DEMOKRATISCH – LINKS

                      KRITISCHE INTERNET-ZEITUNG

RENTENANGST

Perm – 36 – Teil des Gulag

Erstellt von Redaktion am Dienstag 7. November 2017

Die Schatten des Lagers

File:Perm-36-2.JPG

Von Thomas Gerlach

Wie steht Russland zum Stalinismus? Perm-36 war Teil des Gulag. Anfang der Neunziger machten Aktivisten, Historiker und Exgefangene aus dem Lager eine Gedenkstätte. Doch das passt dem russischen Staat heute nicht mehr.

Es gibt jeden Tag gute Nachrichten, und es gibt jeden Tag schlechte Nachrichten“, sagt Tatjana Kursina mit einem Blick, der ahnen lässt, dass sie schon manch gute, in den letzten Jahren vor allem aber viele schlechte Nachrichten erhalten hat. Die schlechte Nachricht heute: Ihr Mann Viktor Schmyrow muss das Zimmer hüten. Die weite Anreise, die vielen Termine in so kurzer Zeit, überhaupt die ganzen Strapazen, und das seit Jahren – das zehrt an dem Siebzigjährigen, der bereits vier Herzinfarkte überlebt hat und zwei klinische Tode. So hat ihn Kursina in dem winzigen Hotel im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg zurückgelassen, wo er hoffentlich wieder zu Kräften kommt. Sollte sie sich Sorgen machen, überspielt sie das im Fernsehstudio sehr geschickt. Jetzt Gefühle preisgeben? Lieber nicht. Gleich gibt sie dem russischsprachigen TV-Sender RTVD ein Interview. Der Sender steht nicht im Verdacht, dem Kreml zu Diensten zu sein. Im Gegenteil.

Und die gute Nachricht? Schmyrow und Kursina sind trotz aller Beschwernisse die 4.000 Kilometer von ihrem Wohnort, der russischen Millionenstadt Perm, nach Berlin gekommen. Wenn in Perm jemand gehofft haben sollte, das Paar würde Ruhe geben, kennt er Schmyrow und Kursina schlecht. Kursina steht kerzengerade hinter einem Tresen und trichtert den RTVD-Abonnenten die Einmaligkeit des ehemaligen Lagers Perm-36 ein: Gegründet 1946, noch zu Zeiten Stalins, war es Teil des sowjetischen Lagersystems, genannt Gulag, das sich wie ein gewaltiges Gitter über die gesamte Sowjetunion und ihre Menschen gelegt hatte. Und es ist das einzige Lager von Tausenden, das im Originalzustand erhalten ist.

„Das einzige!“, wiederholt Kursina und hebt den Finger. Weder im Fernen Osten noch im Nord­ural habe sich ein ähnliches Lager so gut erhalten. Nahezu alle Bauten sind verschwunden, entweder wurden sie abgerissen oder blieben sich selbst überlassen. Den Rest erledigt der russische Winter. Perm-36 ist geblieben.

Nur Perm-36 kann so anschaulich berichten von politischer Repression, kann Geschichten erzählen von Dichtern, die dort verendet sind, von Dissidenten in Eisenkäfigen, vom Auslauf auf vier Quadratmetern, von der Arbeit im Sägewerk, von Baracken, voll gestellt mit einfachsten Holzbohlen, weniger Pritschen als Regale für Menschenleiber, und von der ganzen Allmacht eines politischen Systems, dem Generationen von Sowjetbürgern ausgeliefert waren.

Wassyl Stus etwa, der wegen seiner Gedichte 23 Jahre in Lagern und Verbannung verbrachte, die letzten fünf davon in Perm-36, wo er 1985 wegen Verstoßes gegen die Kleiderordnung in ein Verlies gesteckt wurde, starb und dann nicht in der Heimat, sondern im Lager beerdigt wurde – mit dem Argument, die Haft sei schließlich noch nicht beendet. Jeder, der das Museum Perm-36 besucht hatte, kannte das Schicksal Stus’, den Künstler und Schriftsteller, darunter Heinrich Böll, zum Literaturnobelpreis vorschlugen.

Aber wer will das noch so detailliert wissen? Der russische Staat in Gestalt der Regionalregierung von Perm jedenfalls nicht. Nicht mehr. Und so sind Tatjana Kursina und Viktor Schmyrow, ausgewiesene Historiker, Gründer und Leiter des Museums, Mitbegründer des Permer Ablegers der Menschenrechtsorganisation Memorial, enteignet worden, geistig wie materiell. So wie sich der russische Staat Ölquellen und Gasfelder zurückgeholt hat, so hat er sich 2014 dieses Museum genommen, hat alle Ausstellungsstücke, Briefe, das Archiv beschlagnahmt und die beiden Gründer vom Gelände gejagt. Dabei haben sie das Lager entdeckt.

Ein Lager entdecken? Wohl eher wiederentdecken. Auf Einladung von Memorial Perm haben sich 1992 erstmals ehemalige politische Häftlinge getroffen, erzählt Tatjana Kursina. Was ist eigentlich aus Perm-36 geworden, fragten sie sich. Keiner wusste Antwort. Sie beschlossen, das Lager zu suchen. Die Läden waren leer, der Geist des Aufbruchs, der Perestroika, aber steckte in den Köpfen. Die Sowjetunion war Geschichte, Boris Jelzin, demokratisch gewählter Präsident, saß im Kreml, eine neue Verfassung mit garantierten Bürgerrechten war in Arbeit. Was hinderte ehemalige Dissidenten, den Ort ihrer Pein aufzusuchen?

File:Perm-36-4.JPG

Gut hundert Kilometer östlich von Perm am Ufer der Tschussowaja, einer der zahlreichen, oft eiskalten Flüsse, die sich aus dem Ural ergießen, stoppten sie. „Wir standen im Dickicht“, erzählt Kursina. „Schmyrow merkte gleich, dass wir uns schon in der Zone befanden.“ Signalleitungen, Stacheldraht, Wachtürme, die sich in Pfützen spiegeln, und zwischendrin Menschen, denen entsetzliche Bilder hochkamen. „Wir waren mitten in der ehemaligen ‚Sonderzone‘“, fährt Kursina fort. „In Sowjetlagern gab es vier Zonen“, erklärt sie, „die ‚Sonderzone‘ war das Schlimmste.“ Das Lager wurde erst 1987 aufgelöst. „Deswegen konnten wir überhaupt dorthin gelangen.“ Der Weg war noch befahrbar. Und ganz geschlossen war es immer noch nicht. Auf dem Lagergelände befand sich die Außenstelle einer Psychiatrie.

Diese Exkursion ist für das Ehepaar zum Wendepunkt geworden. Wenn man Kursina zuhört, muss es wie eine Erweckung gewesen sein. „Viktor hat alles aufgegeben, ohne Geld gearbeitet.“ Erstmals nennt sie ihren Mann beim Vornamen. Schmyrow, damals 46 Jahre alt, Dekan der Historischen Fakultät der Pädagogischen Universität Perm, wirft seine begonnene Habilitation in die Ecke und stürzt sich in die wissenschaftliche Erkundung von Perm-36.

Schmyrow und Kursina gründen eine NGO mit Namen „Perm-36“, suchen Helfer, sammeln Geld, auch im Ausland, richten sich, so gut es geht, im Lager ein und lassen die Gebäude fachgerecht restaurieren. 1994 können sie das ehemalige Lager für Besucher öffnen. Die Regierung der Region Perm stellt das Areal zur Verfügung und gewährt ab 1996 sogar Fördermittel. Das Museum wächst. Die Zusammenarbeit mit der Permer Regierung war nie einfach, sagt Kursina, aber man fand viele Jahre einen Weg. „Er“ – damit meint sie Schmyrow – „war wissenschaftlicher Direktor, ich war Geschäftsführerin.“

Braucht man das Museum eigentlich, wirft die Moderatorin ein. „Historikern würde so eine Frage nicht in den Sinn kommen“, entgegnet Kursina. Es habe Tausende aus dem In- und Ausland gegeben, die auf dem Gelände Jahr für Jahr als Freiwillige gearbeitet haben. Lehrer kamen mit ihren Klassen, eine Schule für jüngere Historiker, die das Museum besucht und Projekte gemacht haben.

Quelle    :     TAZ >>>>> weiterlesen

———————————————————————————————————————-

Grafikquellen   :

Oben —     Gulag Perm-36 (Russia, Kuchino near Chusovoi). Vue inside the camp.

Source Own work
Author Wulfstan

This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International, 3.0 Unported, 2.5 Generic, 2.0 Generic and 1.0 Generic license.

—————————————————————

Unten —   Gulag Perm-36 (Russia, Kuchino near Chusovoi). Prisoniers barrack in the main camp.

Source Own work
Author Wulfstan

This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International, 3.0 Unported, 2.5 Generic, 2.0 Generic and 1.0 Generic license.

————————————————————————————-

Historiker über Oktoberrevolution

„Lenin ist für den Kreml ein Verräter“

File:Marx, Engels, Lenin, Stalin (1933).jpg

Das Wort „Revolution“ ist in Russland heute negativ besetzt, sagt Historiker Jurij Piwowarow. Der Kosmopolit Lenin ist nicht mehr gefragt.

Das Interview führte : Klaus-Helge- Donath

taz: Die Oktoberrevolution war der Stolz der Sowjetunion. 100 Jahre danach will der Kreml nichts mehr davon wissen?

Juri Piwowarow: Der Politik wäre es recht, wenn sie nicht daran erinnert würde. Revolution ist heute in Russland negativ besetzt. Kremlnahe Historiker sehen in der Februarrevolution 1917 eine Verschwörung, an der das Bürgertum, die russischen Generäle, die Intellektuellen und Freimaurer beteiligt waren. Die Oktoberrevolution erscheint unterdessen wie eine bolschewistisch-deutsche Verschwörung. Jedoch wird den Bolschewiki zugutegehalten, dass sie das Imperium bei erstbester Gelegenheit wiedererrichteten. Sie erwiesen sich als „gosudarstweniki“: Leute, die trotz Umsturzes den Erhalt und die Größe des Staates über alles stellten. Die Hauptschuld am Zusammenbruch trifft somit Bürgertum und liberale Kräfte. Das stimmt so natürlich nicht.

Trotz Kritik an der Revolution ist deren Interpretation bis heute immer noch von den Inszenierungen der Bolschewiki bestimmt.

Viele glauben, die Gegner der Bolschewiki, die antikommunistischen „Weißen“ und die „Weiße Armee“, seien für Zar und Feudalismus eingetreten. Das trifft aber nicht zu. Unter ihnen gab es nur wenige Monarchisten und reaktionäre Kräfte. Auch „pogromtschiki“, antisemitische Schläger, waren kaum darunter. Weiße Generäle standen häufig Liberalen näher. Während die Bolschewiki nicht selten mit „schwarzen Hundertschaften“ paktierten, einem aggressiv antisemitischem Mob der Vorrevolutionszeit.

Februar- und Oktoberrevolution werden also in der offiziellen Darstellung – in Anlehnung an die Französische Revolution – auch als eine übergreifende Epoche gefasst?

Die neue Bezeichnung für die Oktoberrevolution, die „Große Russische Revolution“, fasst bereits den Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Bürgerkriegs 1921 zusammen.

Halten Sie das nicht für sinnvoll?

Nicht, wenn damit Unterschiede nivelliert und Bewertungen vermieden werden sollen, wie es jetzt passiert. „Weiße“ und „Rote“, Lenin oder Denikin, der Oberbefehlshaber der Weißen Armee – nach dieser Darstellung waren sie am Ende alle gut.

Neuerdings heißt es, die Briten seien an fast allem schuld gewesen. Warum? Soll dadurch die vermeintliche Verschwörung aller gegen Russland herausgestellt werden? Dass Russland niemand zur Hilfe kam?

Das ist der politischen Konjunktur geschuldet. Ein Zugeständnis an die antiliberale Grundstimmung im Land. Warum hätten ausgerechnet die Briten die Revolution anheizen sollen? Sie waren doch daran interessiert, dass Russland die Deutschen an der Ostfront bindet.

Wie sieht es mit den jungen Russen aus: Verbinden etwa die heutigen Studenten mit der Revolution noch etwas?

Die meisten können damit nichts mehr anfangen, ihnen ist das egal, es ist zu lange her. Die jetzigen Studenten unterscheiden sich aber auch von uns, die wir in den 1960ern mit den rebellierenden Studenten von Paris und Berlin mitfieberten. Die akademische Jugend heute reagiert eher gleichgültig. Sie hält zu Präsident Wladimir Putin, unterstützt die Annexion der Krim und sieht in den USA den Hauptgegner. Trump und Marine Le Pen stehen ihnen politisch nah. Wohlgemerkt, ich spreche von Studenten der Eliteeinrichtungen, der Moskauer Staatlichen Universität (MGU) und der Diplomatenakademie (MGIMO). Ich habe aber auch an den anderen Hochschulen Ähnliches erlebt. Das sind Kinder der russischen Mittel- und Oberschicht.

Quelle     :    TAZ >>>>> weiterlesen

———————————————————————————————————————-

Grafikquelle     :   Sowjetisches Propaganda-Poster 1933: Marx, Engels, Lenin und Stalin (Halte den Banner von Marx, Engels, Lenin und Stalin hoch!)

Source Marx, Engels, Lenin, Stalin (1933).jpg
Author Gustavs Klucis (1895-1938)
Permission
(Reusing this file)
Public domain This work is in the public domain in its country of origin and other countries and areas where the copyright term is the author’s life plus 70 years or less.

 

 

Kommentar schreiben

XHTML: Sie können diese Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>