Verwende deine Jugend
Erstellt von Redaktion am Dienstag 4. Juni 2019
Die Jugend will den Planeten retten.
Von Konstantin Nowotny
Wozu wird sie erst in der Lage sein, sobald sie bemerkt, dass das nicht ohne radikale Kritik am Kapitalismus gehen wird?
Als ich vor ziemlich genau zehn Jahren Abitur gemacht habe, war die EU das langweiligste politische Thema überhaupt. Weil sie Konsens war. Es gab keinen Brexit, Obama wurde frisch zum ersten afroamerikanischen Präsidenten vereidigt, die Finanzkrise war das beherrschende politische Thema und die CSU noch die rechteste Partei im Bundestag. Mein Wirtschaftslehrer, ein DDR-Nostalgiker und Antiamerikanist, den die EU damals schon spürbar störte, betonte dennoch stets pflichtbewusst, es sei auch wichtig, zur Europawahl zu gehen.
Auch! Die Wahlbeteiligung in Deutschland lag 2009 mitten im europäischen Durchschnitt bei überschaubaren 43 Prozent. Besonders wahlfaul war die junge Zielgruppe der 18- bis 35-jährigen. Europa war nichts, wofür man am Sonntag unbedingt das Bett verlassen musste. Schon gar nicht, wenn man gerade seine Abschlussprüfungen geschrieben hatte. Damals wie heute fiel die Europawahl mit dem Schuljahresende zusammen. Und nichts interessierte uns frischgebackene Abiturienten weniger als Europa, außer, wenn die Union dafür taugte, Fördergelder für baldige Auslandsaufenthalte bereitzustellen.
Dass es gerade mal zehn Jahre später nahezu subversiv sein könnte, pro-europäisch zu sein, hätte ich mir nie träumen lassen. Ein bisschen befremdlich wirken auf mich die Europa-Pullis, die vor wenigen Jahren noch so brisant gewesen wären wie eine Bürgerinitiative zur Beibehaltung der Anschnallpflicht. Nun liegt die Wahlbeteiligung bei über 60 Prozent und ein bemerkenswerter Teil der Jugend hat ihre europapolitische Offenbarung empfangen: die Klimapolitik. De facto beobachten wir die mittelgroße politisches Sozialisation einer Generation. In noch einmal zehn Jahren werden viele eben noch Schulstreikende in Ämtern, Redaktionen, Fabriken, Agenturen, Kanzleien, Praxen und Vorständen sitzen und sich prüfenden Blickes, mal scherzhaft, mal bierernst, vielleicht nostalgisch fragen: Warst du dabei, 2019?
Käme es so, wäre es tatsächlich an der Zeit, vom Generationenbegriff im soziologischen Sinne Gebrauch zu machen und all die konstruierten „X“, „Y“ und „Z“-Generationen glücklich über Bord zu werfen. Nichts verbindet nämlich eine Genration wie die meine wirklich miteinander, kein übergreifendes Ereignis formte bislang eine Art homogenes Massenbewusstsein der sogenannten „Millenials“, außer vielleicht das der Resignation.
Nie genug und immer irgendwie zu spät
Vorgefunden haben wir im Abschlussjahrgang 2009 eine Welt, die paradiesischen Wohlstand bereithielt, in der man aber mit allem immer schon zu spät dran war, in der man immer hätte noch ein kleines bisschen besser sein müssen, um überhaupt noch etwas zu werden. Unbefristete Jobs mit solider Bezahlung samt Sozialleistungen gab es noch, aber sie waren deutlich seltener als noch in der Generation meiner Eltern. Und man musste für sie deutlich mehr können.
Die Arbeitsproduktivität der Gesellschaft war innerhalb einer Generation immens gestiegen. Statt dass sich der Druck dadurch für alle entspannte, wurde er größer. Schüler schreiben heute ihr Mathe-Abitur mit programmierfähigen Taschenrechnern, können sehr viel mehr in sehr viel kürzerer Zeit berechnen. Da das Abitur aber keine reine Fähigkeitenprüfung, sondern primär ein Auslesewettbewerb ist, muss das Niveau steigen. Ob das Mathe-Abitur in Bayern tatsächlich zu schwer war, wie einige tausend Schüler beanstandeten, ist umstritten. Unzweifelhaft ist aber, dass die Eltern derjenigen, die dieser Tage ihre Prüfungen schrieben, keinesfalls jene Aufgaben noch mit den Techniken lösen könnten, die ihnen einst beigebracht wurden. In seiner Abrechnung The Making of Millenials zitiert der US-Autor Malcolm Harris in diesem Kontext den Fall eines Vaters, der an den Hausaufgaben seiner 13-jährigen Tochter verzweifelte: „Stellen Sie sich vor, sie müssten nach einem vollen Tag im Büro – und die Schule ist für unsere Kinder so ziemlich ein Job – nach Hause kommen und noch einmal vier Stunden Büroarbeit leisten. […] Wenn ihr Job diese Arbeit nach der Arbeit voraussetzen würde, wie lange würden sie durchhalten?“
In einem System ewigen Wachstums können Produktivkräfte nie im positiven Sinne überflüssig werden. Es hieß schon 2009 für uns: Wer nach dem Abschluss keinen minutiös getakteten Plan hatte, wie er sich möglichst schnell möglichst wertvoll weiterbilden kann, bleibt auf der Strecke. Ausgebildet wurde man zum funktionalen Alleskönner: Auswendiglernen, bloß nicht drüber nachdenken, aufs Papier kotzen, abgeben. Nun sollte man plötzlich all die Talente und Fähigkeiten an sich kennen, die einem zuvor noch jeder Lehrer behutsam abgesprochen hatte, um ja nicht den Leistungsmotor Nummer eins – Panik – zu verlangsamen.
Zu allem Überfluss wurde einem die totale Verunsicherung noch als charakterlicher Makel ausgelegt. „Die Welt steht euch offen“, „Ihr habt alle Chancen der Welt“, brüllten zynische Lehrer und Eltern uns entgegen, wohl wissend, dass eine falsche Entscheidung in der Welt voller Chancen den Wettbewerbsvorteil für immer vernichten kann. Daraus wurden dann die „unentschlossenen“ und „verwöhnten“ Millenials, über die Personalberater in einem unerträglich großen Haufen Ratgeberliteratur verächtlich die Nase rümpften. Vor sich sahen sie eine Generation von Leuten, die so produktiv, flexibel und universell einsetzbar waren wie nie zuvor. Kamen diese auf die irre Idee, einzufordern, was für ihre Eltern noch selbstverständlich war – unbefristete Arbeitsverträge oder einen Einstiegslohn, mit dem man die explodierte Innenstadtmiete bezahlen kann – empfanden Arbeitgeber das als Zumutung. Wer hat dem Humankapital plötzlich das Reden beigebracht?
Der Löwe mit der blauen Mähne
2010 war das Jahr, in dem der Anstieg der Verbraucherpreise erstmals seit vielen Jahren den Anstieg der Reallöhne überholte. Gleichzeitig steigt die Zahl der Uni-Absolventen bis heute. Es entsteht etwas, das man vielleicht das Millenial-Paradox nennen könnte: Junge Menschen sind besser qualifiziert als jemals zuvor, wetteifern untereinander härter denn je, verdienen aber zuweilen weniger und unter mieseren Bedingungen als ihre Eltern – selbst wenn diese formal schlechter qualifiziert sind. Vielen wird erst spät bewusst: Den Wohlstand der Altvorderen wird man auch mit sehr harten Ellenbogen kaum erreichen können. Zumindest nicht, wenn man nicht reich geerbt oder die Selbstausbeutung so perfektioniert hat, dass man im Machbarkeitswahn der Startup-Irren geradewegs auf den Burnout zusteuert.
Quelle : Der Freitag >>>>> weiterlesen
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Grafikquelle :
Oben — „Our house is on fire“ (deutsch: „Unser Haus steht in Flammen“) – Berlin 29. März 2019…
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Unten — Gruppe der Scientists for Future 15. März 2019…