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Oktoberfestung

Erstellt von Redaktion am Freitag 25. September 2015

Europa selbst asylreif

Autor: Wolfgang Blaschka
Datum: 24. September 2015

München ist gerüstet zum 182. Oktoberfest. Längst sind die Zelte ausgebucht und überfüllt. Das weltweit größte Massenbesäufnis wird binnen zweier Wochen wieder über 6 Millionen Menschen auf die Wiesn spülen, die sich bis zur Bewusstlosigkeit dem Rummel ergeben, aus Achterbahnen oder Autoscootern übergeben und ihr sauer Erspartes leichten Achselzuckens an die zuständige Bedienung abgeben nebst Trinkgeld. Unter 10 Euro ist nirgendwo mehr eine knapp eingeschenkte Mass zu haben; die Maßlosigkeit wird zum Maß aller Tisch-Reservierungen: Bis zu 5000 Euro wurden im Internet gefordert, um noch ein heiß begehrtes Plätzchen in einer der voll ausgebuchten Bierburgen zu ergattern. Möglicherweise war da ein halbes Hendl noch mit drin. Die frechsten dieser Luftbuchungen wurden inzwischen allerdings von den Wirten storniert. Das tut der insgesamten Milliarde Umsatz keinen Abbruch.

Da können die Flüchtlinge nicht mithalten, weder zahlenmäßig noch was die Zahlungskräftigkeit anbelangt. Sie hatten in der Regel um die 3500 Euro an Schlepper zu latzen, allerdings nicht nur für einen Abend, sondern zur Rettung ihres Lebens. An manchen Tagen kamen bis zu 12.000 in München an, jetzt gerade noch tausend. Denn die bayerischen Grenzen sind nahezu dicht. Österreich ist halbdicht. Kroatien ist dicht, Slowenien volldicht. Ungarn sowieso. Hacke-zu lallt Viktor Orban ernüchternde Slibowitz-Weisheiten in die Welt: Man wolle den Zaun jetzt weiter bauen auch an der Grenze zum EU-Nachbarland Rumänien, womöglich auch gegen Kroatien. Dublin sticht Schengen. Europa vom freiesten: Feuer frei für Tränengas-Kartuschen, Wasser marsch für Strahl-Kanonen, Knüppel los und stellenweise sogar Schützenpanzer vor! Ungarns Regierungschef fühlt sich so frei, keine Muslime im Land haben zu wollen, weil die angeblich das Christentum gefährden würden. Dabei will so gut wie niemand in Ungarn einen Asylantrag stellen, weder irakische Jesiden noch kurdische Alewiten noch syrische Christen, schon gar keine Muslime. Nur schnell durch nach Österreich und Deutschland! Dann eben auf dem Umweg über Kroatien und Slowenien, solange das noch irgendwie ging.

Orban gefällt sich in der Pose als Grenzwächter Europas gemäß dem Dublin-Abkommen. Dass seine Regierung jetzt ausgerechnet aus Brüssel und Berlin für seine rigorose Abschottungspolitik kritisiert wird, scheint ihn zu kränken. Hatte die EU doch davon lange genug stillschweigend „profitiert“. Nun steht er am Pranger, weil er das hässliche Gesicht der Festung Europa allzu offen gezeigt hat. Der Bundeswehr-Einsatz zur Zerstörung der Boote im Mittelmeer zielt auf nichts anderes: Schutzsuchende fernhalten, Schiffe versenken, Schleuser verhaften, Fluchtrouten kappen. Auf See genau dasselbe wie an Land: Dort kann messerscharfer NATO-Draht die Nahtstellen zum Südosten versperren, quer über die Autobahn. Die Zeiten des „Gulasch-Kommunismus“ sind endgültig vorüber, nun gilt es den „Lager-Kapitalismus“ zu kultivieren, um Vischegrad-Staaten gegen Quotenpläne des Westens in Stellung zu bringen.

Da will die mit allem Fremden fremdelnde CSU nicht abseits stehen und macht sich Sorgen, natürlich um die Flüchtlinge, versteht sich: Denen sei die Begegnung mit stark alkoholisierten Massen nicht zuzumuten. Am Hauptbahnhof werden Gitter aufgebaut oder die Züge gleich weiter an der bayerischen Landeshauptstadt vorbei geleitet, oder gleich beides. Abschottungs-Phantasien beleben die Gehirnwindungen der Engherzigen, die sich vom Elend der Welt geradezu angeekelt fühlen, ohne das eigene zu erkennen. Dem bayerischen Innenminister scheint die Würdigung des CSU-Sympathisanten Roberto Blanco als „wunderbarer Neger“ der höchste Ausdruck seiner Sympathie-Bekundung für Nicht-Eingeborene zu sein. Solche „Fremdenfreunde“ sollten schleunigst zurücktreten.

Das larmoyante CSU-Gemäkel schlägt nun auch der Kanzlerin auf die Raute: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Fast möchte man ihr die ungewöhnliche Gefühlsaufwallung abnehmen, säße da nicht in ihrem Kabinett der gnadenlose Finanzwart mit seiner Kralle auf der Kasse, der statt der dringend benötigten 6 Milliarden Euro mit 500 Millionen Einsparungen quer durch alle Ressorts rechnet ohne Kreditaufnahme. So wird das wohl nichts werden mit „Wir schaffen das“. Da wird die „Mutti aller Flüchtlinge“ noch kräftig anschieben müssen, bis der böse, alte Mann die Schatulle aufklappt, bevor die Kommunen kapitulieren. Mit Zeltstädten ist es ja nicht getan. Der Winter steht vor der Tür. Perspektivisch müssen Wohnungen her: Jährlich 400.000 bundesweit bis 2020, davon mindestens 80.000 mit preisreduzierter Sozialbindung. Tatsächlich werden derzeit nur 270.000 fertig gestellt, davon lediglich 120.000 zur Vermietung.

Und Schulen, Kindergärten, Krippenplätze: Infrastruktur für geschätzt eine Million Menschen! Und nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für Einheimische und Zugezogene, die sich schon jetzt in den Ballungsräumen um den letzten bezahlbaren Wohnraum balgen. Ohne ein groß aufgelegtes Wohnungsbauprogramm des Bundes wird die Integration der vielen Neubürger nicht gelingen. Schäuble wird umdenken müssen. Provisorische Trostpflästerchen führen zu nichts außer der Perpetuierung der Not, zu Verteilungskämpfen unter finanziell schlechter Gestellten und zum Erstarken rechter „Abwehr“-Reflexe gegen Ghettoisierung in „Parallelgesellschaften“. Die Erstaufnahme-Unterbringung in Sammelunterkünften kann nur ein schnellstens zu überwindendes Nothilfeprogramm darstellen.

Was derzeit europaweit für verschärftes Grenzregime verpulvert wird, fehlt auf Dauer zur Unterstützung der Arbeit des UNHCR in jordanischen und libanesischen Flüchtlingslagern. Dort können nicht einmal mehr die 13 Euro pro Kopf und Monat für die notwendige tägliche Essensversorgung aufgebracht werden. Kriegsflüchtlinge aus Syrien und Irak machen im Libanon ein Drittel der Bevölkerung aus, in Jordanien ein Viertel. In der Türkei warten fast zwei Millionen Menschen in Camps auf eine Chance, von dort wegzukommen. Anstatt Polizisten Autobahnen blockieren zu lassen, sollten diese besser legale Einreise-Möglichkeiten organisieren und betreuen.

So naheliegend der Gedanke an eine Weiternutzung von Bierzelten auch erscheinen mag, sind diese doch nicht beheizbar und für Schneelasten konstruktiv nicht ausgelegt. Zudem könnten sie nicht einmal kurzfristig als Notunterkünfte dienen, ohne zumindest die Bodenplatten komplett auszutauschen, so versifft, fetttriefend und vollgekotzt sie nach zwei Wochen Wiesn aussehen werden mit verschmierten Sauerkraut- und in die Fugen getretenen Hendl-Resten, unzumutbar selbst nach Hochdruckstrahl-Säuberung und mehrmaligem Durchwischen. Dennoch behält sich die bayerische Staatsregierung selbst diese unappetitliche Variante vor. Auf Bundesebene nölt der geschasste CSU-Friedrich, und sein Nachfolger de Maizière faselt bei jeder sich bietenden Gelegenheit von „kriminellen Clan-Strukturen“, mit denen er offensichtlich das gewerbsmäßige Bandenwesen der Deutschen Banker nicht meint, und auch nicht den raffiniert ausgetüftelten Diesel-Abgasbetrug aus der VW-Hauptentwicklungsabteilung unter Herrn Winterkorn.

Sein jüngster Coup: Der Versuch einer Asylrechts-Auslagerung in die Sphären der Europäischen Union samt Kontingentierung, ein grundgesetzwidriger Akt: Denn das Recht auf Asyl ist ein individuelles in Deutschland; unverhandelbar und einklagbar, ohne jegliche zahlenmäßige Begrenzung. Zu dieser juristischen Trickserei passt auch eine pikante Personalie: Frank Jürgen Weise geht fortan seiner Bundesagentur für Arbeit und ihren geknechteten 1-Euro-Jobbern mit aufopfernd persönlichem Beispiel voran, indem er einen (eigentlich verbotenen) Zusatzjob im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge annimmt, und das sogar für deutlich weniger als einen kargen Euro pro Stunde, nämlich ganz umsonst, damit seine kostenlose Nebentätigkeit nicht schon rein formal illegal erscheint. Der Lohn für Doppelbelastung mit Ehrenamt: Beste Vernetzung zwischen Polizeibehörden, Zoll, Jobagentur und BaMF. Als „geldwerte Leistung“ wird dieser immaterielle Zugewinn an Transfer-Transparenz seinem bisherigen Salär allerdings nicht angerechnet, hofft er.

Nach der Bankenrettung muss es nun endlich um Menschenrettung gehen, soll Jean-Claude Juncker nicht für immer recht behalten mit seinem Offenbarungseid: „Es fehlt an Europa, und es fehlt an Union“, also eigentlich an allem, was die EU so ausmacht. Das blamable Selbstzeugnis des Kommissions-Vorsitzenden weist immerhin auf einen selbstkritischen Ansatz. Ob der allerdings dazu führen wird, das Bashar-al-Assad-Bashing endlich aufzugeben, ist mehr als fraglich. Schon bringen sich Experten in Stellung, die „endlich ein Eingreifen Europas“ in Syrien fordern. Als ob nicht gerade die Aussicht auf militärische und finanzielle Unterstützung die „Rebellen“ zum Bürgerkrieg ermuntert hätte! Russland zu schwächen scheint ihnen allemal wichtiger als dem IS die Lebensadern abzuschneiden oder das Paktieren mit Poroschenko und seinen faschistischen Hilfstruppen aufzugeben. Sie wollen auf Biegen und Brechen den Sturz Assads und am liebsten Putins gleich mit. Und damit den Sturz von noch mehr Menschen ins bodenlose Elend.

Da können soviele Flüchtlinge kommen wie wollen: Ins weißblau gerautete Himmelsgewölbe der Oktoberfestung werden sie nicht gelangen. Schon weil sie nach strapaziöser Flucht ganz andere Sorgen haben. Müde, erschöft und pleite wähnen sie sich erstmal dennoch im Paradies. Es wird nicht mehr geschossen, nur noch vereinzelt an den Schießbuden. Normalerweise platzen auch keine Bomben, sondern nur Luftballons. Geschlagen wird beim „Haut-den-Lukas“, und geköpft wird nur alle halben Stunden beim Schichtl: Herrreinspaziert, Herr Herrmann! Hier kriegt ein Jeder sein Asyl! Keine Angst, die Hinrichtung vor Publikum ist ja bloß reine Schau.


Fotoquelle: Wikipedia – Namensnennung: Wolfgang H. Wögerer, Wien
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