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Texte von Uri Avnery

Erstellt von Redaktion am Sonntag 6. Mai 2018

Das schreckliche Problem

Autor Uri Avnery

SE’EV BEGIN, der Sohn von Menachem Begin, ist ein sehr netter Mensch, es ist unmöglich, ihn nicht zu mögen. Er ist sehr gebildet, höflich und bescheiden, die Art einer Person, die man gern als Freund haben würde.

Leider sind seine politischen Ansichten viel weniger liebenswert. Sie sind viel extremer, als die Taten seines Vaters. Nachdem dieser die Irgun geleitet hat – setzte er sich mit Anwar al-Sadat von Ägypten zusammen und machte Frieden mit ihm. Se’ev ist näher an Golda Me’ir, die Sadats Friedensouvertüren ignorierte und uns in den verheerenden Yom-Kippur-Krieg führte.

Begin jr. ist eín strenger Nachfolger der „revisionistisch zionistischen Ideologie, die von Vladimir Se’ev Jabotinsky entwickelt wurde. Eine der charakteristischen Merkmale dieser Bewegung ist immer die Tragweite gewesen, die den geschriebenen Texten und Erklärungen gegeben wurde. Die Labor-Bewegung, von David Ben Gurion geleitet, kümmerte sich nicht um Worte und Erklärungen. Er respektierte nur die „Fakten vor Ort“.

In der letzten Woche schrieb Se’ev Begin einen seiner seltenen Artikel. Sein Hauptzweck war zu beweisen, dass Frieden mit den Palästinensern unmöglich ist, ein Hirngespinst der israelischen Friedenskräfte ( Haaretz 10.9.) Indem er zahlreiche palästinensische Texte, Reden und sogar Schulbücher zitiert, zeigt Begin, dass die Palästinenser nie, nie, nie ihr „Recht auf Rückkehr“ aufgeben werden.

Da solch eine Rückkehr das Ende des jüdischen Staates nach sich ziehen würde, behauptet Beginn, wäre Frieden ein Hirngespinst. Es wird nie Frieden geben. Ende der Geschichte.

EINEN ÄHNLICHEN Standpunkt nimmt ein anderer tiefer Denker ein, Alexander Jakobson in einem anderen bedeutenden Artikel in Haaretz (26.9.) Er ist persönlich gegen mich gerichtet und seine Schlagzeile behauptet , dass ich wohl „Treu gegenüber Israel sei aber nicht gegenüber der Wahrheit“. Er klagt mich an, gegenüber der BDS-Bewegung tolerant zu sein, die dabei ist, Israel ein Ende zu setzen.

Woher weiß er das? Ganz einfach: BDS bestätigt das palästinensische „Rückkehr-recht“, das, wie jeder weiß, die Zerstörung des jüdischen Staates bedeutet.

Nun, tatsächlich bin ich aus mehreren Gründen gegen die BDS. Die Bewegung, zu der ich gehöre, Gush Shalom, war die erste, die (1997) einen Boykott gegen die Siedlungen erklärte. Unser Ziel war es, das israelische Volk von den Siedlungen zu trennen. Die BDS (Boykott, Divestment, Sanktionen) –Bewegung, die ganz Israel boykottiert, erreicht den gegenteiligen Effekt: er stößt das israelische Volk in die Arme der Siedler.

Ich liebe es auch nicht, die Leute aufzurufen, mich zu boykottieren.

Aber von all den Punkten in der BDS-Plattform stört mich am wenigsten die Forderung, dass der Staat Israel das palästinensische Rückkehrrecht anerkennt. Es ist einfach lächerlich. Es wird nicht in tausend Jahren sein, dass die BDS Israel zwingt, dies zu tun. Warum also sich ärgern?

WERFEN WIR zunächst einiges Licht auf das Problem.

Als sich die Briten 1948 aus Palästina zurückzogen, gab es im Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan etwa 1,2Millionen Araber und 635 000 Juden. Nach dem Ende des Krieges, der folgte, waren etwa 700 000 Araber geflohen und/oder vertrieben worden. Es war ein Krieg, der (später) „ethnische Säuberung“ genannt wurde. Wenige Araber wurden in dem von Juden eroberten Gebiet gelassen, aber es sollt daran erinnert werden, dass überhaupt keine Juden in dem von Arabern eroberten Gebiet gelassen wurden. Zum Glück – für unsere Seite — gelang es den Arabern nur schmale Streifen von Juden bewohntes Land zu besetzen (wie Etzion-Block, Ost-Jerusalem u.a.), während unsere Seite große, bewohnte Gebiete eroberte. Als Frontsoldat sah ich alles mit eigenen Augen.

Die arabischen Flüchtlinge vervielfachten sich auf natürliche Weise und zählen heute etwa 6 Millionen. Über 1,5Millionen von ihnen leben in der besetzten Westbank, etwa eine Million im Gazastreifen, der Rest lebt verteilt in Jordanien, im Libanon, Syrien und in aller Welt.

Würden Sie alle zurückkommen, wenn ihnen die Gelegenheit gegeben würde? Schauen wir uns dies näher an.

VOR JAHREN machte ich eine einmalige Erfahrung.

Ich war in New York zu einem Vortrag eingeladen. Zu meiner Überraschung sah ich in der vordersten Reihe einen guten Freund von mir sitzen, den jungen arabischen Dichter Rashid Hussein. Er war gebürtig aus einem Dorf bei Nazareth. Er bat mich, ihn in seiner Wohnung in New Jersey zu besuchen.

Als ich ankam, war ich verblüfft; denn die kleine Wohnung war prope voll mit palästinensischen Flüchtlingen, junge und alte, Männer und Frauen. Wir hatten eine lange und äußerst bewegende Diskussion über das Flüchtlingsproblem.

Als wir nach Hause fuhren, sagte ich meiner Frau: „Weißt du, was ich empfand? Dass nur wenige von ihnen sich darum sorgen, zurückzukehren, aber dass sie alle bereit waren, für ihr Rückkehrrecht zu sterben.

Rachel, eine sehr scharfe Beobachterin, antwortete, sie hätte denselben Eindruck gehabt.

HEUTE, VIELE Jahre später, bin ich davon überzeugt, dass diese Grund-Wahrheit noch immer gültig ist: Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen dem Prinzip und seiner Erfüllung.

Das Prinzip kann nicht geleugnet werden. Es gehört jedem individuellen Flüchtling. Es ist durch das Völkerrecht gewährleistet. Es ist heilig.

Jeder zukünftige Friedensvertrag zwischen dem Staat Israel und dem Staat Palästina muss einen Paragraphen einschließen, der besagt, dass Israel im Prinzip das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge und ihrer Nachkommen anerkennt..

Kein palästinensischer Führer könnte einen Vertrag unterzeichnen, der nicht diese Klausel enthält.

Erst wenn dieses Hindernis beseitigt worden ist, kann die wirkliche Diskussion über die Lösung beginnen.

Ich kann mir die Szene vorstellen: nachdem ein Abkommen darüber bei der Friedenskonferenz abgeschlossen worden ist, wird der Vorstandsitzende tief durchatmen und sagen: „Jetzt Freunde, lasst uns das wirkliche Problem anfassen. Wie werden wir das Flüchtlingsproblem tatsächlich lösen?“

Die sechs-Millionen palästinensischen Flüchtlinge stellen sechs Millionen individuelle Situationen dar. Es gibt viele Kategorien von Flüchtlingen. Keine einzige Lösung passt für alle.

Es sind viele Flüchtlinge – vielleicht haben die meisten von ihnen während der letzten 50 Jahre sich schon in einem andern Land eine neue Existenz aufgebaut. Für diese ist das Rückkehrrecht – nun – ein Prinzip. Sie würden nicht davon träumen, in ihr altes Dorf zurückzukehren, selbst dann, wenn es noch stehen würde. Einigen geht es gut, einige sind reich, einige sehr reich.

Einer der reichsten ist mein Freund (darf ich Dich so nennen?) Salman Abu Sitta, der sein Leben als barfüßiger Junge in der Negev-Wüste begann, 1948 mit seiner Familie nach Gaza floh und später ein ungemein erfolgreicher Unternehmer in England und am Golf wurde. Wir trafen uns bei einer Friedenskonferenz, hatten danach ein langes und emotionales privates Abendessen und stimmten nicht überein.

Abu Sitta besteht darauf, dass es allen Flüchtlingen erlaubt sein muss, nach Israel zurückzukehren, auch wenn sie in der Negev-Wüste angesiedelt werden würden. Ich sehe dabei nicht die praktische Logik.

Ich habe hunderte Diskussionen mit Palästinensern über Lösungen geführt; es fing mit Yasser Arafat an und ging mit Leuten in den Flüchtlingslagern bei Beirut weiter. Die große Mehrheit würde heute eine Formula unterzeichnen, die eine „gerechte und abgesprochene Lösung des Flüchtlingsproblems“ darstellt – „abgesprochen“ würde Israel mit einschließen.

Diese Formula erscheint im „Arabischen Friedensplan“, der von Saudi-Arabien entworfen und offiziell von der ganzen muslimischen Welt akzeptiert wird.

Wie würde das in der Praxis aussehen? Es bedeutet, dass jede Flüchtlingsfamilie vor die Wahl gestellt würde, zwischen tatsächlich zurückzukehren oder eine angemessene Entschädigung erhalten.

Rückkehr – wohin? In einigen wenigen außerordentlichen Fällen in ihr noch leer stehendes Dorf. Ich kann mir vorstellen, dass einige solcher Dörfer – sagen wir zwei oder drei – symbolisch von ihren früheren Bewohnern wieder aufgebaut werden.

Einer „abgesprochenen“ Anzahl muss es erlaubt werden, in das Gebiet von Israel zurückzukehren, besonders dann, wenn sie noch Verwandte hier haben, die ihnen helfen können, wieder Wurzeln zu fassen.

Dies ist eine schwierige Angelegenheit für Israelis – aber nicht zu schwierig. Israel hat noch 2 Millionen arabische Bürger, mehr als 20 % der Bevölkerung. Eine weitere – sagen wir – Viertel Million würde keinen wirklichen Unterschied machen.

Allen anderen würde eine großzügige Entschädigung gezahlt werden. Sie könnten damit ihr Leben dort konsolidieren, wo sie jetzt sind oder in Länder wie Australien und Kanada auswandern, wo sie mit dem Geld glücklich empfangen würden.

Etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge leben in der Westbank und im Gazastreifen. Eine andere große Anzahl lebt in Jordanien und sind jordanische Bürger. Viele leben noch in Flüchtlingslagern. All diese würden Entschädigungssummen willkommen heißen.

Woher wird das Geld kommen? Israel muss seinen Anteil zahlen (und gleichzeitig sein riesiges Militärbudget reduzieren) Die Weltorganisationen werden einen großen Teil beitragen müssen.

IST DIES machbar? Ja es ist machbar.

Ich wage noch mehr zu sagen: Falls die Atmosphäre entsprechend ist, ist es sogar wahrscheinlich. Im Gegensatz zu Begins Überzeugung, wie sie heute in Artikeln von arabischen Demagogen geschrieben den heutigen Zwecken dient, wird , wenn der Prozess zu rollen beginnt, eine Lösung wie diese – mehr oder weniger – fast unvermeidbar sein.

Und vergessen wir es einen Moment lang nicht: diese „Flüchtlinge“ sind Menschen.

(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

 

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