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Vielleicht hilft Tarot

Erstellt von Redaktion am Dienstag 5. September 2017

Was wählen bei der Bundestagswahl?

The Major Arcana by Roberto Viesi.jpg

Wohin mit meiner Stimme ?

Unsere Autorin ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Dieses Jahr darf sie zum ersten Mal wählen. Nur: Wohin mit dem Kreuz? Die Konturen zwischen denParteien und ihren Inhalten zerfließen wie verdünnte Wasserfarben. Über die Schwierigkeit, bei der Wahleine Stimme zu , aber keine Option, die sie verdient hat. Nicht einmal Tarot hilft weiter.

Autorin Fatma Aydemir

Sie zieht die rechte Braue hoch und nimmt einen Zug von ihrer E-Zigarette. „Okay, lass uns die Zwiebel etwas entblättern. Worum geht es dir eigentlich?“ Meine Spülmaschine beginnt zu blubbern. Die Abendsonne fällt durchs Fenster.

Ich starre zum Kartenstapel auf meinem Küchentisch, den ich gleich mischen und in drei teilen werde. Sie ist die Freundin einer Freundin und Tarotkartenlegerin. „Keine professionelle“, sagt sie, aber seit sie zwölf ist, beschäftigt sie sich damit.

Ich bin 30 Jahre alt. Und Erstwählerin. Und ich habe keine Ahnung, was ich mit meiner Stimme anfangen soll. „Es geht um Verantwortung, oder?“, fragt sie geduldig. Ich glaube, sie hat recht. Es geht darum, dass ich zum ersten Mal in diesem Land etwas mitentscheiden darf. Aber nicht weiß, wie man so eine Entscheidung überhaupt trifft.

Wie denn auch? Es gibt Tausende Anlaufstellen im Netz, die einem erklären, warum wählen wichtig ist. Wie Wahlen funktionieren und was die Parteien uns versprechen. Aber niemand kann mir sagen, wie ich herausfinde, was das Richtige für mich ist. Für uns ist. Tarot hat viel mit Intuition zu tun, habe ich gehört. Das klang gut. Denn wählen, das merke ich jetzt, ist keine reine Kopfsache. Es ist auch eine emotionale Entscheidung: In was für einer Welt will ich leben?

Austauschbare Themen

Obwohl ich hier geboren und aufgewachsen bin, habe ich erst vor zwei Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen. Wenn sich Alice Weidel auf AfD-Veranstaltungen über Deutschlands angeblich laxes Einbürgerungsrecht empört, kann ich nur müde die Augen verdrehen. Denn wie so oft spült Weidel die Realität nur weich, um die Existenz ihrer Partei zu legitimieren. Dabei ist das Gesetz grausam genug: Ohne unbefristeten Arbeitsvertrag stehen die Chancen auf einen deutschen Pass sehr schlecht. Wer Sozialleistungen in Anspruch nimmt, kann es gleich vergessen.

Die Einbürgerung war ein nervenaufreibender Prozess, noch am Tag der offiziellen Bewilligung sollte ich einen aktuellen Kontoauszug vorzeigen. Glücklicherweise konnte ich alle Anforderungen erfüllen – und wurde dafür mit zahlreichen Privilegien belohnt. Neben Reisefreiheit ist für mich die grundlegendste Veränderung, dass ich nun endlich wählen darf.

Denn schon als türkische Staatsbürgerin konnte ich von meinem Wahlrecht keinen Gebrauch machen. Wahlurnen in den Auslandsvertretungen der Türkei wurden erstmals bei den Präsidentschaftswahlen im Sommer 2014 aufgestellt – also genau zu der Zeit, als ich mich im Konsulat gerade ausbürgern ließ. Gestört hat mich das nie besonders, da ich es ohnehin seltsam finde, mich an den Wahlen eines Landes zu beteiligen, in dem ich höchstens Urlaub mache. Doch es wäre mir deutlich leichter gefallen, mich in der Türkei zu entscheiden, wen ich wähle. Wenigstens unterscheiden sich dort die vier großen Parteien so grundsätzlich voneinander, dass es unmöglich ist, mehreren Parteien gleich nah oder fern zu sein.

In Deutschland scheint das Gegenteil der Fall. Die Grenzen zwischen den Parteien und ihren Inhalten zerfließen wie verdünnte Wasserfarben. Schwer zu sagen, ob das eine neue Entwicklung ist oder ob es schon immer so war. Vielleicht fiel es mir bloß nie auf, weil ich sowieso nicht wählen ging. Nun aber zappe ich erstmals als potenzielle Wählerin in die Talkshows, klicke mich durch die Wahlprogramme und stelle fest: Alle Spitzenkandidat*innen sind mir ähnlich unsympathisch, alle Themen austauschbar und alle Wahlversprechen unüberzeugend schwammig.

Gelangweilt von allen

Als wäre das nicht genug, will sich unverschämterweise auch noch keine Partei eindeutig zu dem großen Thema positionieren, das mich und den Rest des Landes in den vergangenen zwei Jahren am meisten beschäftigt hat – wohl aus Angst, dass man sich mit dem Flüchtlingsthema nur unbeliebt machen kann. Die einzige Ausnahme bildet da dankenswerterweise die AfD. Sie stellt sich wenigstens klar gegen alles, was ich bin und vertrete, und ist somit auch die einzige Partei, die ich ohne Bedenken von vornherein ausschließen kann.

Übrig bleiben: Linkegrünespdcdufdp. Danke, Deutschland. Jetzt bekomme ich endlich eine Stimme, aber keine Option, die sie verdient hätte. Ich bin so gelangweilt von allen Parteien, dass ich ernsthaft mit dem Gedanken spiele, am 24. September einfach zu Hause zu bleiben und Netflix zu schauen. „Ist doch auch keine Lösung“, hätte sicher eine naive 20-jährige Version von mir gesagt.

Aber nun frage ich mich, was genau es demokratietechnisch bringen soll, einfach nur zu wählen, um gewählt zu haben. Demografisch haben sowieso die Ü50-Wähler*innen das Sagen. Kolleg*innen sprechen mir Mut zu und empfehlen mir das „kleinste Übel“. Aber kann das kleinste Übel nicht einfach sein, überhaupt nicht zu wählen? Oder vielleicht doch eine der Kleinen? Martin Sonneborns satirische Die PARTEI? Oder die HipHop-Partei, die Urbane?

Schwieriges Privileg

Quelle    :     TAZ >>>>> weiterlesen

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Grafikquelle    :      Deck of 22 cards inspired by the Tarot of Marseilles, but with the author’s graphic style.

 

Ein Kommentar zu “Vielleicht hilft Tarot”

  1. Stefan Weiert sagt:

    Wohin? Wenn geht, dann
    – unabhängig
    – parteilos
    – links oder
    – linksaußen

    Alles andere isr nur ein Tausch der Machtausübung! auch bei den LINKEN!
    Wir brauchen keine Parteienpolitik, sondern Menschenpolitik.

    Stefan

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