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Strafvollzug-Hat Strafe Sinn?

Erstellt von Redaktion am Samstag 30. Mai 2020

Wie und warum wollen wir strafen,
und mit welchem Ziel?

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Eine Kolumne von Thomas Fischer

Vom Strafvollzug hat kaum jemand Ahnung, aber alle eine entschiedene Meinung. Das sagt mehr über uns als wir glauben.

Ex …

Anders als eine Alt-Bundeskanzlerin oder ein Alt-Achtundsechziger, die nicht trotz, sondern wegen ihres Aufrückens in den virtuellen Ältestenrat ihre bestimmungsgemäßen Aufgaben in besonders hervorragender Weise weitererledigen, haben es Ex-Bahnchefs, Ex-Bundestrainerinnen, Ex-Richter und Ex-Gefängnisdirektoren hinter sich. In ihrer nachklappenden Berufsbezeichnung lebt, anders als beim „Ex“ ohne erläuternden Zusatz, nicht nur postamouröse Verächtlichkeit und demonstrative mitmenschliche Gleichgültigkeit fort, sondern ein gewisses Maß an Bedeutung, die sich aus der einst erworbenen Bezeichnung speist: Einem „Ex-Bahnchef“ mag man eine Erhöhung der Pünktlichkeit des Schienenverkehrs nicht mehr zutrauen, aber zur Sanierung einer Fluglinie oder für eine philosophische Talk-Matinee über das Verhältnis von Bonuszahlung und Glückseligkeit in der griechischen Polis taugt er noch allemal.

So ist es auch mit Ex-Gefängnisdirektoren. Sie können keinen unbegleiteten Ausgang mehr genehmigen, aber als „Ex“ viel berühmter werden als zuvor, wo ihnen eine gewisse Popularität nur mittelbar winkt, vor allem durch spektakuläre Ausbrüche der ihnen Anvertrauten oder sensationelle Verbrechen hinter Kerkermauern. Voraussetzung ist allerdings, dass sie dem Drang widerstehen, einen Sachbuch-Thriller mit dem Titel „Meine gefährlichsten Gefangenen“ zu veröffentlichen. Diese Hürde hat der Ex-Gefängnisdirektor, von welchem hier die Rede ist, souverän gemeistert. Er ist berühmt und populär erstens durch die Tatsache, dass er schlicht ein „Ex“ ist, also die Sicherheit einer rest-lebenslangen Alimentation nach Besoldungsgruppe A 16 (Leitender Regierungsdirektor) gegen den Nervenkitzel freiberuflicher Anwaltstätigkeit getauscht hat. Das gibt mir Gelegenheit zu erwähnen, dass die Besoldung des Strafvollzugspersonals, einschließlich der Anstaltsleiter, von erbärmlicher Ungerechtigkeit ist: Der Leiter einer großen Anstalt mit einer hochproblematischen Insassenpopulation, zwei Dutzend Eigenbetrieben, dem Etat einer Kleinstadt, in jeder Hinsicht stressiger Personallage und nervenaufreibender bürokratischer Gängelung bei maximaler Verantwortung verdient so viel wie der Leiter eines schnuckeligen kleinen Gymnasiums. Das ist für Letzteren nicht zu viel, aber für Ersteren eklatant zu wenig. Zudem muss er sich jahrzehntelang beschimpfen, bedrohen und in der Öffentlichkeit bevorzugt als menschenfeindlichen Zwangscharakter darstellen lassen. Das zehrt.

Das eigentlich Herausragende an Thomas Galli aus Augsburg ist aber, dass er sein Ausscheiden aus dem Justizvollzugsdienst nicht als stilles „Aufgeben“ intern verarbeitete oder als allein persönlich motivierte Neuorientierung euphemisierte, sondern offensiv begründete – kritisch, analytisch und ganz überwiegend zutreffend: Strafvollzug in Deutschland ist vielfach menschenunwürdig und im Ergebnis kontraproduktiv.

Dies zu sagen, führt zwangsläufig zum schillernden Bild des sogenannten Nestbeschmutzers, einer Kunstfigur zwischen Verräter und Held. Nestbeschmutzer tun oder sagen angeblich „Unbequemes“, was vorwiegend diejenigen als hohes Lob meinen, die selbst meist Bequemes sagen, oder ganz und gar Unerhörtes, wie etwa ein „Ex-Richter“ und „Ex-Abgeordneter“ aus Lübeck, der vor 30 Jahren dem Volk der Oktoberfestbesucher ausrichtete, in den Tiefen der grundgesetzlichen Freiheitsrechte sei ein „Recht auf Rausch“, wenn dieses nicht zum Schaden anderer eingesetzt werde. Ja wo kämen wir denn da hin, schallte es aus Stehausschank und Weinprobe zurück, und schon war aus dem Ex-Richter eine so schreckliche Bedrohung der Rechtssicherheit geworden, dass noch 15 Jahre später dem Präsidium des Bundesgerichtshofs der badische Riesling haltlos aus dem zitternden Glase tropfte.

… und Hopp

Thomas Galli, der früher Justizvollzugsanstalten leitete, hat im SPIEGEL ein Interview gegeben. Dieser wählte als Überschrift ein Zitat aus dem Gespräch: „Wer nach 30 Ehejahren im Affekt seine Frau erschlägt… (ist nicht gefährlich)“. Auf den Forumsseiten und im Internet hub alsbald ein schröckliches Geschrei und Geklage an über die angebliche „Verharmlosung mordender Männergewalt und die fruchtlose ‚Kuscheljustiz'“, und was der Dummheiten mehr sind, die sich Menschen ausdenken, die von Tuten und Blasen keine Ahnung, aber umso stärker drängende Bedürfnisse haben. Es ist ja eigentlich nicht so furchtbar aufregend, wenn ein Fachmann („Profi“) einmal etwas fachlich von der herrschenden Meinung Abweichendes sagt, was man selbst so noch nie gedacht oder gehört hat und gern auch spontan bezweifeln darf. Wenn ein Zahnarzt sagt, die ganze Implantologie sei zu teuer und wenig nützlich, fallen ja auch nicht reihenweise kariöse Menschen in Ohnmacht, weil das Ende des freien Dentismus gekommen sei. Das würde höchstens die Pressesprecherin eines Bundesverbands für präventive Implantologie sagen, und eine kassenzahnärztliche Vereinigung würde vielleicht schöne Plakate drucken zum Aufhängen in den Wartezimmern. Das fänden alle ganz normal, denn Patienten und Ärzte haben ja persönliche Interessen und daher wissenschaftliche Meinungen, die dazu passen.

Es fragt sich also, welches Interesse die große Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen hat, die ohne über „Tatort“ und Hollywood hinausgehende Sachkenntnis sehr dezidierte Vorstellungen davon hat, wie der Strafvollzug zu sein hat und wie „gut“ oder „schlecht“ er in Straubing, Tegel, Zeithain oder Werl funktioniert. Vieles von der Aufregung könnte man verstehen, wenn 50 Millionen Deutsche befürchteten, demnächst im Affekt von ihren Lebenspartnern umgebracht zu werden; aber das scheint mir, bei allem Hang zum Pessimismus in dieser schweren Zeit, nicht der Fall zu sein. Es geht vielmehr in den Verlautbarungen regelmäßig um Höheres, Überindividuelles: Gerechtigkeit, Schuld, Pädagogik und die großen kriminologischen Anliegen als solche. Nun könnte man in der Hoffnung leben, der Mensch des 21. Jahrhunderts habe gelernt, dass der Schuster etwas von Leisten, der Tennisprofi etwas vom Topspin und der Kriminologe etwas von der Prävention verstehe, nicht zwingend aber ein jeder alles von allem. Da haben wir uns aber geirrt, denn man benötigt zwar eine besondere, seltene Begabung und lange Ausbildung, um etwas vom richtigen Grillen, guten Autofahren, empathischer Tierpsychologie und den Spielregeln des Hallenhandballs zu verstehen, aber es gibt doch Themen auf der Welt, bei denen eine profunde Sachkenntnis dem Menschen eingeboren ist. Dazu zählt neben Bildungspolitik und Kunst auch die Kriminologie.

Gleichheit, Freiheit …

Was ist eigentlich Strafe? Ich meine die Frage nicht gänzlich allgemein, sondern etwas konkreter: Bezogen auf Freiheitsstrafe. Wenn man zum Beispiel ins Alte Testament schaut, in dem von Strafe viel die Rede ist, oder in die großen Mythologien, die von der Schuld und ihrer Verarbeitung nur so wimmeln, stellt man fest: Nirgendwo liest man von einer ordentlichen Freiheitsstrafe. Keine Justizvollzugsanstalt weit und breit – nur Vernichtung, Rache, Gnade, Verzeihung, Schicksal. Besserung kommt vor, ist aber nicht Ergebnis 15-jähriger Arbeit in der Wäscherei plus Gruppentherapie, sondern Resultat blitzartiger Erleuchtung und intuitiver Bekehrung. Das Gute kommt nicht aus dem äußeren Leid, sondern aus dem inneren Erleben.

Freiheitsstrafe ist eine Erfindung der Neuzeit. Neuzeit heißt in diesem Fall nicht Barock oder Absolutismus, sondern, ganz marxistisch: Kapitalismus. Was macht der Kapitalismus, damit die Welt schnell und bunt wird? Er macht alle Menschen gleich. Denn es kommt ihm nicht auf die Unterschiede der vorgeblichen oder tatsächlichen Natur an, sondern auf die Vergleichbarkeit, Zählbarkeit, Bezahlbarkeit der Warenwerte. Ein Bauer und ein Edelmann sind so ungleich wie ein Hase und ein Igel; aber am Webstuhl oder in der Manufaktur zählt nicht der Geruch ihres Bluts, sondern die Anzahl ihrer Werkstücke pro Stunde, geteilt durch den Preis der Arbeiterexistenz. Diese schlichte Rechnung ist das große Geheimnis hinter der ganz neuen Entdeckung der „Natur“ des Menschen, und seiner göttlichen Bestimmung, von nun an „gleich“ zu sein, und ganz und gar „frei“, diese Gleichheit an den Meistbietenden zu verkaufen. In der wirklichen Wirklichkeit des Lebens sind die Menschen natürlich mitnichten gleich, wie jedermann weiß. Sie werden es auch nicht, indem man sie alle in orangefarbene Overalls oder gestreifte Anzüge steckt. Das erleichtert es zwar, sie von hinten abzuknallen, falls sie weglaufen, hat aber ansonsten überwiegend symbolischen Wert. Eine Armee von kahl geschorenen Menschen in schwarz-weiß gestreiften Kleidern: Körper, die jeder Individualität beraubt sind, die zu Sachen werden wie die Steine im Steinbruch oder die Eisenbahnschwellen der Schienenwege in die Zukunft. So geht Gefängnis als Enteignung von Freiheit.

Quelle          :      Spiegel-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen         :

Oben         —        Berlin 2014

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