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Toxische Nostalgie:

Erstellt von Redaktion am Sonntag 12. Juli 2020

Rassismus in Europa

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Quelle      :        Blätter

Von Gary Younge

September 1963: In Llansteffan (Wales) hört der Glasmaler John Petts im Radio eine erschütternde Nachricht. In Birmingham, der größten Stadt des US-Bundesstaats Alabama, wurden vier schwarze Mädchen durch einen Bombenanschlag ermordet. Sie hatten dort in einer Baptistenkirche die Sonntagsschule besucht. Petts – weiß und britisch – ist tief bewegt. „Als Vater war ich natürlich entsetzt über den Tod der Kinder“, sagt er in einer vom Londoner Imperial War Museum archivierten Tonaufzeichnung. „Als Angehöriger eines minutiös arbeitenden Berufsstandes entsetzte mich die Zertrümmerung all der Kirchenfenster. Und ich dachte: Du meine Güte, was können wir da nur machen?“ Der Mann beschloss, seine künstlerischen Fähigkeiten für eine Solidaritätsaktion einzusetzen. Denn „eine Idee existiert nicht, so lange man sie nicht irgendwie umsetzt“, sagte er. „Ein Gedanke, der nicht dazu führt, dass man etwas tut, bleibt im wirklichen Leben ohne Bedeutung.“ Um eines der zerstörten Kirchenfenster ersetzen zu können, rief Petts, unterstützt von Wales‘ führender Tageszeitung „The Western Mail“, zu Spenden auf.

„Ich werde niemanden um mehr als eine halbe Krone [das damalige Äquivalent eines Zehncentstücks] bitten“, meinte der Herausgeber der Zeitung dazu. „Wir möchten ja nicht, dass irgendein reicher Mann mit großer Geste das ganze Fenster bezahlt. Wir möchten, dass es ein Geschenk des walisischen Volkes wird.“ Zwei Jahre später wurde Petts‘ Kirchenfenster in Alabama eingesetzt. Es zeigt – vor blau getöntem Hintergrund – einen schwarzen Christus mit gesenktem Haupt und aufwärts ausgebreiteten Armen, wie an einem Kruzifix hängend. Darunter finden sich die Worte „You did it to me“.[1]

Dass Europa sich – besonders in traumatischen, von Krise und Protest geprägten Zeiten – mit dem schwarzen Amerika identifiziert, hat eine lange und komplizierte Geschichte. Es sind nicht zuletzt internationalistische und antirassistische Traditionen der europäischen Linken, die diese Einstellung nähren. Bei ihr fanden Persönlichkeiten wie Paul Robeson, Richard Wright und Audre Lorde immer wieder geistig – und zuweilen auch leibhaftig – eine Heimat. „Schon sehr früh hatte meine Familie sich mit Martin Luther King und der Bürgerrechtsbewegung solidarisiert“, sagte mir der nordirische Schriftsteller und Drehbuchautor Ronan Bennett einmal, ein Katholik, der von den Briten Anfang der 1970er Jahre zu Unrecht ins berüchtigte Long-Kesh-Gefängnis Nordirlands geworfen worden war. „Wir fühlten uns schwarzen Amerikanern instinktiv verbunden. Eine Menge Symbolik und sogar die Hymnen – wie ‚We shall overcome‘ – hatten wir aus dem schwarzen Amerika übernommen. Anfang der 1970er Jahre beeindruckten mich Bobby Seale und Eldridge Cleaver stärker als Martin Luther King.“

Diese Tradition politischer Identifikation mit dem schwarzen Amerika bietet allerdings auch dem Minderwertigkeitskomplex Europas erheblichen Raum, wenn dieses seine militärische und wirtschaftliche Schwäche gegenüber den USA mit einer moralischen Selbstgewissheit zu kaschieren sucht, die wiederum über die eigene, kolonialistische Vergangenheit ebenso großzügig hinwegsieht wie über die eigene rassistische Gegenwart.

Black Lives Matter in Europa

Im Vereinigten Königreich fand 1998 gerade eine öffentliche Untersuchung des rassistischen Mordes an dem britischen Teenager Stephen Lawrence statt,[2] als die Nachricht vom Schicksal James Byrds, eines 49jährigen Afroamerikaners, das Land erreichte. Drei Männer hatten diesen im texanischen Jasper überwältigt und misshandelt, auf ihn uriniert, ihn mit den Fußgelenken an ihren Pritschenwagen gekettet und kilometerweit hinter sich hergeschleift, bis sein Kopf abriss. Ich arbeitete damals beim britischen „Guardian“. In einer Redaktionssitzung kommentierte einer meiner Kollegen den Mord mit den Worten: „Nun ja, wenigstens machen wir sowas hier nicht.“

In den Jahren danach hat die Zahl schwarzer Europäer beträchtlich zugenommen – insbesondere in den Städten des Vereinigten Königreichs, Hollands, Frankreichs, Belgiens, Portugals und Italiens. Sie stammen entweder aus ehemalige Kolonien dieser Länder („Wir sind hier, weil ihr dort wart.“) oder es sind Einwanderer jüngeren Datums, Asylsuchende beispielsweise, Flüchtlinge oder Wirtschaftsmigranten. Auch diese Communities versuchen aus den stärker sichtbaren Auseinandersetzungen in Amerika für ihre eigenen lokalen Kämpfe Kraft zu schöpfen.

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Wer immer auch schickt Laffen – macht sich selber zum Affen ! 

„Der amerikanische Negro hat gar keine Vorstellung von den Sorgen, die Hunderte Millionen anderer Nichtweißer sich um ihn machen“, bemerkt Malcolm X in seiner Autobiographie. „Ihm ist nicht klar, wie brüderlich sie für ihn und mit ihm empfinden.“

In den vergangenen Wochen haben sich überall in Europa große Menschenmengen versammelt, um ihre Solidarität mit den Protestaktionen gegen Polizeibrutalität zu bekunden, die der Mord an George Floyd ausgelöst hat. (Wenn Frauen die Opfer sind, scheint die Nachricht es allerdings schwerer zu haben, über den Atlantik zu dringen. Der Name Breonna Taylor etwa, der bei den US-Protesten eine große Rolle spielt, ist hier kaum bekannt.) Beispielsweise in Paris: Die Luft im Zentrum der französischen Hauptstadt war rauch- und tränengasgeschwängert, als Tausende demonstrativ die „Take a Knee“-Protestgeste von „Black Lives Matter“ übernahmen und die Fäuste reckten. Im belgischen Gent wurde einer Statue König Leopolds des Zweiten, der zu seiner Zeit den Kongo brandschatzte und ausplünderte, eine Haube mit der Aufschrift „I can’t breathe” übergezogen, bevor man sie mit roter Farbe übergoss. „Keine Gerechtigkeit, kein Frieden!“ skandierten die Demonstrierenden in Kopenhagen, während es in Stockholm zu Handgreiflichkeiten mit der Polizei kam. Labour-dominierte Rathäuser in ganz Großbritannien wurden zum Zeichen der Solidarität rot angestrahlt. US-Botschaften und -Konsulate von Mailand (wo ein Flashmob zusammenströmte) bis Krakau (wo Kerzen entzündet wurden) gerieten zu Brennpunkten des Protests, während Tausende Demonstrierende vom Londoner Trafalgar Square bis nach Den Haag, von Dublin bis zum Brandenburger Tor in Berlin sich über Social-Distancing-Vorschriften hinwegsetzten, um sich lautstark Gehör zu verschaffen.

Zwar sind derart internationale Proteste nicht neu, aber unter dem Einfluss der sozialen Medien nehmen sie enorm zu. Fotos und Videos von brutaler Polizeigewalt und den darauf folgenden Massendemonstrationen, die über Diasporagruppen und darüber hinaus zirkulieren, können in kurzer Zeit große Menschenmengen erreichen und aufrütteln. Das Tempo, in dem solche Verbindungen geknüpft und verstärkt werden, hat sich enorm beschleunigt, während zugleich ihre Resonanz entsprechend wuchs. Der 17jährige Trayvon Martin, der 2012 in Florida „in Notwehr“ erschossen und dessen Täter freigesprochen wurde, ist in Europa bekannter als es der schwarze Junge Emmett Tills, der 1955 im Alter von 14 Jahren ermordet wurde, je war.

Manches spiegelt ganz einfach die globale amerikanische Macht wieder. Politische Entwicklungen in den Vereinigten Staaten wirken sich auf den Rest der Welt in der Regel spürbar aus – ökonomisch, ökologisch und militärisch. Kulturell übertrifft das Gewicht der Vereinigten Staaten dasjenige jeder anderen Nation – das gilt auch für das schwarze Amerika. Weit über mein dreißigstes Lebensjahr hinaus wusste ich viel besser über dessen Literatur und Geschichte Bescheid als über jene des schwarzen Britannien, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, oder auch der Karibik, woher meine Eltern stammen. Die afroamerikanische Community genießt in der schwarzen Diaspora eine hegemoniale Autorität, weil sie, so marginalisiert Schwarze in den Vereinigten Staaten selbst sind, eine Ausstrahlung besitzt, mit der sich keine andere schwarze Minderheit messen kann.

Also kennen wir in ganz Europa die Namen von Trayvon Martin, Michael Brown und George Floyd. Den von Jerry Maslo hingegen, der dem südafrikanischen Apartheidsregime entkam, nur um 1989 in der Nähe von Neapel von Rassisten ermordet zu werden, kennt außerhalb Italiens kaum jemand. Dabei bewirkte sein Tod dort das erste wichtige Gesetz, das den Status von Immigranten legalisierte. Auch die Geschichte Benjamin Hermansens, eines 15 Jahre alten norwegisch-ghanaischen Jungen, der 2001 in Oslo von Neonazis ermordet wurde, wird außerhalb Norwegens kaum erzählt, obwohl er gewaltige Demonstrationen und die Verleihung eines nationalen Antirassismus-Preises nach sich zog. (Und obwohl der Pop-Sänger Michael Jackson, angeregt durch eine Zufallsbekanntschaft, dem Jungen sein 2001 erschienenes Album „Invincible“ widmete, eine Geste, die vermutlich nicht einmal seine glühendsten Fans wahrgenommen haben.)

Das Interesse beruht allerdings nicht auf Gegenseitigkeit. Der Vergleich zwischen Lawrence und Byrd in der erwähnten „Guardian“-Redaktionssitzung war zwar heikel, aber immerhin möglich. In den meisten amerikanischen Newsrooms würde wahrscheinlich niemand je von Lawrence gehört haben. Das liegt nicht an kaltschnäuzigem Desinteresse, sondern an imperialer Macht. Je näher du dem Zentrum bist, desto weniger musst du über die Peripherie wissen – und umgekehrt.

Aus dem Blickwinkel eines Kontinents, der sich über Amerikas Macht ärgert und sie zugleich begehrt, aber außerstande ist, daran etwas zu ändern, erscheinen die Afroamerikaner geradezu als eine erlösende Kraft: Gelten sie doch als lebendiger Beweis dafür, dass die Vereinigten Staaten durchaus nicht immer das sind, was sie zu sein vorgeben – und dass sie eigentlich viel großartiger sein könnten. Diese Lesart konterkariert den denkfaul-zählebigen Antiamerikanismus der europäischen Linken. Die gleichen Leute, die George W. Bush schmähten, schlossen dann Barack Obama in ihr Herz. Die gleichen Linken, die an Richard Nixon kein gutes Haar ließen, feierten Muhammad Ali, Malcolm X und Martin Luther King. Auch als die Franzosen die mit dem Marshall-Plan einsetzende „Coca-Cola-Kolonisierung“ beklagten, hießen sie doch James Baldwin und Richard Wright willkommen. Die – manchmal reflexartige und krude, aber kaum je gänzlich ungerechtfertigte – Ablehnung amerikanischer Außenpolitik und Machtentfaltung lief nie auf eine pauschale Zurückweisung der Kultur des Landes oder seines Potentials hinaus.

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In Zeiten, in denen die Vereinigten Staaten Wert auf ihre soft power legten, interessierte es sie durchaus, wie man sie anderswo wahrnahm. „Das Problem der race relations zieht unsere Außenpolitik in Mitleidenschaft“, sagte Außenminister Dean Rusk 1963. „Ich spreche vom Problem der Diskriminierung. […] Unsere Stimme dringt nicht durch, unsere Freunde sind peinlich berührt, unsere Feinde schadenfroh. […] In diesem Rennen laufen wir mit schwerem Handicap.“

Nun leben wir gerade nicht in solchen Zeiten. George Floyd wurde in einem historischen Moment getötet, in dem Amerikas Ansehen in Europa so tief gesunken ist wie nie zuvor. Donald Trump verkörpert alles, was die meisten Europäer als die schlimmsten Aspekte der amerikanischen Macht verabscheuen – mit seiner Bigotterie, Misogynie und Xenophobie, seiner Ignoranz, Eitelkeit und Korrumpierbarkeit sowie mit seiner Sturheit und seiner polternden Art. Nur einen Tag nach Trumps Amtseinführung im Januar 2017 fanden in 84 Ländern Frauendemonstrationen gegen ihn statt, und bis heute provoziert sein Besuch in den meisten europäischen Hauptstädten massive Proteste. Durch sein Benehmen auf internationalen Foren und seine Entscheidung, die USA mitten in einer Pandemie aus der Weltgesundheitsorganisation abzuziehen, hat der amerikanische Präsident seine Verachtung für den Rest der Welt unmissverständlich demonstriert. Und diese Verachtung wird fast überall von ganzem Herzen erwidert.

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Grafikquellen       :

Oben          —          British Governor Sir en:Henry Hesketh Bell with hunting trophies in Uganda, 1908

This work is in the public domain in its country of origin and other countries and areas where the copyright term is the author’s life plus 70 years or fewer.

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2.von Oben        —     Günter Nooke (Commissioner for Africa of the Federal Ministry for Economic Cooperation and Development (BMZ), Germany)

Deutsche Welle from Bonn, Berlin, DeutschlandImpressions June 24, 2015

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Unten       —         Deutscher Friedhof in Missahohé (Misahöhe), Togo

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