkrieg nur Verlierer haben würde.
Gorbatschow wollte ein gemeinsames Haus Europa
Im Oktober 1986 bei ihrem zweiten Treffen in Reykjavík unterbreitete Gorbatschow den mutigen Vorschlag, innerhalb von fünf Jahren die nuklearen Arsenale um die Hälfte zu reduzieren und sie binnen weiterer fünf Jahre ganz zu vernichten. Reagan stimmte zu, beharrte jedoch auf dem Aufbau eines (nie realisierten) weltraumgestützten Raketenschutzschilds. Aus sowjetischer Sicht kam das der Ansage eines neuen Wettrüstens gleich.
EU – Rat . Wen die beraten hat sich schon verkauft.
Um die Spirale des Misstrauens zu durchbrechen, machte Gorbatschow einseitige Zugeständnisse. Der Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme vom 8. Dezember 1987 sah die Vernichtung von 1846 sowjetischen Raketen vor – mehr als doppelt so viele, wie auf Seiten der USA liquidiert werden sollten.
Das Konzept vom „gemeinsamen Haus Europa“ erlangte 1988 aufgrund der Probleme innerhalb des sozialistischen Blocks strategische Bedeutung. Die sowjetische Planwirtschaft war in den Augen Gorbatschows nur noch mit der Zulassung von Privateigentum und einer teilweisen Öffnung in Richtung Markt vor dem Zusammenbruch zu retten. Die Forderungen nach mehr Demokratie in Osteuropa bestärkten ihn darin, dass auch eine politische Öffnung alternativlos war. Der Exdiplomat Wladimir Lukin erwartete damals eine „Rückkehr nach Europa“ und damit in eine Zivilisation, „an deren Peripherie wir lange verharrt hatten“ (siehe Kasten).
Auch Alexander Samarin, erster Botschaftsrat Russlands in Paris, sagt heute: „Das System war am Ende, und es gab keinen Zweifel daran, dass der Kommunismus abgeschafft werden musste.“ Er erinnert daran, dass sein Land, das seit 1998 der Welthandelsorganisation (WTO) angehört, mittlerweile „kapitalistisch“ und „antiprotektionistisch“ ist. Ein anderer Exdiplomat, der anonym bleiben will, meint rückblickend: „Allen war klar, dass wir in einer Sackgasse steckten. Aber niemand dachte, dass wir solche Zugeständnisse machen müssten.“
Seit der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 betrachtete Gorbatschow die „Breschnew-Doktrin“ über die begrenzte Souveränität der „Bruderstaaten“ als hinfällig.2 Er unterstützte Reformer und lehnte militärische Interventionen ab. So auch nach dem Mauerfall: Gorbatschow befürwortete die Idee eines neutralen Deutschlands (oder einer Doppelmitgliedschaft in der Nato und im Warschauer Pakt), eingebettet in eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur auf Basis der 1975 gegründeten Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).
Die Gründungsurkunde der KSZE, die von 35 Staaten unterzeichnete Schlussakte von Helsinki, war Resultat eines Tauschgeschäfts zwischen den beiden Blöcken und zugleich der Gipfel der Entspannungspolitik; bevor 1979 die Ost-West-Spannungen aufgrund der sowjetischen Intervention in Afghanistan wieder zunahmen.
Die Länder des Westens bekräftigten in der Schlussakte das von Moskau beharrlich verteidigte Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen, womit sie auch die deutsche Teilung sowie die sowjetische Gebietserweiterungen in Zentral- und Osteuropa anerkannten. Im Gegenzug verpflichtete sich der Ostblock zur stärkeren Respektierung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Als einziges dauerhaftes Gremium, in dem die USA, Kanada, die Sowjetunion und alle europäischen Länder zusammenkamen, war die KSZE in den Augen Moskaus der Grundstein für eine Annäherung zwischen den beiden Europas.
1990 war Gorbatschow nicht der Einzige, der sich für eine gesamteuropäische Lösung aussprach. Viele der neuen osteuropäischen Machthaber waren pazifistisch geprägte Exdissidenten und wollten nicht direkt ins westliche Lager wechseln, sondern eine neutrale, entmilitarisierte Region aufbauen. Der frisch gewählte tschechoslowakische Präsident Václav Havel brüskierte die USA mit seiner Forderung nach einer Auflösung der beiden Militärbündnisse und einem Abzug aller ausländischer Truppen aus Zentraleuropa. Ähnlich irritiert war Bundeskanzler Helmut Kohl über Äußerungen des DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière, der ein neutrales Deutschland befürwortete.
Mitterrand war gegen die Osterweiterung der Nato
Quelle : Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen
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