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RENTENANGST

Trauerunfähigkeit

Erstellt von Redaktion am Dienstag 2. Februar 2010

Über die Unfähigkeit zu trauern.

Gedanken zur Zeit von Bernd Wittich

Keine Zukunft ohne Vergangenheit! Keine Zukunft ohne Trauer!
Ich möchte jetzt nicht über jene sprechen, die nur im Heute, besinnungslos auf Vergangenes
von Aktion zu Aktion in eine falsche Zukunft taumeln und dies „moderne Linke“ nennen.
Ich möchte jetzt auch nicht über jene sprechen, die unter der Berufung auf Geschichte ihre
Herrschafts- oder wenigstens ihre Dominanzansprüche anzumelden pflegen und sich mit der
Berufung auf das „Früher“ legitimieren. Also etwa „Das haben wir schon immer so gemacht…“ oder „Wir wissen, das ging damals schief, also geht das heute auch nicht…“
oder „Die Geschichte lehrt, das es nur so und nicht anders gehen darf…“
Ich spreche über die Fähigkeit zur Trauer.
Es war ein politisch-therapeutischer Ansatz, der die 68er Generation zu Neuem anfeuerte,
ihnen ein psychosoziales Fenster in die Zukunft öffnete: Die Aufforderung zur Überwindung der Unfähigkeit zu trauern. Erst hier beginnt die Hoffnung, nämlich die Vergangenheiten nicht zwanghaft wiederholen zu müssen, von Generation zu Generation, bis zum Untergang des Geschlechts.
Logiken des Mißlingens, die verbreitete Empathielosigkeit, ganz besonders mit dem „Anderen“, dem Anderseienden ist Alltag, auch in der Linken.
Worauf gründet sie? Menschen lieben sich selbst nicht, Menschen kennen sich selbst nicht,
Menschen gehen mit sich selbst nicht achtsam um, sie funktionieren. Geleitet von fremden
und allein äußeren Anforderungen.
Die „Anfragen“, die „Anfechtungen“, die Herausforderungen der Außenwelt, des anderen
Menschen, der Gesellschaft gehen nicht hindurch durch den Funktionierenden, hindurch
durch seinem Geist, seinem Gewissen. Der „Funktionierende“ fragt nicht seine innere
Sinninstanz an, ja er spürt sie vielleicht nicht einmal. Er versucht ohne sein Herz zu sehen.
So bleibt der Mann oder die Frau Person im Dunkeln. Und aus der inneren finsteren Leere
vernehmen wir Worte, wie diese:
„Nimms sportlich“ und gemeint ist die politische Praxis des Funktionierens, des
Haifischbeckens, der ewigen Reproduktion gewohnter Herrschaft und Unterordnung.
„Wo gehobelt wird da fallen Späne“, menschliche Späne, Menschen fallen, Abfall…, so wird
schnell über Berufsverbote, politische Haft oder politischen Mord „im Namen der Sache“, des
Sozialismus, der Demokratie, der Partei usw., hinweg gegangen.
„Jede/r ist ersetzbar“ (Es sei denn er ist eine Gallionsfigur (die leider auch sterblich ist.). Was wird hier gesagt: Du, der/die Einzelne, du bist nicht einzigartig, du bist ein Schräubchen, du bist nicht wesentlich, du bist nicht Beachtenswert, auf dich kommt es nicht an. Was wäre zu betrauern?
Die politischen Häftlinge in Ost und West, die Berufsverbotsopfer in Ost und West, die in
Diktaturen in Deutschland, der Sowjetunion, in Chile usw. Ermordeten…
Der toten, traumatisierten und verstümmelten Soldaten und der getöteten, verstümmelten oder vergewaltigten Zivilisten imperialistischer Kriege, im Irak, in Vietnam, in Afghanistan und…
Trauern wir um die verlorenen Weggefährtinnen am Arbeitsplatz oder in „unserer Partei“,
herausgemobbt, resigniert, seelisch zer- oder gebrochen durch das angebliche Gesetz des
Funktionierens?
Der Stalinismus als System ist in der Partei DIE LINKE. überwunden, so haben es mehrfach
Parteitage deklariert.
Wie das, ohne Trauer? Wo ist in unserem Herzen Platz für die im Kampf gegen die Nazis
gefallenen alliierten Soldaten, für die Partisanen und Widerstandskämpfer, für die in den
Konzentrationslagern Deutschlands gequälten und ermordeten Kinder, Frauen und Männer, für
die geschundenen und ermordeten Kriegsgefangenen in deutschen und sowjetischen Lagern,
für die GULAG-Sklavenarbeiter, für die in Bautzen und anderen Ortes an Hunger und TBC
krepierten SozialdemokratInnen? Wo ist unsere Trauer für die bis heute unauffindbar
Verschwundenen, verschleppt durch sowjetische Dienste in der SBZ und der DDR. Wo haben
wir getrauert um die von der Staatssicherheit um Gesundheit, Beruf, Freunde usw. gebrachten
Menschen? Wo ist in der Linken der Ort der Trauer für die im Agentendienst sich selbst
entfremdeten Menschen, die ihre Freunde verrieten? Haben wir geweint an den Gräbern der
Opfer des sowjetischen Speziallagers in Buchenwald? Haben wir von Angesicht zu Angesicht
die Geschichten der Verfolgten angehört und ertragen?
Wo trauern Sozialdemokraten in der Erinnerung an die kommunistischen oder linkssozial demokratischen Berufsverbotsopfer der Brandtära oder der politisch Verfolgten des
kalten Krieges? Wo trauern Verantwortliche und Mitläufer, um die in der Agendapolitik
Schröders und dem entfesselten Kapitalismus zerstörten Leben?
Trauern wir, im Gedenken an unserer Schuld, dort wo wir Menschen als Funktionäre, als
„Funktionierende“ nach den eingespielten Regeln des Herrschens verletzten?
Ein Mensch verläßt die PDS, die SPD, die WASG, DIE LINKE oder früher die DDR. „Wir weinen ihm keine Träne nach“, so lautete die Aufforderung Erich Honeckers an die Genossen. Eine/r verläßt die Linke, er/sie schreibt einen erklärenden, vielleicht auch zornigen, klagenden, anklagenden Abschiedsbrief. „Beherzigen“ wir seine/ihre Botschaft? Halten wir die menschliche Verbindung jenseits des „Funktionierens“?
Ohne Trauer ist und bleibt die Humanitas geteilt, dieser Riß geht durch die Gesellschaft, die Partei(en), die Seelen der Menschen. Niemand kann befreit werden! Niemand kann von einer
Diktatur befreit werden. Niemand kann von den Folgen von Herrschaftsexzessen befreit werden. Die Selbstbefreiung braucht die Trauer.
In der Linken, gerade aber in der Partei DIE LINKE. wird viel funktioniert. Das ist angeblich gut für den Wahlerfolg, gut für die Partei? Ist es auch gut für dich? Wenn es nicht gut für dich ist, kann es dann gut für die Partei sein? Kämpfst du für eine „Sache“ oder mit und für Menschen nach menschlichem humanen Maß?
In der Partei DIE LINKE. herrscht Ost, wie West eitle Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit Funktionierender. In den Apparaten und an der Basis fehlt es an der Fähigkeit zu trauern. So bewegt DIE LINKE.  weder die Herzen, noch sich und noch weniger die Gesellschaft.
Bernd Wittich Ludwigshafen, 1. Februar 2010
PS:
(1) Ich danke meinem Freund Mathis Oberhof für die Anregungen zu diesem Text.

(2) Dr. sc. Rainer Thiel (www.thiel-dialektik.de) schrieb zu diesem Text u.a.:

„Zur Trauerarbeit gehört auch – so meine ich – die Geschichte mit allen ihren Facetten zu inspizieren und nichts zu verschweigen. Zur Versöhnung bin ich stets bereit, wenn kein neuer Ärger erzeugt wird. Dann braucht sich auch niemand bei mir zu entschuldigen. Doch wenn der Anlass zum Ärger ständig reproduziert wird, dann hat die Verantwortung gegenüber den Geschädigten den Vorrang. Das ist auch meine Haltung gegenüber denen, die geschädigt worden sind durch Leute aus der Partei, der ich vierzig Jahre lang angehört habe.“

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Fotoquelle : BuchhändlerPrag, Jüdisches Museum

 

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