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»Nine Eleven«, Afghanistan,

Erstellt von Redaktion am Montag 13. September 2021

Irak: Das Ende des amerikanischen Jahrhunderts

Wenn eines Tages über die historische Einordnung von „Nine Eleven“ diskutiert werden wird, dürfte dieses Datum wohl als das eigentliche Ende des amerikanischen Jahrhunderts angesehen werden. Denn dass dieses an ein Ende angelangt ist, belegen in dramatischer Weise die Bilder der verheerenden Niederlage der Vereinigten Staaten und der von ihr geschmiedeten „Koalition gegen den Terror“ in Afghanistan. Dabei hatten die USA überhaupt erst mit ihrem Einstieg in den Ersten Weltkrieg begonnen, zu einer dominanten globalen Kraft zu werden; nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden sie endgültig zu ebendieser. Und als der Kalte Krieg mit der Implosion der Sowjetunion zu Ende ging, öffnete sich für die Dauer eines Jahrzehnts ein Fenster der Gelegenheit zu einer neuen, kooperativen Weltordnung. Doch diese Chance wurde verspielt – nicht zuletzt mit der US-amerikanischen Reaktion auf die monströsen Terrorangriffe vom 11. September 2001.

Es begann mit einer nicht verhandelbaren Entscheidung des Krisenstabs von Präsident George W. Bush. Ein zwischen Geheimdiensten und Polizei koordinierter Einsatz kam für die Ergreifung der Täter und Hintermänner von 9/11 nicht in Frage, Militär und Krieg waren die Mittel der Wahl. Und das, obwohl der Staat Afghanistan die USA nicht angegriffen hatte.

Vom Parlament holte sich Bush die Befugnis, gegen alle Nationen, Organisationen oder Personen vorzugehen, die seines Erachtens irgendetwas mit Terrorismus zu tun hatten. Es war das Plazet für einen Krieg unbestimmter Dauer. „Von heute an“, so seine Ankündigung vor beiden Kammern des Kongresses am 20. September 2001, „werden die Vereinigten Staaten jede Nation, die weiterhin Terroristen Unterschlupf gewährt oder unterstützt, als feindliche Nation behandeln. […] Unser Krieg gegen den Terror beginnt mit Al Qaida, hört dort aber nicht auf. Er wird nicht aufhören, ehe jede Terrorgruppe von weltweiter Ausdehnung gefunden, gestoppt und geschlagen ist.“[1] Öffentliche Reden wie interne Dokumente sind vom Phantasma eines Endsieges über das Böse durchzogen – und von der verweigerten Einsicht in die Tatsache, dass Soldaten eine stumpfe Waffe gegen Terroristen führen und dass selbst der mächtigste Staat auf Dauer keinen Krieg ohne Fronten über alle Grenzen hinweg schultern kann. Wer aber als Werkzeug nichts anderes als einen Hammer kennt, sieht bekanntlich in jedem Problem einen Nagel.

Afghanistan war längst ein vom Krieg ausgezehrtes Land, als die USA dort am 7. Oktober 2001 ihren „War on Terror“ begannen. Zehn Jahre Besatzung durch sowjetische Truppen und die anschließende Schreckensherrschaft der Taliban hatten eine Ruine hinterlassen. Tausende verreckten Monat um Monat an Grippe, Masern oder Durchfall, nirgendwo war die Kindersterblichkeit höher, die Lebenserwartung für Frauen und Männer lag bei 44 beziehungsweise 45 Jahren. Zu allen Übeln kam eine extreme Trockenheit hinzu. Weil 70 Prozent des Viehbestandes verendet und die Hälfte des Ackerbodens nicht mehr nutzbar waren, hatten weit über drei Millionen Afghanen ihre Heimat verlassen – die weltweit größte Flüchtlingsgruppe. Weitere 800 000 zogen auf der Suche nach Nahrung und Unterkunft im Landesinneren von einem Ort zum anderen. Die Macht kam einzig aus Gewehrläufen, verfeindete Gruppen hatten die staatsfernen Räume untereinander aufgeteilt und schufen Ordnung auf ihre Weise. Auf der einen Seite die Taliban, die schätzungsweise 45 000 gebürtige Afghanen unter Waffen hielten und zusätzlich von 15 000 Dschihadisten aus Pakistan, Usbekistan und mehreren arabischen Ländern unterstützt wurden; auf der anderen Seite eine lose Koalition aus „Warlords“, denen der Krieg zum Lebensinhalt geworden war, weil er sie ernährte. Afghanistan war auf das Niveau der ärmsten Länder Afrikas herabgesunken, von staatlicher Ordnung konnte keine Rede mehr sein. Deshalb sprach der pakistanische Journalist Ahmed Rashid, einer der besten Kenner der Region, von der „schlimmsten humanitären Katastrophenzone der Welt“.[2]

Dass das Land nach 20 Jahren westlicher Besatzung den letzten Platz auf der Horrorskala globaler Armut verlassen hat, war freilich nicht den Anstrengungen der Kriegskoalition geschuldet, sondern den galoppierenden Verheerungen andernorts, vorweg in Staaten wie Mali oder dem Jemen. Was die Bilanz des Antiterrorkriegs am Hindukusch anbelangt, so kamen unterschiedliche Untersuchungskommissionen früh zu einem einhelligen Ergebnis: Es war ein historischer Fehlschlag, der Weg ins nächste Desaster ist gepflastert. Das war der Befund einer von der norwegischen Regierung eingesetzten Kommission,[3] zu diesem Ergebnis kamen auch Sonderermittler, die vom amerikanischen Kongress 2008 bestellt worden waren und bis 2018 mehr als 400 Interviews mit Verantwortlichen führten. Ein Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrates: „Wir hatten einfach keine Vorstellung, was am Ende daraus werden sollte. Wir haben geplant; die Dinge vor Ort haben sich geändert. Wir lösten Probleme, ohne zu wissen, was wir auf lange Sicht lösen wollten.“[4]

Nach einem Krieg, der mindestens 90 000 Tote kostete, ist Afghanistans Zukunft heute ungewisser denn je. Nirgendwo sonst sind derart viele Terrorgruppen aktiv, 40 Prozent aller Anschläge weltweit wurden 2021 am Hindukusch verübt.[5] Von einem funktionsfähigen Regierungssystem ist das Land so weit entfernt wie eh und je; und die im wirtschaftlichen und kulturellen Leben erzielten Fortschritte sind derart fragil, dass sie von den Taliban in kürzester Zeit hinweggefegt werden dürften. Letztlich hatte sich der Westen in eine politisch schier ausweglose Lage manövriert. Dass die Taliban die Friedensbedingungen diktieren und von einer Rückkehr an die Macht kaum mehr abzuhalten sein würden, musste die Regierung Biden bereits kurz nach Amtsantritt wohl oder übel einräumen. Es klang wie die unfreiwillige Beglaubigung eines alten afghanischen Sprichworts: „Ihr habt Uhren. Wir haben Zeit.“ Seit die letzten Truppen der USA und ihrer Verbündeten abgerückt sind, haben die Taliban das Land regelrecht handstreichartig übernommen. Am Ende zählte nur noch der Rückzug, war die US-Regierung wie der gesamte Westen von der Geschwindigkeit des Vormarschs der Taliban völlig überrumpelt. Zwei Jahrzehnte „Krieg gegen den Terror“ stehen damit im Ergebnis für verbrannte Erde und für Millionen von Flüchtlingen.

»Wir haben das Recht auch zu einem Angriffskrieg«

Angesichts des historischen Scheiterns in Afghanistan, inklusive des brutalen Rückzugs, wird man an die ungebrochene Vitalität des amerikanischen Nationalismus erinnert. „Us against them“, entweder Ihr seid für uns oder gegen uns – dieser wohl bekannteste Satz von George W. Bush stand am Beginn des „Krieges gegen den Terror“ und er könnte über allen Kapiteln amerikanischer Ordnungspolitik stehen. Denn tatsächlich agiert Washington, als bräuchten die Vereinigten Staaten ständig irgendwelche Feinde und als wüssten sie ohne Feindstellung nicht, wer sie sind und wo ihr Platz in der Welt ist. Die Dramatisierung von Gefahren und das Herbeireden von Ausnahmezuständen gehört zu den Bindemitteln dieser Art Außenpolitik. Kooperation und Gegenseitigkeit sind nur so lange von Interesse, wie sie zur besseren Durchsetzung amerikanischer Anliegen taugen. Die nach „Nine Eleven“ vielzitierten Koalitionen der Willigen passen ins Bild. Sie sind phasenweise nützlich, aber entbehrlich, sobald für die USA keine Machtdividende abfällt.

Dem hatte auch die Internationale Afghanistan-Schutztruppe ISAF wenig entgegenzusetzen. Deren Unzulänglichkeiten sind vielfach beschrieben, oft auch hämisch kommentiert worden – der schwammige Auftrag, die fehlende Koordination, der Wust bürokratischer Auflagen, nicht zuletzt die Furcht vor negativen Schlagzeilen. Doch selbst wenn es diese hausgemachten Defizite nicht gegeben hätte, wären die von Washington aufgetürmten Hindernisse wohl unüberwindlich gewesen. Aus amerikanischer Sicht waren die Alliierten Helfershelfer, willkommen als Putztruppe und brauchbar als Sündenbock, aber störend, sobald sie eigene Ideen und Ansprüche vortrugen. Unberechenbar ist diese Spielart imperialer Selbstbehauptung, weil Washington wie eh und je an seinem auf das Militärische fixierten Verständnis von Sicherheit festhält. In anderen Worten: Je furchterregender und unberechenbarer die USA auftreten, desto besser, je größer die Angst der anderen, desto angstfreier können Amerikaner leben. Aus dieser Sicht war es sogar produktiver, grundlos statt mit guten Gründen Krieg zu führen.

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Fritzchen erklärt Mutti den Krieg ?

In letzter Konsequenz schnurrte dergleichen zu einer einfachen Maxime zusammen: Wir haben das Recht auch zu einem Angriffskrieg. Das nämlich war die Logik, als Bush und seine Mitstreiter Ende 2001 den nächsten, noch weit verheerenderen Krieg vorbereiteten – die völkerrechtswidrige, da ohne UN-Mandat umgesetzte Intervention im Irak. „Neue Bedrohungen machen auch ein neues Denken erforderlich“, deklarierte der Präsident im Juni 2002 vor Kadetten der Militärakademie Westpoint. „Wenn wir abwarten, bis sich Bedrohungen voll entfaltet haben, werden wir zu lange gewartet haben. […] Wir müssen den Kampf zum Feind bringen, seine Pläne vereiteln und den schlimmsten Gefahren begegnen, bevor sie an den Tag treten. In dem Zeitalter, in das wir gerade eingetreten sind, ist Handeln der einzige Weg zur Sicherheit.“[6] Condoleezza Rice, Donald Rumsfeld und Dick Cheney sekundierten im Wochentakt: „Das Problem liegt doch darin, dass wir einfach nicht sicher sein können, wie schnell er [Saddam Hussein] in den Besitz von Nuklearwaffen kommen kann. Aber wir wollen nicht, dass der endgültige Beweis in Gestalt einer atomaren Pilzwolke auftaucht.“ – „Der absolute Beweis kann keine Vorbedingung für Handeln sein.“ – „Es geht nicht um Analysen oder darum, eine riesige Menge von Beweisen zu finden. Es geht einzig um unsere Reaktion.“[7]

Ob es tatsächlich, wie behauptet, Massenvernichtungswaffen im Irak gab, war nicht das Problem. Uninteressant war auch die Frage, ob Saddam Hussein danach strebte. Dass er es irgendwann und irgendwie tun könnte, gab den Ausschlag. Das zu einem Prozent Mögliche wiegt mehr als das zu 99 Prozent Wahrscheinliche – darum dreht sich die in Washington populäre „Ein-Prozent-Doktrin“. Im September 2002 wurde sie in der von Bush abgezeichneten „Nationalen Sicherheitsstrategie“ offiziell beglaubigt.[8] Niemals zuvor hatte ein amerikanischer Präsident das völkerrechtliche Verbot von Präventiv- und Angriffskriegen in aller Öffentlichkeit für null und nichtig erklärt.

Mitte Dezember 2011, also fast zehn Jahre vor dem Abzug aus Afghanistan, verließen die letzten US-Truppen den Irak. Sie hatten – unterstützt von einer „Koalition der Willigen“, die allerdings bereits 2004 zu bröckeln begann und seither faktisch auf eine angloamerikanische Allianz geschrumpft war – das Land fast neun Jahre besetzt, einen Bürgerkrieg provoziert und am Ende in einem desaströsen Zustand verlassen. „Ich habe diesen Film schon einmal gesehen. Er hieß Vietnam“, meinte der ehemalige Chef des US-Regionalkommandos für den Nahen Osten, Ost-Afrika und Zentralasien, General Anthony Zinni.[9] In der Tat: Die auf unkonventionelle Kriegsführung wie gehabt völlig unvorbereiteten GIs fielen in Wohnviertel ein, verhafteten wahllos Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren, demolierten Wohnungen und Häuser, drangsalierten Alte, Kranke und Behinderte, erniedrigten Verdächtigte vor den Augen ihrer Familien mit Fausthieben und Fußtritten und nahmen Angehörige in Sippenhaft. Ein Nachrichtenoffizier: „Uns fielen die Kinnladen herunter, als wir sahen, wie viele Zivilisten misshandelt und eingeschüchtert wurden.“[10] Von Übergriffen Einzelner kann dabei keine Rede sein, dafür gab es viel zu viele Schikanen, Morde und Massaker.[11]

Verbrechen als Prinzip

Mit den Einsätzen in Afghanistan und im Irak trat Washington eine Lawine los. Der „Krieg gegen den Terror“ wurde nämlich von Muslimen auf allen Kontinenten als Kriegserklärung aufgefasst. Mit der Folge, dass sich Gläubige politisierten und Patrioten zu fanatischen Nationalisten wurden, vereint in einem Racheschwur gegen die USA. „Was ich getan habe, ist in meinen Augen kein Verbrechen“, höhnte ein verhinderter Attentäter vor einem Gericht in New York City. „Ich weiß, dass es gegen die Gesetze der Vereinigten Staaten verstößt, aber mich interessieren die Gesetze der Vereinigten Staaten nicht. Ich betrachte mich als Mudschahid, als muslimischen Soldaten. Amerikaner und die Nato haben muslimisches Land angegriffen. Dies ist ein Krieg, und ich nehme daran teil.“[12] Eine wohlfeile Rechtfertigung, gewiss – und ebenso billig zu haben. Im Januar 2005 beschrieb der „National Intelligence Council“, ein Beratergremium der CIA, den Irak als „Magneten für internationale terroristische Aktivitäten“ und als wichtigstes Trainingslager für eine neue Generation von Terroristen – lange bevor die „Gotteskrieger“ vom „Islamischen Staat“ und ihre aus der irakischen Armee rekrutierten Kämpfer in Erscheinung traten.[13]

Krieg gegen den Islam: Beglaubigt wurde dieser Vorwurf durch Nachrichten über einen von Indonesien bis Kuba reichenden Archipel aus Gefängnissen und Lagern. Einige haben es in der internationalen Presse zu trauriger Berühmtheit gebracht: Bagram, Kandahar, Abu Ghraib und allen voran Guantánamo. Namenlos geblieben sind ungezählte „black sites“, Geheimgefängnisse in Bulgarien, Mazedonien, Polen, Rumänien, Pakistan, Usbekistan, in der Ukraine sowie im Kosovo und im Norden Afrikas, die von lokalen Behörden im Auftrag der CIA geführt werden. Seit 2001 fahnden US-Geheimdienste und Elitesoldaten mit einer „Worldwide Attack Matrix“ in mindestens 90 Ländern nach Verdächtigen, angeblich wurden allein im ersten Einsatzjahr 3000 Menschen interniert. Viele, wenn nicht die meisten hatten sich schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten: der Gewürzhändler aus Kabul, der auch Honig verkaufte und auffiel, weil Honig als eine Haupteinnahmequelle von Al-Qaida gilt; der Jordanier, in Pakistan als Flüchtling anerkannt, dem man unterstellte, als Araber Terroristen kennen zu müssen; der Ingenieur und der Unternehmer aus Russland, die ein neues Leben in einem muslimischen Land beginnen wollten und in Afghanistan zwischen die Fronten gerieten; oder der Deutsche Khaled El-Masri, der Ende 2003 an der mazedonischen Grenze einer Namensverwechslung zum Opfer fiel und wenig später in einer „black site“ in Kabul mit den Worten empfangen wurde: „Du bist hier in einem Land, in dem Dich keiner kennt, in einem Land ohne Gesetz. Falls Du stirbst, werden wir Dich beerdigen, und niemand wird etwas bemerken.“[14]

Quelle        :           Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Afghan National Army soldiers with the 1st Kandak, 4th Brigade, 201st Corps look for enemy activity from a watchtower outside Hesarak village in Nangarhar province, Afghanistan, May 15, 2013. The soldiers provided security in the area while fellow soldiers conducted foot patrols throughout the village.

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