Erstellt von Redaktion am Freitag 24. April 2020
Die Angst und das Kind
Der treueste Freund des Menschen ist das Kind. Seit vielen Tausend Jahren lebt der Homo sapiens in enger Gemeinschaft mit dem kleinen Gefährten. Die Coronakrise offenbart ein ambivalentes Verhältnis.
Aufbruch ins Bekannte
Die Chefredaktion einer deutschen Wochenzeitung hat die Ausgabe nach der Corona-Pressekonferenz der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten vom 15. April mit dem Satz beworben: „Die schrittweise Lockerung der Verbote spaltet das Land.“ Das ist empathisch vielversprechend, klingt vertraut und zeigt uns, dass es gewiss ein Leben nach der Seuche geben wird. Es ist das Leben, in welchem sich die Einwohner der Post-Postmoderne angenehm gruseln und mehrheitlich auskennen: die Welt des Gespaltenseins.
Das „Gespaltenwerden der Gesellschaft“ oder besser noch gleich des ganzen „Landes“ ist ja einer der wichtigsten Gegenstände der Kommunikation über den Zustand der Welt und die Perspektiven des Lebens geworden, ganz unabhängig vom Sachgebiet und fachübergreifend: Zustände des Gespaltenseins treiben Theologen wie Kernphysiker, Krankenhausverwalter wie Gewerkschaftssekretäre, Ladeninhaber wie Steuerzahler gleichermaßen um. Nicht gänzlich klar wird oft, wo genau die jeweils beklagte Spaltung sich abspielt: Zwischen dem Sprechenden selbst und seiner Sehnsuchtsheimat oder im Draußen irgendwo, wo alles immer schlimmer wird? Ich will hier nicht (erneut) den Spuren und Implikationen des Begriffs nachforschen und mich daher auf den Hinweis beschränken, dass die assoziativen Sinnverbindungen zwischen Innerem (Psyche) und Äußerem (Gesellschaft) allerlei Risiken für Missverständnisse bergen.
Was soll das überhaupt bedeuten: „Die schrittweise Lockerung spaltet das Land“? Hatten wir nicht vier Wochen lang gehört, dass es doch gerade die nun gelockerten Maßnahmen seien, die „das Land spalten“? Waren nicht das Land, die Leute, die Wirtschaft und die Gesellschaft auf das fürchterlichste gespalten in Kranke und Gesunde, Risikogrüppler und Risikoferne, Helden und Opfer, Bäcker und Baumärkte? Mussten wir uns nicht alle immerzu entscheiden, welcher Spaltungsfraktion wir angehörten wollten: Folgen wir Wieler oder Drosten, Lanz oder Plasberg; halten wir das Heinsberg-Protokoll für nobelpreiswürdig oder die Münchner Studie; hat Südkorea recht oder Schweden? Und was hat das alles mit der Spaltung in uns zu tun, zwischen Osterentspannung und Urlaubsstornierung, Biergartenfreundesehnsucht und Singlekochbuch? Und dann noch die Spaltungsaufhebungen! Diese stressigen Verschmelzungen von Innen und Außen, Kumpel und Lebenspartner, Homeoffice und Meeting!
Man soll nicht alles schlechtreden: Die jahrtausendealte Kulturtechnik des „Homeoffice“ hat eine glänzende Wiederbelebung erfahren. Ähnliches gilt für die Erneuerung der Familie – um nicht zu sagen: der „bürgerlichen Kleinfamilie“ – als Gegenstand der soziologischen, tiefenpsychologischen, ökonomischen, nicht zu vergessen kriminologischen Rundumforschung, seiten- wie abendfüllendes Thema sowie Anlass zu allgemeiner Sorge, Betrachtung, Ratgeberliteratur, Warnung, Verzweiflung und so weiter. Eigentlich, so dachte man, hätte sich das Thema hierzulande weitgehend erledigt, nachdem die traumatisierenden Strukturen des 19. Jahrhunderts nun endlich zugunsten der traumatisierenden Strukturen des 21. Jahrhunderts zerschlagen sind.
Und nun das: Das Virus aus Wuhan spült uns die Lebenspartner schon mittags vor die Füße und die Kinder ins Haus. Es „spaltet“ nun das Land in Kinderhabende und Kinderfreie, also schon wieder in Opfer und Gewinnler. Ich habe kürzlich gelernt, dass es neben dem Grundrecht auf Freiheit und dem relativen Recht auf Leben zwei entscheidend wichtige Menschenrechte gibt: das Recht auf Demonstrations- und Versammlungsfreiheit und das Recht auf Ganztagesbetreuung durch (mindestens!) Bachelor-Kinderbetreuer. Das erstgenannte Grundrecht (Artikel 8 des Grundgesetzes) hat durch das Schließen von Hallenbädern, Biergärten und Klubs einen ungeahnten Zuwachs an Verteidigern erhalten. Das Menschenrecht auf aushäusige Ganztagesbetreuung ist eine Frucht der Grundrechte aus Artikel 12 (Berufsfreiheit), Artikel 14 (Garantie des Eigentums) und Artikel 11 (Freizügigkeit), lässt sich aber selbstverständlich auch auf Artikel 3 Absatz 2 Satz 1 (Gleichheitsberechtigungsgebot) stützen. Da die liebe Mutter heutzutage meist nicht mehr gewillt ist, ihr Alltagsdasein lebenslang dem Wohlergehen der zukünftigen Erben zu widmen, und der durchschnittlich liebe Vater das Reiheneckhaus samt Geborgenheitsbesatzung für den Feierabend sowieso nicht mehr allein zusammensparen kann, haben sich der Drang des Menschen zur Freiheit und der Drang des Kapitalismus zur Durchdringung und Verflüssigung der Welt auf wunderbare Weise und ganz naturwüchsig verbunden, ganz so wie vor einiger Zeit noch das natürliche Wesen des Menschen einen garantiert ewigen Bund mit den Handwerkszünften oder der Schollengebundenheit des Leibeigenen einging.
Das Kind als Mensch
Völlig zufällig hat zeitgleich die Wissenschaft von der Menschennatur entdeckt, dass es für die Kleinen am allerbesten sei, den Traumatisierungen der frühen Phase baldmöglichst zu entkommen ins Reich der Identität und der professionellen Achtsamkeit, also in Kinderkrippe, Kindertagesstätte, Ganztagsgrundschule. Kinder sind, wie ich kürzlich las, nicht nur unsere Zukunft, sondern (!) haben „ein Recht auf Gegenwart“. Dieser harmlos wirkende Satz ist von erschreckender Ambivalenz. „Kinder“ – was immer man sich unter der Gattungsbezeichnung hier vorzustellen hat – sind vor allem ihre eigene Gegenwart und Zukunft. Im Flehen, sie seien „unsere“ Zukunft, verpuppt sich daher nicht mehr als die Angst, die eigene Gegenwart könne zu Ende gehen.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
—————————————————————–
Grafikquellen :
Oben — Geschlossener Spielplatz in Eilenriede (Hannover, Deutschland) während der COVID-19-Pandemie.
This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.
——————————
Unten — Thomas Fischer auf der re:publica 2016