Schlechte Arbeit-gutes Geld
Erstellt von Redaktion am Freitag 16. Oktober 2020
30 Jahre danach: Die zweite Chance
Das habe ich gestern mit Selbsterniedrigung beschrieben : Niemand würde ich für Irgendjemanden einen politischen Schirm halten oder halten lassen!
Von Jürgen Habermas
Merkels europapolitische Kehrtwende und der innerdeutsche Vereinigungsprozess
Dreißig Jahre nach der weltgeschichtlichen Zäsur von 1989/90 könnten die schicksalhaft hereinbrechenden Ereignisse erneut eine Zäsur bilden. Das wird sich in den kommenden Monaten entscheiden – in Brüssel, aber nicht zuletzt auch in Berlin.
Auf den ersten Blick scheint es etwas weit hergeholt, die Überwindung der bipolaren Weltordnung und die globale Ausbreitung des siegreichen Kapitalismus mit dem entwaffnenden Naturschicksal einer anhaltenden Pandemie und einer dadurch ausgelösten weltwirtschaftlichen Krise von einstweilen unbekanntem Ausmaß zu vergleichen. Aber wenn wir Europäer auf diesen Schock tatsächlich eine konstruktive Antwort fänden, würde sich in einer Hinsicht eine Parallele zwischen den beiden Zäsuren anbieten. Damals waren die innerdeutsche und die europäische Einigung wie durch kommunizierende Röhren miteinander verbunden. Heute ist ein Zusammenhang beider Prozesse, der damals auf der Hand lag, zwar nicht derart offensichtlich, doch mit Blick auf den bevorstehenden, wenn auch während der drei zurückliegenden Jahrzehnte eigentümlich blass gebliebenen, Nationalfeiertag liegt folgende Vermutung nahe: Die Unwuchten des innerdeutschen Einigungsprozesses sind gewiss nicht die Ursache für die überraschende Wiederbelebung des europäischen Einigungsprozesses, aber der historische Abstand, den wir heute von diesen inneren Problemen gewinnen, hat dazu beigetragen, dass die deutsche Bundesregierung sich endlich wieder der liegengebliebenen historischen Aufgabe der politischen Gestaltung der europäischen Zukunft zuwendet.
Diesen Abstand verdanken wir nicht nur dem Druck der weltweiten Turbulenzen infolge der Coronakrise; auch innenpolitisch haben sich die Relevanzen entscheidend verändert – und zwar vor allem durch die Verschiebung der parteipolitischen Machtbalance infolge des Aufstiegs der AfD. Gerade dadurch erhalten wir dreißig Jahre nach der Zeitenwende eine zweite Chance, die deutsche und die europäische Einheit gemeinsam zu befördern.
1989/90 musste die gewissermaßen über Nacht möglich gewordene Vereinigung des vier Jahrzehnte geteilten Deutschlands eine folgenreiche Kräfteverschiebung herbeiführen. Diese Aussicht rief historisch begründete Ängste vor einer Wiederkehr der „deutschen Frage“ auf den Plan. Während die USA den geschickt operierenden Bundeskanzler unterstützten, waren die europäischen Nachbarn vom Gespenst der Wiederkehr eines Deutschen Reiches beunruhigt – also jener „Mittelmacht“, die seit Kaiser Wilhelm II. für die friedliche Integration in den Kreis seiner Nachbarn zu groß und für die Rolle eines Hegemons zu klein gewesen war. Dieser Wunsch, die Einbindung Deutschlands in die europäische Ordnung unumkehrbar zu machen, war, wie sich dann im Laufe der Eurokrise ab 2010 auch zeigen sollte, nur zu berechtigt.
Anders als die erschrocken zurückweichende Margaret Thatcher wählte damals François Mitterrand mutig den Weg nach vorn. Um dem nationalen Egoismus eines Nachbarn, der seine wirtschaftliche Stärke im eigenen Interesse ausreizen könnte, vorzubeugen, verlangte er Helmut Kohl die Zustimmung zur Einführung des Euro ab. Die Anfänge dieser kühnen, von Jacques Delors entschieden vorangetriebenen Initiative gehen schon auf das Jahr 1970 zurück, als die damalige Europäische Gemeinschaft mit dem Werner-Vertrag die Gründung einer Währungsunion erstmalig anpeilte. Das Projekt scheiterte letztlich an den folgenden währungspolitischen Umbrüchen und dem Ende des Bretton-Woods-Abkommens. Doch auch in den Verhandlungen zwischen Valery Giscard d‘Estaing und Helmut Schmidt spielten diese Ideen dann wieder eine Rolle. Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass Helmut Kohl – nach dem am 9. Dezember 1989 von Mitterrand herbeigeführten Beschluss des Europäischen Rates in Straßburg – aus eigener politischer Überzeugung die weitsichtige Verbindung der nationalen Einheit mit dem bahnbrechenden Vertrag von Maastricht gegen die politischen Widerstände im eigenen Land durchgesetzt hat.[1]
Im Vergleich mit diesem historischen Vorgang sind es heute die ökonomischen Folgen einer Pandemie, die in den am härtesten betroffenen west- und südeuropäischen Mitgliedstaaten der EU untragbare Schulden verursachen und dadurch die Existenz der Währungsgemeinschaft handgreiflich bedrohen. Heute ist es dieses Risiko, das die deutsche Exportwirtschaft am meisten fürchtet und das die deutsche Bundesregierung gegenüber dem lange Zeit abgewiesenen Drängen des französischen Präsidenten auf engere europäische Kooperation letztlich gefügig gemacht hat. Die daraufhin von Angela Merkel und Emmanuel Macron gemeinsam unternommene Offensive für einen aus langfristigen Anleihen der Europäischen Union gespeisten Aufbaufonds, der zum großen Teil in Gestalt von nicht rückzahlbaren Zuschüssen den hilfsbedürftigen Mitgliedstaaten zugutekommen soll, hat auf dem letzten Gipfeltreffen tatsächlich zu einem bemerkenswerten Kompromiss geführt. Der Entschluss zur gemeinsamen europäischen Schuldenaufnahme, der erst durch das Ausscheiden Großbritanniens möglich geworden ist, könnte den seit Maastricht ersten wirklich bedeutenden Integrationsschub einleiten.
Auch wenn dieser Beschluss noch keineswegs in trockenen Tüchern ist, sprach Macron noch auf dem Gipfel selbst vom „wichtigsten Moment für Europa seit Gründung des Euros“. Gewiss, anders als Macron gewünscht hatte, blieb Angela Merkel auch dabei ihrem Operationsmodus der kleinen Schritte treu. Die Kanzlerin sucht keine dauerhafte institutionelle Lösung, sondern nur eine einmalige Kompensation der von der Pandemie verursachten Schäden.[2] Obgleich die Existenzbedrohung von der unvollständigen politischen Verfassung der Europäischen Währungsgemeinschaft ausgeht, werden die gemeinsamen Kredite von den Mitgliedern nicht allein der Währungsgemeinschaft, sondern der Union im Ganzen aufgenommen. Aber der Fortschritt ist bekanntlich eine Schnecke und bewegt sich auf krummen Pfaden.
Wie deutsche Einheit und europäische Einigung zusammenhängen
Wenn wir heute, angesichts der Wiederbelebung der europäischen Dynamik, über drei Jahrzehnte hinweg eine Parallele zur anfänglichen Verbindung des deutschen mit dem europäischen Einigungsprozess aufzeigen möchten, müssen wir zunächst an die retardierenden Folgen erinnern, die die deutsche Einheit für die Europapolitik gehabt hat. Auch wenn die Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates mit einem folgenreichen Integrationsschub durch den Verzicht auf die D-Mark gewissermaßen erkauft worden ist, hat sie die weitere Vertiefung der europäischen Kooperation nicht gerade befördert.
Für die politisch ganz anders sozialisierten vormaligen Bürger der DDR hatte das Europa-Thema nicht die gleiche Bedeutung und dieselbe Relevanz wie für die Bürger der „alten“ Bundesrepublik. Seit der Herstellung der nationalen Einheit haben sich aber auch die Interessenlage und das Bewusstsein der deutschen Regierungen verändert. Die Aufmerksamkeit wurde zunächst durch die beispiellose Aufgabe absorbiert, die marode Wirtschaft der DDR auf die Märkte des rheinischen Kapitalismus umzustellen und eine von der SED überwachte staatliche Bürokratie an rechtsstaatliche Verwaltungsroutinen anzuschließen. Von dieser notwendig gewordenen Selbstbeschäftigung abgesehen, haben sich die Regierungen seit Kohl aber auch wieder schnell an die „Normalität“ des wiederhergestellten Nationalstaats gewöhnt. Historiker, die diese Normalität damals rühmten, haben wohl etwas voreilig die im Westen entwickelten Ansätze zu einem postnationalen Selbstverständnis verabschiedet. Aber die selbstbewusster auftretende Außenpolitik erweckte bei skeptischen Beobachtern durchaus den Eindruck, als wolle sich „Berlin“ dank des gewachsenen ökonomischen Gewichts über die europäischen Nachbarn hinweg direkt – gewissermaßen „weltunmittelbar“ – zu den USA und China ins Verhältnis setzen. Trotzdem war die nationale Einigung nicht als solche der ausschlaggebende Grund dafür, dass sich eine zögernde Bundesregierung bis in die jüngste Zeit an der Seite Londons eher für eine Erweiterung der Europäischen Union im Ganzen als für die überfällige institutionelle Vertiefung der Währungsgemeinschaft engagiert hat. Das hatte vielmehr wirtschaftspolitische Gründe, die freilich erst im Zuge der Banken- und Staatsschuldenkrise deutlicher hervorgetreten sind. Bis zum Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, war die EU ohnehin vor allem mit den institutionellen Folgen und gesellschaftlichen Turbulenzen der 2004 vollzogenen Osterweiterung beschäftigt.
Die Kehrtwende der deutschen Europapolitik
Schon vor der in Maastricht beschlossenen Einführung des Euro hatten die Fachleute über die dysfunktionale Struktur der geplanten Währungsgemeinschaft diskutiert; auch den beteiligten Politikern war klar, dass eine gemeinsame Währung, die den ökonomisch schwächeren Mitgliedsländern die Option zur Abwertung der jeweils eigenen Währung nimmt, die innerhalb der Währungsgemeinschaft existierenden Ungleichgewichte immer weiter verstärken muss, solange dieser die politischen Kompetenzen für ausgleichende Maßnahmen fehlen. Stabilität kann sie nur auf dem Wege einer Harmonisierung der Steuer- und Haushaltspolitiken, letztlich also nur durch eine gemeinsame Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik erreichen. Daher ist die Währungsgemeinschaft seinerzeit von ihren Protagonisten bereits in der Erwartung eines sukzessiven Ausbaus zu einer politischen Euro-Union gegründet worden.
Das Ausbleiben dieser weiteren Reformen hat im Verlauf der 2007 ausgelösten Finanz- und Bankenkrise zu den bekannten, teilweise außerhalb des EU-Rechts konstruierten Maßnahmen geführt – und zu den entsprechenden Konflikten zwischen den sogenannten Geber- und Nehmerländern des europäischen Nordens und Südens.[3] Die deutsche Exportnation hat auch in dieser Krise den Nacken steif gehalten und mit Schlachtrufen gegen eine Vergemeinschaftung der Schulden jeden weiteren Integrationsschritt selbst dann noch verweigert, als Emmanuel Macron ab 2017 mit weitreichenden Plänen für die Stärkung der Union auf die nötigen Souveränitätsverzichte drängte. Daher sind es Krokodilstränen, die der Architekt der von Deutschland im Europäischen Rat durchgesetzten Sparpolitik jetzt vergießt, wenn er rückblickend beklagt: „Vor allem braucht es heute den Mut, den wir in der Krise 2010 nicht hatten, um endlich zu mehr Integration in der Eurozone zu kommen. Wir dürfen die Chance nicht wieder verpassen, sondern müssen die Disruption entschlossen nützen, um über den Europäischen Aufbaufonds jetzt die Währungsunion zu einer Wirtschaftsunion auszubauen.“[4]
Mit der „Disruption“ meint Wolfgang Schäuble die drastischen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Aber warum rufen Merkel und Schäuble heute zu dem Mut auf, der ihnen angeblich vor zehn Jahren gefehlt hat? Ist es allein die ökonomisch begründete Furcht vor dem definitiven Scheitern des europäischen Projekts, die bestehende Relevanzen so verändert, dass sie zur Erklärung dieses unvorbereiteten Kurswechsels ausreicht? Oder sind es die Gefahren einer doch schon länger veränderten geopolitischen Weltlage, die die demokratische Lebensform und das kulturelle Selbstverständnis der Europäer auf die Probe stellt?
Kurzum: Was erklärt die plötzliche, fast verstohlene Akzeptanz einer jahrelang verteufelten Schuldenvergemeinschaftung? Bei aller Chuzpe ob dieser Volte kann Schäuble immerhin auf die eigene europafreundliche Vorvergangenheit zurückblicken. Aber angesichts einer zutiefst pragmatisch eingestellten, konsequent auf Sicht fahrenden, stets demoskopiegeleitet handelnden Politikerin wie Angela Merkel bleibt eine derart radikale und unvermittelt vollzogene Kehrtwende doch rätselhaft. Bevor sie sich zu ihrem Entschluss, in Brüssel auf die Rolle des Anführers der „Sparsamen“ zu verzichten, aufraffte, mussten nicht nur die Umfragen stimmen. Nein, wie schon in früheren Fällen musste eine Verschiebung der innenpolitischen Machtbalance auch die näher liegenden Relevanzen und damit Entscheidendes verändert haben. Auffällig war ja in der Tat das Verstummen der sonst reflexhaft einsetzenden innerparteilichen Kritik am Einlenken Merkels. Dabei hatte sie sich quasi über Nacht zu einer nahtlosen Kooperation mit Macron entschlossen und einem historischen Kompromiss zugestimmt, der das Tor zu einer bis dahin versiegelten Zukunft der Europäischen Union einen Spalt weit öffnet. Wo aber blieb der Widerspruch der starken Riege der europakritischen Bedenkenträger in den eigenen Reihen – der des lautstarken Wirtschaftsflügels der CDU, der wichtigen Wirtschaftsverbände, der Wirtschaftsredaktionen der Leitmedien?
Was sich innenpolitisch in jüngster Zeit geändert hat – und dafür hatte Merkel schon immer eine Spürnase –, ist der Umstand, dass sich zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik rechts von der Union eine erfolgreiche Partei etablieren konnte, die die Europakritik mit einem bisher unbekannt radikalen, nicht länger verstohlenen, sondern nackt auftretenden, ethnozentrisch gefärbten Nationalismus verbindet. Bis dahin hatte die CDU-Führung stets dafür gesorgt, dass sich der deutsche Wirtschaftsnationalismus in eine europafreundliche Rhetorik einkleiden ließ. Doch mit der Verschiebung der parteipolitischen Machtbalance hat gleichzeitig ein Protestpotential seine Sprache gefunden, das sich im innerdeutschen Einigungsprozess lange aufgestaut hatte.
Die AfD an der Nahtstelle des europäisch-deutschen Einigungsprozesses
Die AfD ist zunächst von einer nationalkonservativen Gruppe westdeutscher Ökonomen und Verbandsvertreter gegründet worden, denen der europapolitische Kurs der Bundesregierung auf dem Höhepunkt der Banken- und Staatsschuldenkrise 2012 die deutschen Wirtschaftsinteressen nicht ausreichend zu schützen schien. Hinzu kam so etwas wie eine Abspaltung des heute noch in Alexander Gauland verkörperten nationalkonservativen Dregger-Flügels der CDU. Zu einem Lackmustest für die Intensität der Konflikte im Wiedervereinigungsprozess entwickelte sich diese Partei freilich erst, als sie ab 2015 – auch dank ihrer in der alten Bundesrepublik verwurzelten, gegen den Geist von ‘68 mobil gemachten Mentalität – unter der Führung von Frauke Petry und Jörg Meuthen in den ostdeutschen Ländern stärker Fuß fasste und sich dort mit den autochthon entstandenen Motiven einer inzwischen verbreiteten Kritik an der Vereinigungspolitik verband. Die Europakritik diente bei dieser, nun zusätzlich durch Flüchtlingskrise und Fremdenhass beschleunigten Amalgamierung von west- und ostdeutschen Protestwählern als Katalysator. Daher konnte sich der Konflikt zwischen CDU und AfD in jenem Augenblick verdichten, als sich der Europaabgeordnete Meuthen am 8. Juli 2020 im Straßburger Parlament erhob und der Kanzlerin – bei ihrer Vorstellung des Plans eines europäischen Aufbaufonds – die Argumente entgegenschleuderte, mit denen sie selbst ein Jahrzehnt lang die Krisenagenda von Schäubles Sparpolitik begründet hatte.
Damit berühren wir die Nahtstelle, an der sich heute der europäische und der innerdeutsche Einigungsprozess erneut treffen. Denn in solchen Veränderungen des parteipolitischen Spektrums spiegeln sich tiefer liegende Verschiebungen in den politischen Mentalitäten einer Bevölkerung. Nach meiner Vermutung drückt sich in Merkels europapolitischer Kehre außer ihrer politischen Klugheit auch der größer gewordene historische Abstand aus, der uns heute vom glücklichen Moment der wiedererlangten staatlichen Einheit und dem knirschend verlaufenden Prozess der innerdeutschen Einigung trennt.[5]
Es wäre zu einfach, eine solche Historisierung an der Flut der pünktlich zum Jubiläum erschienenen historischen Untersuchungen, journalistischen Reportagen und mehr oder weniger persönlich gefärbten Rückblicke abzulesen – diese Publikationswelle ist sehr viel eher selber Ausdruck einer politisch-kulturellen Veränderung im innerdeutschen Verhältnis. Dass sich eine größere Distanz zu den Folgeproblemen der deutschen Einheit angebahnt hat, führe ich nämlich auf eine aktuelle Polarisierung der politischen Einstellungen zu diesem Geschehen zurück. Die politische Regression, die in Gestalt der AfD auftritt, hat ein verwirrend ambivalentes Gesicht: sie hat auf der einen Seite einen gesamtdeutschen Charakter angenommen, andererseits trifft sie in Ost und West auf andere Nachkriegsgeschichten und andere Mentalitäten. Sie rückt uns aus dem gewachsenen historischen Abstand beides deutlicher vor Augen: die Gemeinsamkeit des parteipolitisch zugespitzten Konflikts und das, worauf dieser ein schärferes Licht wirft – die getrennten politischen Mentalitäten, die sich im Kontext von vier Jahrzehnten Bundesrepublik bzw. DDR herausgebildet haben.
Die Verwerfungen im politischen Verhältnis zwischen dem Westen und Osten Deutschlands, die vor allem in den Ereignissen von Chemnitz und Erfurt bundesweit manifest geworden sind, haben den gesamtdeutschen Charakter des inzwischen eingetretenen Klärungsprozesses zu Bewusstsein gebracht. Dafür war insbesondere das Drama symptomatisch, das sich nach der Thüringer Landtagswahl abspielte. Die ersten schroffen Stellungnahmen gegen den Tabubruch der Wahl eines FDP-Ministerpräsidenten mit Hilfe der gemeinsamen Stimmen von CDU und AfD stammten aus dem Mund von Angela Merkel und Markus Söder, einer Ostdeutschen und eines Bayern; die normative Klinge beider Äußerungen war von überraschender Schärfe. Die Bundeskanzlerin sprach von einem „unverzeihlichen Vorgang, der rückgängig gemacht werden muss“; und ihrer Unnachgiebigkeit verlieh sie durch die Entlassung des Ostbeauftragten der Bundesregierung noch zusätzlich Nachdruck. Das war schon eine andere Reaktion als die bloße Erinnerung an Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Bis dahin hatten sich die politischen Führungen um die „besorgten Bürger“ bemüht; nun sollten sie den fatalen Flirt mit den angeblich irregeleiteten Bürgern beenden. Angesichts der unübersichtlichen politischen Gemengelage in der thüringischen Parteienlandschaft und des wankelmütigen Verhaltens der lokalen CDU-Kollegen sollte mit den Zweideutigkeiten der bis dahin verfolgten Strategie der Umarmung Schluss sein. Die damit faktisch vollzogene politische Anerkennung einer Partei rechts von der Union ist etwas anderes als die bloße Existenz einer solchen Partei. Sie bedeutet den Verzicht auf die opportunistische Eingemeindung eines Wählerpotentials jenseits der eigenen programmatisch gezogenen Grenzen – und zugleich das Bekenntnis zu einer Praxis, wonach Wähler, die den gestiefelten nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Parolen ihre Stimme geben, Anspruch darauf haben, als demokratische Mitbürger ernst genommen, das heißt, schonungslos kritisiert zu werden.
Der Schock von Erfurt als gesamtdeutsches Problem
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Oben — © Bernhard Ludewig