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Rücksichtslose Kampfjogger

Erstellt von Redaktion am Sonntag 5. April 2020

Lasst mich durch, ich bin schnell!

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Von Ulrich Gutmair

Die im Laufen dargestellte Fitness ist ein Statement. Der Kampfjogger ist der SUV unter den Fußgängern.

Die Frau ist vollkommen außer Puste. Sie trägt die bunte Funktionskleidung der Läuferinnen. Breitbeinig steht sie da, wobei der Ausdruck „stehen“ in die Irre führen könnte, denn ihre Hände hat sie auf ihre Knie gestemmt. Ihr Atem geht stoßweise. Offensichtlich ist sie die Treppen hochgerannt, die aufs Dach des Hochbunkers im Berliner Volkspark Humboldt­hain führen, wo einst 16-Jährige im Himmel über der Stadt nach alliierten Bomberflugzeugen Ausschau hielten, um sie abzuschießen.

Die Frau hat es bis ans Ende der Treppe geschafft. Sie steht nicht mitten im Weg, aber den einen Schritt zur Seite, der für alle anderen freie Bahn mit 1,50 Meter Sicherheitsabstand bedeuten würde, den hat sie nicht mehr gemacht.

Für Passanten, die nach unten wollen, gibt es nun vier Möglichkeiten: 1. Nase zu und durch. 2. Abwarten und Mitleid spüren (nein, keine Empathie, das ist nicht nur nicht dasselbe, sondern was ganz anderes, das führt hier jetzt aber zu weit). 3. Einen anderen Weg nehmen. 4. Locker bleiben und auf jene Infektiologen vertrauen, die den nicht unbegründeten Verdacht äußern, dass unsere Gesellschaft ohnehin längst in einem viel höheren Maß als angenommen durchinfiziert ist.

Immerhin ist es möglich, sich angesichts der schwer atmenden, aber an Ort und Stelle verharrenden Läuferin zu entscheiden, was man nun lieber tun möchte. Anders verhält es sich mit Kampfjoggern, die, haben sie sich erst einmal in Bewegung gesetzt, in den Parks und auf den Gehwegen den idealen Vektor ihres Laufs unbeirrt verfolgen. Sie schauen beim Laufen nicht nach links und nicht nach rechts. Wie raketengetriebene Wunderwaffen ziehen sie ihre Bahn durch die Welt. Wenn sie eng an Spaziergängern vorbeirauschen, spüren diese den Windhauch einer überlegenen Lebensform. Ausweichen ist fast unmöglich. Wir müssen diese Läufer erdulden wie eine Strafe Gottes. Sie sind die SUVs unter den Fußgängern.

Optimiere dich selbst, lautet der biopolitische Imperativ

Anthropologisch gesehen ist der Mensch ein Läufer. Ganze Theorien der Menschwerdung befassen sich mit unserer Fähigkeit, viel zu schwitzen. Unser Vorfahr Homo erectus, so lautet die These von Daniel E. Lieberman, hetzte sein Abendessen in den Hitzetod. Der Passant ist zwar kein Beutetier des Kampfjoggers, aber er fühlt sich so.

Vor über 40 Jahren, als die postmoderne Laufbewegung begann, hatte das Laufen noch einen anarchistischen Touch. Es erscheint wenig erstaunlich, dass das Joggen in den neoliberalen 1980ern seinen Aufschwung nahm, auch in den durchgetanzten 1990ern nicht außer Mode geriet und als „Laufen“ nun so populär wie nie ist. Heute hat Laufen aber den Charakter einer Pflichtübung. Bleib gesund, halt dich fit, optimiere dich selbst, lautet der biopolitische Imperativ, der uns allerorten entgegenschallt. Oder, wie es der Weltrekord-Marathonläufer Eliud Kipchoge formuliert hat: „Nur die Disziplinierten sind im Leben frei. Undiszi­plinierte sind Sklaven von Stimmungen und Leidenschaft.“

Jimmy Carter jogging.jpg

An dieser Stelle ist es aus Gründen der Differenziertheit angezeigt, den Kampfjogger von anderen Läufertypen zu unterscheiden. Dazu zählen die mal leicht übergewichtigen, mal nur nicht besonders athletischen Jogger, die eher langsam unterwegs sind. Oft machen sie kleine Schritte. Man sieht ihnen an, dass sie das Laufen nicht betreiben, um über sich hinauszuwachsen. Weder sammeln sie Daten über Körper und Route, noch besitzen sie irgendeinen Ehrgeiz, die eigenen Rekorde oder gar die anderer zu brechen.

Quelle           :         TAZ            >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben         —        Häjyt kokouslenkillä

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  Unten       —            Jimmy Carter jogging

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