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Globalisierungsschlinge

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 29. März 2018

Für einen neuen Internationalismus

File:Yanis Varoufakis - El Desperttador 2016.jpg

von Yanis Varoufakis

In einer anderen Zeit, im Jahr 1991, verband ein linker Freund einmal seine Klage über den Zerfall des „real existierenden Sozialismus“ mit Lobeshymnen darauf, wie dieser doch die Sowjetunion binnen nur eines Jahrzehnts vom Pflug zum Sputnik vorangebracht habe. Ich erinnere mich, wie verletzt und missbilligend er guckte, als ich erwiderte: „Na und? Kein System, das nicht nachhaltig ist, lässt sich auf Dauer aufrechterhalten.“ Heute befindet sich nun auch die Globalisierung auf dem Rückzug und ihre liberalen Cheerleader gleichen meinem erwähnten Freund, wenn sie ihre Klagen darüber mit ähnlich zutreffenden, aber sinnlosen Ruhmesliedern begleiten, dass die Globalisierung Milliarden Menschen aus der Armut erlöst habe.

Doch auch progressiven Gegnern der Globalisierung wie meinem linken Freund von 1991 spendet die Art und Weise, in der sich deren Rückzug vollzieht, keinen Trost. In den USA, in Brexit-Britannien und anderswo sticht mittlerweile ein Neo-Provinzialismus die Globalisierung und ihre Erfolge aus. Allenthalben geht der arbeitssparende technologische Wandel inzwischen mit Arbeitslosigkeit und Deglobalisierung einher. Keine dieser Entwicklungen eröffnet all denen, die mal an eine grenzenlose Gemeinschaft arbeitender Menschen geglaubt haben, erfreuliche Perspektiven.

Dabei hatte die Globalisierung der Menschheit eigentlich schon damit begonnen, dass unsere Vorfahren Afrika verließen – die ersten Wirtschaftsmigranten der bekannten Geschichte. Darüber hinaus fungierte der Kapitalismus zwei Jahrhunderte hindurch als – wie Marx und Engels schrieben – „schwere Artillerie“ der Bourgeoisie, die mit Hilfe der „wohlfeilen Preise ihrer Waren“ alle „chinesischen Mauern in den Grund schießt“. So hat der Kapitalismus den Absatzmarkt für seine Produkte beständig ausgeweitet und die „alte lokale und nationale Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit“ durch „allseitigen Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander“ ersetzt.

Doch erst in den 1990er Jahren wurde uns wirklich klar, welch gewaltige Kräfte da entfesselt worden waren und dass es, um die weitgehende Emanzipation des Kapitals von jeglicher Regulierung auf den Begriff zu bringen, eines neuen Terminus bedurfte. Da war eine Weltwirtschaft entstanden, deren Wachstum und Gleichgewicht auf zunehmend unausgewogenen Waren- und Geldbewegungen basiert. Dieses relativ neue Phänomen – das wir „Globalisierung“ tauften – ist es, dessen Krise und Rückzugsbewegungen uns heute in Atem halten.

Nur ein ambitionierter neuer Internationalismus kann den Geist des Humanismus im planetarischen Maßstab wiederbeleben. Doch bevor wir zum Plädoyer zugunsten dieses Antidots übergehen, lohnt es sich, zunächst die Ursprünge und Widersprüche der Globalisierung in Erinnerung zu rufen.

Die Dollarisierung Europas

1944 hatte die New-Deal-Regierung in Washington begriffen, dass es gegen eine Wiederkehr der Großen Depression bei Kriegsende nur ein Mittel gab: Amerika musste seine Überschüsse nach Europa und Japan transferieren und so effektiv recyceln, um ausländische Nachfrage für all die neuen glitzernden Produkte – Waschmaschinen, Autos, Fernseher, Passagierflugzeuge – zu erzeugen, auf die Amerikas Industrie sich anstelle von Militärgerät umstellen würde. Der Marshallplan für Europa war übrigens nur eines dieser Transferprogramme.

Damit begann das Projekt der Dollarisierung Europas, der Grundlegung der Europäischen Union als ein Kartell der Schwerindustrie, und des japanischen Wiederaufbaus im Rahmen einer weltweiten Währungsunion auf Dollarbasis. So sollte ein ausgewogenes Weltsystem mit festen Wechselkursen, nahezu gleichbleibenden Zinssätzen und langweiligen (weil strengen Kapitalkontrollen unterworfenen) Banken entstehen. Dieses kühne System, das auch unter dem Namen Bretton Woods bekannt wurde, brachte uns ein Goldenes Zeitalter niedriger Arbeitslosigkeits- und Inflationsraten, mit starkem Wachstum und eindrucksvoll verringerter Ungleichheit.

Aber ach: Ende der 1960er Jahre war dieses System erledigt. Wieso? Weil die USA ihrer Überschüsse verlustig gingen und allmählich in ein doppeltes Defizit (des Außenhandels und des Staatshaushalts) abglitten, weshalb sie nicht länger fähig waren, das Weltsystem zu stabilisieren. Stets bereit, sich der Wirklichkeit zu stellen, würgte Washington selbst seine ansehnlichste Schöpfung ab: Am 15. August 1971 verkündete der damalige US-Präsident Richard Nixon den Hinauswurf Europas und Japans aus der Dollarzone. Kaum jemand wurde gewahr, dass dieser Sommertag die Globalisierung gebar.

Nixons Entscheidung erklärt sich aus jenem, amerikanischen Entscheidungsträgern eigenen erfrischenden Mangel an Defizit-Phobie. Nicht gewillt, seine Defizite durch Spardiktate zu zügeln (die eher die Befähigung des Landes, weltweit hegemoniale Macht auszustrahlen, als seine Defizite beschnitten hätten), trat man in Washington ganz im Gegenteil aufs Gaspedal. Indem sie ihre Defizite bewusst ausweiteten, funktionierten die USA wie ein gewaltiger Staubsauger, der massive Nettoexporte aus Deutschland, Japan und später China anzog. Doch was der Ära von 1980 bis 2008 ihren besonderen Charakter und ihre Durchschlagskraft verlieh, war die Art und Weise, in der die USA nun ihre wachsenden Defizite finanzierten: Sie entfesselten einen wahren Geldtsunami! Anderer Leute Geld, die Profite europäischer, japanischer und chinesischer Netto-Exporteure nämlich, strömte auf der Suche nach höheren Erträgen der Wall Street zu.

Der unaufhaltsame Vormarsch des Finanzkapitals

Doch damit die Wall Street eine solche Anziehungskraft auf das Kapital anderer Leute ausüben konnte, bedurfte es zweier Voraussetzungen. Eine davon bestand in der Befreiung des amerikanischen Finanzzentrums von den Regulierungsmaßnahmen aus der Zeit des New Deal. Die Deregulierung der Banken war das Kernstück dieses gewagten Wendemanövers: Statt wie einstmals amerikanische Überschüsse durch ihren Transfer nach Europa zu recyceln, recycelten die USA jetzt die Überschüsse der restlichen Welt, die der Wall Street zuströmten. So vollendeten sie die Wende, die erforderlich geworden war, um Amerikas Defizite zu finanzieren und die Globalisierung voranzutreiben.

Und die zweite Voraussetzung? Arbeit musste in Amerika billiger werden, und an die Stelle steigender Löhne sollten steigende Kredite treten, für deren Bereitstellung die Wall Street sorgte. Diese Verbilligung amerikanischer Arbeit musste sein, damit die Kapitalerträge der Wall Street jene in Frankfurt und Tokio übersteigen konnten, deren Wettbewerbsfähigkeit stattdessen auf Produktivitätsfortschritten beruhte.

All dies führte dazu, dass der Neoliberalismus nach dem Ende des Bretton-Woods-Systems von den Rändern ins Zentrum der politischen Ökonomie rückte und im Diskurs dominant wurde. Dabei handelte es sich bloß um eine Heilslehre, die Politiker ermutigte, die Schutzvorkehrungen für arbeitende Menschen und die Gesellschaft insgesamt zu demontieren, die in der Zeit des New Deal geschaffen worden waren, um die missbräuchlichen Praktiken von eigensüchtigen Wall-Street-Bankern und Beutemachern wie der Handelskette Walmart einzudämmen.

Alles in allem ist das, was wir heute als Globalisierung bezeichnen, Resultat eines schönen neuen finanzialisierten Recyclingmechanismus, der mit enormer Energie durchgesetzt wurde und ständig wachsende Ungleichgewichte schuf. Der Aufstieg des Neoliberalismus, die umfassende Bankenderegulierung und die „Gier ist gut“-Kultur der Wall Street sind lediglich Symptome dieser Umwälzung. Es dauerte nicht lange, bis die Sowjetunion und ihre Satelliten zusammenbrachen, deren neue Machthaber scharf auf ein Stück vom Kuchen waren. Zeitgleich entschloss sich die Kommunistische Partei Chinas, ihr Überleben dadurch zu sichern, dass sie die chinesische Arbeiterschaft geordnet in das Weltproletariat des Kapitalismus einfügte.

Der unaufhaltsame Vormarsch des Finanzkapitals und die Erweiterung des globalen Arbeitsmarkts um nicht weniger als zwei Milliarden Werktätige sorgten für eine gewaltige Einkommens- und Vermögensumverteilung. Doch während in Asien Milliarden Menschen aus äußerster Armut aufsteigen konnten, wurden westliche Arbeiter massenhaft ausgemustert. Deren Stimmen gingen in der Kakophonie der Geldmacherei unter, die in den Epizentren der Finanzialisierung herrschte.

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Source Desperttando con Varoufakis. Tenemos un Plan B (at 3min 12s)
Author El Desperttador (youtube)
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