Stadtgespräch aus Berlin
Erstellt von Redaktion am Mittwoch 20. Oktober 2021
Abgesang auf Julian Reichelt: Hausgemachter „Bild“-Skandal
Von Steffen Grimberg
„Bild“-Chef Julian Reichelt ist freigestellt, nachdem die „New York Times“ dessen Machtmissbrauch aufdeckte. Macht strömte ihm aus jeder Pore.
„Ich bin so sehr Bild, dass ich niemandem hinterher weine, der sich entscheidet, nicht mehr bei Bild zu sein. Das muss jeder selber wissen.“
Der Mensch, von dem dieser Satz stammt, ist seit Montag auch nicht mehr bei Bild. Doch Julian Reichelt verlässt das Immer-noch-Springer-Flaggschiff nicht aus eigener Entscheidung. Sein hausgemachter Skandal hat ihn eingeholt. Es geht um Sex, Beförderungen und Beziehungen. Um Macht auf dem Boulevard, um – aus Reichelts Sicht – Verrat und Rache. Großes Kino für Bild, wenn es nicht blöderweise den Mann an der Spitze träfe.
Selten hatte das Blatt einen Chefredakteur, der so polarisierte. Zur gediegenen Springer-Kultur passte der 41-Jährige, der sich auch schon mal als Brachialproll inszenierte, selbst auf den dritten Blick so gar nicht. Genau das war aber Reichelts großer Vorteil, mit dem ihm ein kometenhafter Aufstieg genau da gelang, wo seine Vorgänger*innen das Bild vom bösen Boulevard aufzuweichen versucht hatten. Unter dem Langzeit-Chefredakteur und taz-Genossen Kai Diekmann wurde Bild für Springer-Verhältnisse geradezu spontihaft und fast ein bisschen links.
Diekmanns Nachfolgerin Tanit Koch ging diesen Weg auf dem Boulevard der Versöhnung konsequent weiter. Reichelt dagegen hatte von Tag eins an die Lizenz zum Ätzen. Unter seiner Führung wurde Bild zumindest gefühlt wieder die alte Kampfschleuder aus den 1980ern.
Reichelt ist ein Bild-Eigengewächs
Reichelts Durchmarsch und die Inthronisierung seiner Buddys auf den Schaltstellen der Redaktion führte zur Abwanderung oder inneren Emigration vieler gestandener Bild-Kräfte. Selbst das früher gefürchtete Investigativressort des Blattes zerbröselte. „Es ist doch gut, klar zu sein und zu sagen: An diesen Punkten passen wir nicht mehr zu einander. Dann trennt man sich – und es kommt etwas Neues. Leistungsträger haben wir durch neue Leistungsträger ersetzt“, kommentierte Reichelt die Entwicklung trocken vor gut einem Jahr im Fachdienst kressPro.
Macht strömt Reichelt dabei aus jeder Pore, er gefällt sich zwischendurch auch immer mal in der Rolle des enfant terrible. Wohl niemand raucht so demonstrativ und marktschreierisch im heute eher nikotinfreien Journalismus. Was Reichelt zugute zu halten ist: Er sorgte auf seine Weise für Durchlässigkeit im verkrusteten Springer-Reich. Die Anekdote, wie er einen jungen Nachtportier aus einem Freiburger Hotel, der für Bild brannte, mal eben zum Reporter machte und bald nach Beirut schickte, gab er gern zum Besten.
Spektakuläre Auslandseinsätze sind ohnehin ganz nach Reichelts Geschmack, schließlich ist das Bild-Eigengewächs so selbst ganz nach oben gekommen. Reichelt kennt Bild und sonst fast nix. Zuerst machte er ein Volontariat bei Bild, dann besuchte er die hauseigene Axel-Springer-Akademie.
„Ich liebe Bild“
Es folgten Einsätze in Afghanistan, Georgien, Thailand und vielen Kriegs- und Krisengebieten mehr. 2007 war er schon Chefreporter. Ab 2014 durfte er dann als Chef von bild.de einen Vorgeschmack darauf geben, was passieren würde, wenn er ganz oben ankommt. 2017 war es dann soweit. Dass Tanit Koch vor allem wegen Reichelt ging, ist ein offenes Geheimnis.
Genau wie der Umstand, dass Reichelt seine unangefochtene Position vor allem dem Mann verdankt, der bei Springer längst in die Rolle des Verlegers geschlüpft ist. Dass Mathias Döpfner in Reichelt so etwas wie ein alter ego sieht, ist dabei nur auf den ersten Blick ein Widerspruch.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — L to R: Düzen Tekkal, Friede Springer, Mathias Döpfner, Kai Diekmann, and Julian Reichelt, June 2019