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Ostdeutsche Lebenslügen

Erstellt von Redaktion am Freitag 10. November 2017

Plädoyer für eine kritische Selbstbefragung

von Michael Lühmann

Was ist da bloß los in Dresden, in Sachsen, in Ostdeutschland angesichts der immensen AfD-Erfolge? Schnell werden die alten Erklärungsmuster präsentiert, etwa die vom im Zuge der Transformation zurückgelassenen, wütenden, an den Verhältnissen leidenden Ostdeutschen, im Brennglas verdichtet und pathologisiert in der Figur des ostdeutschen Mannes. Auch die Erzählung von den abgehängten Regionen jenseits der alten Grenze hat wieder Hochkonjunktur – von Westdeutschen erst geplündert, hernach unter den Nagel gerissen und bis heute via Zeitungsredaktionen, Intendanzen und Niederlassungsleitern beherrscht. Kurz, der Osten und mit ihm der „Ossi“ wird, wenn überhaupt, zumeist einseitig, als antidemokratisches Rudiment einer DDR-Sozialisation in Stellung gebracht, als Opfer der Transformation inszeniert, der er ungefragt beiwohnte – weshalb sich früher oder später der Hass entladen musste.

Eine solche, zudem verkürzte, Infantilisierung des Ostdeutschen ist aber schon eines der zentralen Probleme. Denn die Auffassung, dass der „Ossi“ von den „Wessis“ überrannt und geplündert wurde und bis heute gegenüber dem Westen benachteiligt ist, scheint zwar mit Blick auf Lohnentwicklungen, Eigentumsquoten und Eigentumshöhen richtig und beklagenswert. Aber unschuldig ist „der Ostdeutsche“ an den Entwicklungen im Osten nicht, ebenso wenig wie er nicht erst im Zuge der herbeigeschriebenen „Flüchtlingskrise“ radikalisiert worden ist. Zentral für das Verständnis der ostdeutschen Unzufriedenheit, die sich bei einem beängstigend hohen Anteil Ostdeutscher derzeit in der Wahl rechtsextrem durchwirkter Parteien wie der AfD manifestiert, sind vor allem drei Entwicklungen, die sich aus dem Zusammenspiel von ostdeutscher Sozialisation und ostdeutscher Situation ergeben: die überhöhten Erwartungshaltungen vor und nach 1989, spezifische politische Regionalkulturen und ein generationeller Bias.

Von unterirdisch beheizten Straßen und gläsernen Tankstellen

Was heute bisweilen als ein besonderes Gespür der Ostdeutschen für Ungerechtigkeiten gelesen und als Erklärungsmuster für die Wahl der AfD nur allzu gern in Stellung gebracht wird, ist nichts anderes als die Konsequenz eines kaum hinterfragten Selbstbetrugs der Ostdeutschen. Dieser gründet in latenten, aber tiefsitzenden Enttäuschungen, die schon vor 1989 aufkeimten und sich über Dekaden verstärkten. Migrierten die Ostdeutschen vor 1989 via ARD und ZDF imaginär in den „goldenen Westen“, ließen sie im Zuge der Revolution von 1989 ihren Ruf „Neues Forum zulassen“ zugunsten Helmut Kohls „blühender Landschaften“ im Wortsinne links liegen. Nicht die Erwartung einer direktdemokratischen Politik, sondern das Versprechen von Wohlstand und Glück fuhr 1990 fulminante Wahlsiege ein. Nicht Demokratisierung und Ökologisierung wurden zum Signum der siegreichen Revolution, sondern die an den Westen gerichtete – und gegen alle, auch klugen Bedenken umgehend erfüllte – Forderung der DDR-Bürger nach der D-Mark, die man sonst per Abstimmung mit den Füßen durchsetzen wollte. Denn dahinter stand die Idee von einem Land, in dem „die Straßen unterirdisch beheizt“ würden und „die Tankstellen nie schließen“, in dem „die Leute gar nicht mehr wussten, was sie noch schöner machen wollten“ und das nach „Asphaltstraßen mit gläsernen Tankstellen, nach Terrassen mit Strohhalmgetränken und Musik über einem blauen See“ aussah – so die literarische Verarbeitung dieses verzerrten und viele Enttäuschungen erklärenden Westbildes im Osten in Ingo Schulzes Roman „Neue Leben“.

Natürlich lässt sich die ostdeutsche Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit und einem geeinten Deutschland nicht allein auf Konsum reduzieren, nicht auf Schilys Bananen-Metapher. Aber weil auch im Osten mit Erich Honeckers „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ das hehre Ziel einer Gesellschaft der Gleichheit schon vor 1989 auf dem Altar des Konsumsozialismus geopfert wurde, hat sich der Realitätsschock nach 1989 nochmals problematisch verstärkt. Hatte schon Honecker den Ostdeutschen in den 1970er Jahren bescheidenen Wohlstand versprochen, zog Kohl mit den „blühenden Landschaften“ nach. Und sicher blüht vieles im Osten, die gläserne Manufaktur ebenso wie so manche bis heute brachliegende Gewerbegebietsfläche, doch beheizt werden die Straßen noch immer nicht, und statt Strohhalmen gab es Deindustrialisierung à la Treuhand, ABM und Hartz IV. Das ist gemessen an den Lebenshoffnungen der Menschen im Osten wenig, doch gewehrt hat sich kaum einer. Treu wählten sie im Osten Helmut Kohl, der die Breuelsche Treuhandradikalkur gegen alle Mahner durchsetzte. Treu wählten die Dresdnerinnen und Dresdner einen FDP-Oberbürgermeister, der den gesamten sozialen Wohnungsbau der Stadt privatisierte. Treu kauften die Ostdeutschen mit der neuen Währung alles, was nur westdeutsch aussah: 15 Jahre alte Gebrauchtwagen zu Phantasiepreisen, westdeutschen Joghurt, westdeutsche Butter, westdeutsches Mehl, Krönung statt Mona Gold, Nutella statt Nudossi, Coca- statt Vita-Cola. Dass sie damit – Rotkäppchen und Jenoptik mögen die Ausnahmen sein – die ostdeutsche Wirtschaft mit ruiniert haben, das stellten sie erst fest, als die Ostalgiewelle all die Produkte zurückbrachte, zwar unter ihren ostdeutschen Namen, aber nun in westdeutscher Hand.

So richtig das Lamento sein mag, dass ein Großteil der für den Wiederaufbau Ostdeutschlands verwendeten Gelder nach 1989 wieder in westdeutsche Kassen zurückfloss, die Gründe dafür haben eben auch mit den Ostdeutschen selbst zu tun. Gleiches gilt für die politische Ebene. Blickt man etwa nach Sachsen, wo der Frust am größten sein muss, dann bleibt die Erkenntnis, dass die Wählerinnen und Wähler auch den ostdeutschen Politikern wenig bis nichts zutrauten. Die originär und mehrheitlich ostdeutschen Parteien wie die wiedergegründete SDP/SPD, die Bürgerbewegten von Bündnis 90 oder die gewendeten Sozialisten wurden mit politischer Nichtbeachtung gestraft, während in Sachsen und Thüringen mit Kurt Biedenkopf und Bernhard Vogel westdeutsche Politiker Ergebnisse von über 50 Prozent einfuhren. Und heute folgen die frustrierten und verängstigten ostdeutschen Männer wieder westdeutschen Politikerimporten, den Höckes, Gaulands und Maiers – auch weil sie enttäuscht sind von einer der ihren: von Angela Merkel.

Die Lasten der Vergangenheit

Quelle    :    Blätter >>>>> weiterlesen

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Grafikquelle    :    Wahlplakat der CDU 1998

Ein Kommentar zu “Ostdeutsche Lebenslügen”

  1. Dresdner sagt:

    Solch ein Mist.

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