Tik Tok – aus China oder:
Erstellt von Redaktion am Dienstag 24. November 2020
Der digitale Kalte Krieg
von Daniel Leisegang
Anfang Oktober feierte Instagram seinen zehnten Geburtstag. In digitalen Zeiten ist dies ein stolzes Alter. Und auch die Nutzerzahlen des sozialen Netzwerks können sich sehen lassen: Mehr als eine Milliarde Menschen aus aller Welt teilen dort ihre Fotos und Videos. Dennoch war die Feierlaune im Hause Facebook, das Instagram 2012 aufkaufte, getrübt. Denn schon seit längerem steht weniger Instagram als vielmehr ausgerechnet die aus China stammende Konkurrenz TikTok für den digitalen Zeitgeist.[1]
Daran hat auch das über Wochen andauernde Gezerre um TikToks Zukunft in den Vereinigten Staaten nichts geändert. Per Dekret hatte US-Präsident Donald Trump am 6. August verfügt, die Anwendung nach einer Frist von 45 Tagen landesweit aus den App Stores von Apple und Google zu verbannen – es sei denn, ein amerikanisches Unternehmen übernehme deren Geschäfte im Land.
In den darauffolgenden zähen Verhandlungen zwischen ByteDance, dem chinesischen Unternehmen hinter TikTok, und der US-Administration versuchte Trump sich vor allem als kraftvoller Macher zu inszenieren, der dem politischen und wirtschaftlichen Weltmachtstreben Chinas entschlossen entgegentritt. Ende September erteilte er schließlich einer Einigung seinen Segen, wonach der US-Softwarekonzern Oracle und der US-amerikanische Einzelhandelsriese Walmart in eine neue Firma namens TikTok Global einsteigen, die fortan die US-Geschäfte der App führen soll.
Noch bevor der „Deal“ in trockenen Tüchern war,[2] feierte sich Trump dafür, TikTok wie angekündigt unter amerikanische Kontrolle gebracht zu haben: Die App habe fortan „nichts mehr mit China zu tun“, tönte er, und werde „zu 100 Prozent sicher“ sein. Ob der TikTok-Deal aber tatsächlich hält, was Trump verspricht, ist höchst zweifelhaft. Denn bei genauerem Hinsehen hat der US-Präsident keines der von ihm angepeilten Ziele erreicht. Vielmehr droht sein Protektionismus der amerikanischen Technologiebranche mehr zu schaden als zu nutzen. Zugleich attackiert der US-Präsident die Grundidee eines freien, offenen Internets und forciert obendrein ein digitalökonomisches Wettrüsten zwischen den Großmächten USA und China. Ob sich die Vereinigten Staaten aber in einem digitalen Kalten Krieg werden behaupten können, ist alles andere als ausgemacht.
Der Kampf um »die letzte sonnige Ecke des Internets«
Eines gilt es indes festzuhalten: Die Sicherheitsbedenken der US-Regierung sind durchaus begründet. Chinesische Behörden könnten TikTok als trojanisches Pferd einsetzen, um an die Daten der rund 100 Millionen amerikanischen Nutzerinnen und Nutzer zu gelangen und deren Meinung zu beeinflussen. ByteDance, das TikTok gerne als „die letzte sonnige Ecke des Internets“ anpreist, widerspricht dem zwar entschieden: Sämtliche Daten von US-Nutzern würden auf amerikanischem Boden gespeichert. Außerdem habe die Holding, zu der TikTok gehört, ihren Sitz nicht in China, sondern auf den Kaimaninseln. Und schließlich sei TikTok gar nicht in der Volksrepublik verfügbar, sondern nur eine Zwillings-App namens Douyin.
All dies verhindert jedoch nicht, dass chinesische Behörden gemäß chinesischer Sicherheitsgesetze Zugriff auf die App-Daten erhalten könnten – zumal ByteDance seit längerem unter deren strenger Beobachtung steht: Die erste erfolgreiche App des Unternehmens hieß Neihan Duanzi, was so viel bedeutet wie „angedeuteter Witz“. Sie wurde in China 2018 wegen regimekritischer Inhalte verboten. Der heute 37jährige Unternehmensgründer Zhang Yiming zeigte sich damals reumütig: In einem öffentlichen „Entschuldigungsbrief“ versprach er, die Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei China „weiter vertiefen“ zu wollen.[3]
Mit ihren Bedenken steht die US-Regierung nicht allein da. Auch die indische Regierung bezeichnet TikTok als „nationales Sicherheitsrisiko“; nach einem Grenzkonflikt mit China verbannte sie die App Ende Juni des Landes. Australien und die Europäische Union prüfen derzeit ebenfalls, inwiefern TikTok ein Sicherheitsrisiko darstellt bzw. gegen Datenschutzregeln verstößt.
Offenbar waren es aber nicht in erster Linie Sicherheitsbedenken, die Trump zu seinem Feldzug gegen TikTok veranlassten, sondern Mark Zuckerberg. So soll der Facebook-Chef den US-Präsidenten bereits im Oktober vergangenen Jahres höchstpersönlich darum gebeten haben, gegen die chinesische Konkurrenz vorzugehen. TikTok bedrohe die amerikanische Wirtschaft weit mehr als die Marktmacht Facebooks, habe Zuckerberg während eines vertraulichen Dinners im Weißen Haus gemahnt.[4] Kurz darauf begann das US-Handelsministerium tatsächlich, die Geschäfte von ByteDance zu untersuchen; und im Frühjahr dieses Jahres drohte Trump erstmals mit einem landesweiten Verbot der Plattform.
Mit seiner konzertierten Aktion verfolgt Zuckerberg offensichtlich zweierlei. Zum einen will er den kräftigen Gegenwind, der Facebook derzeit aus Washington entgegenbläst, auf TikTok umlenken. Der US-Kongress untersucht, ob die Tech-Konzerne des Silicon Valley – allen voran Facebook, Amazon, Google und Apple – über zu viel Macht verfügen. Ein erster Bericht des Kongresses kam Anfang Oktober zu dem Schluss, dass der Einfluss der Unternehmen begrenzt werden müsse; vor allem die US-Demokraten fordern immer lauter die Zerschlagung marktdominierender Plattformen.[5]
Die Schmach des Silicon Valley
Zum anderen aber hoffte Zuckerberg offenkundig auch, dass ihm der US-Präsident einen gefährlichen Konkurrenten vom Hals schaffen könnte. Denn TikTok bedroht wie kein anderes Unternehmen zuvor das Geschäftsmodell von Facebook, Instagram und Co. – und damit die globale digitalökonomische Hegemonie des Silicon Valley.
Grund dafür ist die Technologie, auf der TikToks Plattform aufbaut. Im Gegensatz zu anderen sozialen Netzwerken ist die chinesische App nicht zwingend auf das Beziehungsgeflecht der Nutzerinnen und Nutzer angewiesen – den sogenannten social graph –, um deren Interessen zu bestimmen. Stattdessen erfasst TikToks rasant lernender Algorithmus automatisch deren individuelle Vorlieben. Um diese mit Hilfe künstlicher Intelligenz zu ermitteln, zeigt die App immer nur ein einziges Video an, das den gesamten Bildschirm ausfüllt. Die Nutzer können dann entscheiden, wie lange sie diesen Film anschauen oder zum nächsten übergehen. Das Nutzungsverhalten wertet der Algorithmus dann bei jedem der kurzen Videos detailliert aus. Schon nach wenigen Filmen ist er ersichtlich in der Lage, weitestgehend nur solche Inhalte anzuzeigen, die den individuellen Nutzerinteressen entsprechen.[6]
Diese müssen daher nicht einmal ein Nutzerprofil erstellen, um im Handumdrehen und ohne großen Aufwand passende Inhalte angeboten zu bekommen: TikTok „präsentiert dem Nutzer nie eine Liste mit Empfehlungen (wie Netflix und YouTube). Es fordert ihn nie auf, zu sagen, was er sehen möchte“, beschreibt die Tech-Analystin Connie Chan die App. Vielmehr entscheidet diese vollständig selbst, was dem Nutzer angezeigt wird und ist damit die erste international erfolgreiche „Mainstream-Anwendung für Verbraucher, bei der die Künstliche Intelligenz das Produkt ist.“[7]
Das aber stellt die „klassischen“ sozialen Netzwerke vor eine bislang ungekannte Herausforderung. Denn in der Vergangenheit kopierten sie kurzerhand neue Funktionen der Konkurrenz. Bei TikTok geht diese Strategie nicht auf – zum einen, weil die Konzerne spät dran sind; zum anderen, weil sie zwar die Funktionen der App, nicht aber ohne weiteres den ihr zugrundeliegenden Algorithmus nachbilden können. Erst im Juli musste Facebook nach zwei Jahren seine erfolglose App Lasso, die ähnlich wie TikTok funktionierte, einstampfen. Eine Woche darauf präsentierte Instagram zwar eine neue Funktion namens Reels, mit der Nutzer ebenfalls unterhaltsame Kurzvideos hochladen können. Bislang aber bleibt auch diese hinter den hochgesteckten Erwartungen zurück, ebenso wie das von YouTube Mitte September gestartete Videoformat Shorts, mit dem Googles Tochterunternehmen derzeit in Indien ehemalige Instagram-Nutzer umwirbt.
Der neue amerikanische Protektionismus
Quelle : Blätter >>>>> weiterlesen
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