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Erstellt von Redaktion am Mittwoch 4. Juli 2018

Über Comic und Film im Kapitalismus

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von Georg Seeßlen

Am 5. Mai 1895 erschien in der Sunday World – der Beilage der von Joseph Pulitzer herausgegebenen New York World – ein Bildstreifen über einen rotzfrechen Straßenjungen, den der Zeichner Richard Felton Outcault nur mit einem Nachthemd bekleidet in der Stadt herumstreunen ließ. Nach dem Ort, an dem sich sein anarchischer Held herumtrieb, nannte Outcault seine Bilderserie „Hogan’s Alley“ (Hogans Gasse). Seinen Namen verdankte der erste Comicheld dem neuen Farbverfahren, das Pulitzer ausprobierte und das die Zeichnungen in einem hellen Gelb erstrahlen ließ: „The Yellow Kid“.

Am 10. Juni des Jahres 1895 führten die Brüder Auguste und Louis Lumière im Börsensaal zu Lyon eine Vorrichtung vor, mit der man fotografische Bilder in Bewegung aufnehmen und projizieren konnte. Sie nannten diesen Apparat „Cinématographe“ und zeigten damit in den nächsten Monaten in Paris vor zahlendem Publikum Filme wie „Arbeiter verlassen die Fabrik Lumière“ oder „Der begossene Rasensprenger“.

The Yellow Kid war die erste Kultfigur des Comic. Sie wurde eingesetzt zum Verkauf von Keksen und Zigaretten, vor allem aber benutzte Pulitzer den ebenso vulgären wie populären kleinen Proletarier für seine eigene Zeitung. The Yellow Kid bekam ein eigenes Brettspiel und ein Musical wurde ihm gewidmet. Zugleich zeigten sich brave Bürger empört über den rüden Jargon und verlangten ein Verbot, nicht nur der Figur, sondern gleich der ganzen Erzählweise.

Zu dem Zeitpunkt hatten jedoch auch Pulitzers Konkurrenten bereits die Idee aufgegriffen, mit Bildergeschichten aus den Slums neue Leser zu erschließen. Auf „Hogan’s Alley“ folgte „McFadden’s Flats“, und mit „The Kalsomine Family“ kam die erste afroamerikanische Familie zu ihrem Comicrecht. Ein neues Format hatte das Publikum erobert, von den Ghettokids bis zu den Uptownbürgern, von den harten Metropolen bis in die verschlafenen Provinzen. Es war eine topografische wie eine soziale Wanderung: Wie das Kino musste auch dieses Medium den Weg aus den Ghettos der Einwanderer in die Mitte anständiger Bürgerlichkeit finden.

Das ist die Linie von Yellow Kid über Mickey Mouse zu Superman. Heute sind Comics großenteils Kunst, und nur wenig erinnert noch an die proletarischen Ursprünge und gar an die Kultur einer Einwanderergesellschaft, deren Mitglieder sich nur rudimentär einer gemeinsamen Sprache bedienen, weshalb Comics von Anbeginn an ein ebenso bildmächtiges wie sprachschöpferisches Medium sind.

Comics und Film bilden – als drittes Element könnten wir bald darauf das Radio und die Musik und ihre Tonträger nennen – das Fundament der populären Kultur für die westlichen Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts. Zu ihrem Wesen gehört die industrielle Distribution, die Anbindung an einen Massenmarkt, die mediale Polyphonie (immer schon gehören Marketing, Merchandising, Wettbewerb und Zweitverwertung zur Funktion der visuellen Popkultur), die semantische Offenheit (weitgefasste Genres wie Funny, Adventure, Superheroes oder Western, Science Fiction, Horror, Melodrama, Crime und so weiter ersetzen die klassischen „Gattungen“ und laden schon früh zum Crossover ein), die Offenheit nicht nur für ökonomische, sondern auch für politische Interessen sowie die anarchisch-kapitalistische Produktion.

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Lange Zeit sind die großen Autoren im Comicmetier, bis hin zu ausgewiesenen Künstlern wie dem Disneyzeichner Carl Barks, anonyme Zulieferer, mit denen die Inhaber der Zeitungen, Agenturen, Studios und Verlage mehr oder weniger machen können, was sie wollen. Auch das Kino raubt seinen primären Produzenten und auch den Stars zunächst die Würde der Autorenschaft. In beiden Medien wird gestohlen, gefälscht und imitiert, auf rasante Aufstiege folgen ebenso rasante Abstürze, und eine gesellschaftliche Kontrolle dieser neuen ökonomisch-ästhetischen Energie tut sich schwer: Bis zur gewerkschaftlichen Organisation der primären Produzenten ist der Weg ebenso weit wie der zu einer Kontrollpraxis jenseits von Zensur.

Die „Wildheit“ beider Medien, die eben immer eine ästhetische und eine politisch-ökonomische Seite hat, erscheint von heute aus gesehen wie ein Paradies der Vielfalt und der Kreativität. Es entstehen zwei Bildorte für das kollektive Unterbewusstsein, in das anfänglich nur die Marktkräfte und eine aufgeschreckte, bürgerlich-gute Gesellschaft hineinregieren, ohne die Explosion der neuen Ideen und Formen wirklich bändigen zu können. Seufz!

Im Zeitungskrieg zwischen Pulitzer und Randolph Hearst verlor das neue Medium seine politische Unschuld. So ließen sich etwa Yellow Kid und seine Kollegen für die Propaganda zum Spanisch-Amerikanischen Krieg einspannen. Dasselbe geschah mit dem anderen neuen Medium. „Tearing Down the Spanish Flag“ war 1898 einer der ersten amerikanischen Filme überhaupt, und er löste neben der Begeisterung für die bewegten Bilder einen patriotischen Rausch aus.

Comic und Film entstanden aus einer verrückten Mischung von anarchischer Infantilität, sozialem Realismus und militaristisch-politischer Propaganda. Von dieser Mischung haben sie sich nie ganz verabschiedet. Sie haben eine verwandte Art, mit Zeit und mit Raum umzugehen, aber auch mit Körpern. Was uns in Filmen von Leni Riefenstahl und in Skulpturen des faschistischen Bildhauers Arno Breker begegnet, finden wir auch in US-Comics wie „Flash Gordon“ oder „Tarzan“, nämlich eine Monumentalisierung des sowohl heroischen als auch politischen Körpers.

Am Anfang des Jahrhunderts kehrten beide Medien noch einmal zu ihrer zivilen Gestalt zurück. Seit 1907 hatten die meisten US-Zeitungen tägliche Comics, und seit 1912 erschien kaum noch eine ohne eine tägliche ganze Comicseite. Neben den Reihen um die erfindungsreichen Kids (die amerikanischen Nachfahren von Max und Moritz, die „Katzenjammer Kids“, sind fester Bestandteil des Kanons) wurden nun Tierserien beliebt. An die Seite des „rauen“ Stils der Frühzeit traten Meisterstücke der detailreichen Bildgestaltung wie Winsor McCays „Little Nemo“ oder die Comics von Lionel Feininger. Es schien beinahe alles möglich.

Dem rauen Stil der frühen Comics entsprachen am ehesten die Slapstickfilme (Charlie Chaplin, „Our Gang“ oder Harry Langdon), während Buster Keaton schon früh eine elaboriertere Poetologie ansteuerte. Die Bildträume entwickelten sich dagegen in Melodramen und „Monumentalfilmen“. So traumhaft ornamental und kompositorisch wie Winsor McCay in seinen „Little Nemo“-Strips arbeitete auf der anderen Seite des Atlantik ein Erich von Stroheim, der darauf bestehen konnte, in seiner Kunstwelt Kirschbäume mit echten Kirschblüten zu drapieren. In Europa eroberte das Kino ein bürgerliches Publikum, indem es sich mit den Namen berühmter Literaten schmückte. Um ihre Märkte zu erweitern, mussten sich beide Medien ausdifferenzieren. Und sich – irgendwie – „beruhigen“.

Die frühen Comics wurden unter anderem durch die syndication gezähmt, die den Zeichnern/Autoren ihre schäbige Freiheit nahm und auf eine erste Welle der moralischen Reaktion in den USA reagierte. Auch die Zeichentrickfilme trugen ihren Teil zur Zähmung der Comics bei, nicht nur, weil hier die besondere Sprachpoesie zurückgedrängt wurde, sondern auch, weil der Film eine Aktion-Reaktion-Dramaturgie verlangte, die es im Comic zuvor nicht geben musste. Mit der syndication, der Bindung der Autoren an Agenturen als Filter- und Zensurinstanz, ging die erste, die wilde Epoche der Comics zu Ende. Und mit der Einführung des Tonfilms die erste, die wilde Epoche des Kinos.

Prügel für Donald Duck

Dass die Erzählweisen von Comic und Film ein­an­der verwandt sind, ist immer wieder betont worden. Scott McCloud, der große ‚Sprachlehrer‘ der Comics, bezeichnet den Film in seiner Urform der „Bildstreifen“ denn auch als einen „sehr langsamen Comic“. In beiden Fällen handelt es sich um Bewegungsbilder, das heißt um Bilder von Bewegungen und Bilder in Bewegung, also um Bilder, die ihren Sinn durch vorangehende oder nachfolgende Bilder erhalten, um Bilder, die auf die Abfolge von Aktionen und Reaktionen bezogen sind.

Im Comic wie im Film haben Bilder Eigenschaften des Textes, während auf der anderen Seite, zumal im Comic, Texte Eigenschaften von Bildern haben. (Ganz direkt: Felix the Cat fragt sich, wie er an eine Fischmahlzeit kommen kann, also erscheint ein Fragezeichen über seinem Kopf, und dieses Fragezeichen dient dem großäugigen Kater im nächsten Bild als Angelhaken.) Comic­lesen und Filmesehen, was auch Comicsehen und Filmelesen umfasst, sind neue Kulturtechniken für das 20. Jahrhundert.

Eine vielleicht nicht allzu verwegene These: Die kapitalistisch-demokratische Moderne benötigt noch vor den Inhalten die Wahrnehmungstechniken von Comic und von Film zur Einübung der notwendigen Dynamik. Comics und Filme entsprechen nicht nur der zweiten Industrialisierung, dem Fordismus, sie schaffen auch eine ästhetische Grundlage dafür. Donald Duck und Laurel & Hardy bekommen nicht nur Prügel, wie Theodor W. Adorno missmutig anmerkt, damit sich das Publikum an die eigene Prügel gewöhnt, sie lernen auch, sich im Tempo der neuen Zeit zu bewegen, oder zeigen, wie man dabei scheitern kann, um sogleich wieder aufzustehen und weiterzumachen.

Comics und Filme waren auch deshalb so notwendig, weil sich die bürgerliche Kunst der technischen und ökonomischen Modernisierung der Lebenswelt weitgehend entzog. Sie erstarrte, zum Beispiel in der Abstraktion, auf grandiose Weise, sie löste sich von Konventionen und Traditionen, aber der Teil von ihr, der den Blick auf Fabriken und Maschinen, auf Verkehr und Massen, auf Kaufhäuser und Straßenszenen, auf Proleta­riat und Entwurzelte richtete, wurde vom klassischen bürgerlichen Publikum hochnäsig abgewertet.

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Slapstick und Kid-Comics vermittelten dagegen nicht nur das „neue Tempo“, einschließlich der neuen Überlebenskämpfe, sondern machten auch Menschen und Verhältnisse sichtbar, die in der bürgerlichen Ästhetik und ihrer politischen Praxis unsichtbar gemacht worden waren. Sie gewöhnten ihre Adressaten an Geschwindigkeit, aber auch an Gleichklang und Wiederholung.

Die meisten Comics entfalten sich in einem Raum zwischen Epos und Episode. Sie „erzählen“ etwas, das zugleich aus lauter Wiederholungen besteht und seinerseits Teil einer endlosen Wiederholung ist. „Erwachsen“ können Filme wie Comics nur werden, indem sie sich entweder dieser Wiederholungen gewahr werden oder das Prinzip durchbrechen, wie in der „Graphic Novel“, die von einer abgeschlossenen und in sich sinnvollen Erzählung ausgeht. Sie entgehen neuerdings der Falle des bewegten Stillstands, indem sie sich mit weiteren Erzählformen wie Reportage, (Auto-)Biografie oder Essay verbinden.

Anders als der Film gibt der Comic die Dauer der Aufmerksamkeit beim Lesen nicht vor. Er ermächtigt seine Adressaten, wo der Film sie überwältigt; aber der Comic fokussiert auch, wo das Filmbild sich weitet. Riskieren wir also eine zweite, nicht gar so verwegene These: Der demokratische Kapitalismus benötigte als Schule des Sehens beide Medien zu seiner Entfaltung. Denn es geht in beiden sowohl um die Bildung des Subjekts wie die Bildung des Kollektivs. Comics und Filme sind Kinder von Demokratie und Kapitalismus und reagieren auf das Funktionieren dieser Einheit so sehr wie auf ihre Krisen.

Quelle     :   Le Monde diplomatique        >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen    :

Oben —     The Yellow Kid by Richard F. Outcault for January 9, 1898, captioned „The Yellow Kid’s R-R-Revenge; Or, How the Painter’s Son Got Fresh.“ In panel two, the Yellow Kid says, „Hulla gee! You ought to see de odder kid say I didnt do a ting to him“.

Unten    —    Disney characters run in front of a U.S. Air Force Honor Guard group photo at Disneyland in Anaheim, Calif., June 29, 2017. The “Ambassadors in Blue” demonstrated drill routines during their recent tour of Southern California where they also performed at Sea World, Disney’s California Adventure Park, and Mission Beach from June 27 to July 1. (U.S. Air Force photo by Senior Airman Jordyn Fetter)

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